Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 26.08.2014, Az. 2 BvR 2172/13

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2014, 3304

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

STRAFRECHT BUNDESVERFASSUNGSGERICHT (BVERFG) VERFAHRENSGRUNDSÄTZE DEAL (STRAFPROZESS) WILLKÜR

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Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Verständigung im Strafprozess - § 243 Abs 4 S 1 StPO statuiert auch "Negativmitteilungspflicht" - hier: Verletzung des Willkürverbots (Art 3 Abs 1 GG) durch unvertretbare fachgerichtliche Auslegung der Mitteilungspflichten gem § 243 Abs 4 S 1 StPO


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 22. August 2013 - 5 [X.]/13 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Das Verfahren wird an den [X.] zurückverwiesen.

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3. Die [X.] hat dem Beschwerdeführer die Hälfte seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

I.

1

1. Mit Urteil vom 23. Januar 2013 verurteilte das [X.] den Beschwerdeführer wegen mehrerer Straftaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und 9 Monaten.

2

2. Gegen das Urteil legte der Beschwerdeführer Revision ein und rügte unter anderem einen Verstoß gegen § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO, weil es der Vorsitzende unterlassen habe, in öffentlicher Sitzung mitzuteilen, ob (und ggf. welche) Vorgespräche zwischen den Verfahrensbeteiligten geführt worden seien.

3

Im Termin vom 21. August 2012, mit dem die Hauptverhandlung vor dem [X.] begonnen habe, habe der Vorsitzende nach [X.] und Verlesung der Anklageschrift und vor Belehrung des Beschwerdeführers über sein Schweigerecht der Öffentlichkeit nicht mitgeteilt, ob Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO stattgefunden hätten, deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung gewesen sei, und ob es bislang in dem Verfahren zu [X.]n gekommen sei. Diese Mitteilung zu dem nichtöffentlichen Hintergrundgeschehen sei auch nicht im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung in öffentlicher Sitzung nachgeholt worden. Ausweislich eines Aktenvermerks habe es jedoch im Vorfeld der Hauptverhandlung ein Telefonat zwischen der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft gegeben, bei dem die zuständige Staatsanwältin darauf hingewirkt habe, dass der Verteidiger mit dem Beschwerdeführer eruieren möge, ob bei der derzeitigen Aktenlage nicht doch eine geständige Einlassung abgegeben werden könne. Ob konkret über Rechtsfolgen gesprochen worden sei, könne dem Vermerk zwar nicht entnommen werden. Nach Erinnerung des erstinstanzlichen Verteidigers habe die Staatsanwältin jedoch bei einem umfassenden Geständnis in Aussicht gestellt, eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren zu beantragen.

4

3. Durch Beschluss vom 22. August 2013 verwarf der 5. Strafsenat des [X.] die Revision des Beschwerdeführers nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet und verwies "ergänzend zur Antragsschrift des [X.]" zur Zulässigkeit der Rüge, es sei gegen § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO verstoßen worden, und zum Anwendungsbereich dieser Verfahrensvorschrift auf ein Urteil des [X.] vom 10. Juli 2013 - 2 StR 47/13 -. Soweit die Revision vortrage, eine mit dem Verfahren befasste Staatsanwältin habe in einem mit dem "Pflichtverteidiger" am 10. April 2012 geführten Telefonat auf die Prüfung hingewirkt, "ob … nicht doch eine geständige Einlassung abgegeben werden könne", handele es sich um ein Geschehen vor der Erhebung der Anklage, das vom Anwendungsbereich des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO nicht erfasst werde; dieser betreffe lediglich Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StP[X.]

5

Das in Bezug genommene Urteil des [X.] enthält die Schlussfolgerung, dass eine Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO nicht bestehe, wenn keine auf eine Verständigung hinzielenden Gespräche stattgefunden haben. Dies zeige bereits ein Umkehrschluss aus dem Wortlaut der Vorschrift, nach dem der Vorsitzende mitteile, ob Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) gewesen ist und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt, und erkläre sich auch aus dem Sinn und Zweck der Mitteilungs- und Dokumentationspflichten. Die Mitteilungs- und Dokumentationspflichten dienten der "Einhegung" der den zulässigen Inhalt von Verständigungen beschränkenden Vorschriften. Wenn aber überhaupt keine auf eine Verständigung abzielenden Gespräche stattgefunden hätten, sei das Regelungskonzept des § 257c StPO nicht tangiert. Soweit die Gesetzesmaterialien zur Änderung des § 78 Abs. 2 OWiG darauf hindeuteten, § 243 Abs. 4 StPO habe die Pflicht statuieren sollen, auch eine Nichterörterung mitzuteilen, habe dies im Gesetzestext letztlich keinen Ausdruck gefunden.

6

Gegenteiliges ergebe sich auch nicht aus dem Urteil des [X.] vom 19. März 2013 ([X.] 133, 168 ff.). Zwar führe das [X.] - ohne auf den entgegenstehenden Wortlaut des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO einzugehen - aus, wenn zweifelsfrei feststehe, dass überhaupt keine [X.] stattgefunden haben, könne ausnahmsweise (lediglich) ein Beruhen des Urteils auf dem Unterbleiben einer Mitteilung nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO ausgeschlossen werden (vgl. [X.] 133, 168 <223, Rn. 98>). Gleichzeitig betone das [X.] jedoch, dass die Mitteilungspflicht nur dann eingreife, wenn bei im Vorfeld oder neben der Hauptverhandlung geführten Gesprächen ausdrücklich oder konkludent die Möglichkeit und die Umstände einer Verständigung im Raum gestanden hätten ([X.] 133, 168 <216, Rn. 85>). Die Annahme des [X.], beim Fehlen von Vorgesprächen entfalle das Beruhen des Urteils auf dem Fehlen einer Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO, sei daher einfachrechtlich nicht schlüssig, da nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift in diesem Fall bereits kein Rechtsfehler vorliege.

7

Nach alledem bedürfe es einer Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO nicht, wenn überhaupt keine oder nur solche Gespräche stattgefunden hätten, die dem Regelungskonzept des [X.] vorgelagert und von ihm nicht betroffen seien; das "Ob" der Handlung stehe unter dem Vorbehalt des "Wenn". Soweit das [X.] den Begriff "[X.]" verwendet habe, beziehe sich dieser nur auf gescheiterte Gespräche ([X.] 133, 168 <223, Rn. 98> unter Bezugnahme auf [X.], Beschluss vom 5. Oktober 2010 - 3 StR 287/10).

8

Vor diesem Hintergrund müsse ein Revisionsführer, der eine Verletzung des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO rügen wolle, - gegebenenfalls nach Einholung von Erkundigungen beim Instanzverteidiger - bestimmt behaupten und konkret darlegen, in welchem Verfahrensstadium, in welcher Form und mit welchem Inhalt Gespräche stattgefunden hätten, die auf eine Verständigung abgezielt hätten. Denn das bloße Fehlen einer Mitteilung reiche nach dem zuvor Ausgeführten nicht aus, um einen - vom Revisionsführer darzulegenden - Rechtsfehler zu begründen.

II.

9

Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen das Urteil des [X.]s Braunschweig und die Revisionsentscheidung des [X.] und rügt eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 1 Abs. 1 [X.]. Art. 20 Abs. 3 GG) und des Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG).

Auf Basis der vom [X.] anerkannten Auslegungsleitlinien sei ein Verständnis des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO nicht haltbar, wonach die Vorschrift keine allgemeine Pflicht zum "Farbebekennen" am Anfang der Hauptverhandlung (also auch dahin, dass keine Verständigungserörterungen stattgefunden haben) beinhalte. Sowohl der eindeutige gesetzgeberische Wille als auch der systematische Zusammenhang und erst recht die klaren Vorgaben des [X.], durch die die Tatgerichte zur Offenheit und Transparenz gezwungen werden sollten, damit für informelle Gespräche im Hintergrund fortan kein Raum mehr bleibe, legten ein anderes Verständnis der Norm zwingend nahe.

Es sei bezeichnend, wenn sich der 2. Strafsenat (und ihm folgend der 5. Strafsenat) des [X.] in einen offenen Konflikt zur Entscheidung des [X.] begebe. Die von ihm für seine Auffassung herangezogene Passage im Urteil vom 19. März 2013 ([X.] 133, 168 <216 f., Rn. 83 ff.>) betreffe den Kontext "des Inhalts möglicher Erörterungen des Gerichts". Das [X.] wolle an dieser Stelle präzisieren, wann Erörterungen vorliegen, die ihrem wesentlichen Inhalt nach mitgeteilt werden müssen. Mit anderen Worten: Es gehe allein darum, wann das Gericht auf die in § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO vorgelagerte Frage: "Hat es Erörterungen gegeben?" mit: "Ja, und zwar folgende…" antworten müsse. In den Fällen, in denen lediglich Gespräche stattfinden, die "dem Regelungskonzept des Verständigungsgesetzes vorgelagert und von ihm nicht betroffen" sind, müsse das Gericht deren Inhalt selbstverständlich nicht mitteilen und könne die Frage, ob Erörterungen stattgefunden haben, verneinen. Aber dieses "Nein" müsse es dann auch im Rahmen einer [X.] zu Beginn der Hauptverhandlung kennzeichnen. Darum treffe auch der Vorhalt des [X.] an das [X.] nicht zu, dessen Auffassung sei "einfachrechtlich nicht schlüssig". Das [X.] gehe - wie es auch der einfachen Rechtslage entspreche - von einer umfassenden, auch die Nichtexistenz von Verständigungsgesprächen beinhaltenden Mitteilungspflicht aus.

Das vom 5. und 2. Strafsenat des [X.] favorisierte Verständnis der Norm missachte auch das vom [X.] mit seiner Entscheidung verfolgte Anliegen, "informelle" (besser: illegale) Verständigungen durch den Zwang zur Dokumentation und Transparenz auszumerzen. Dies werde deutlich, wenn man sich in Erinnerung rufe, dass das [X.] ausdrücklich die Möglichkeit einer Strafbarkeit nach § 348 StGB im Falle einer falschen Protokollierung in den Raum gestellt habe. Verstehe man aber § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO in der Weise, wie dies der [X.] tue, und entnehme der Norm nicht die Verpflichtung, am Anfang zu sagen, ob es Gespräche gegeben habe, so schwäche man den [X.] ab. Wer informelle Gespräche führe und diese auch vor der Kontrolle durch das Rechtsmittelgericht verbergen wolle, könne am Anfang einfach schweigen und müsse nicht lügen (was er tun müsste, wenn die Pflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO stets gelten würde, und was für jeden [X.] eine gänzlich andere Hemmschwelle wäre). Der [X.] habe stattdessen jenen Tatgerichten und jenen Verfahrensbeteiligten, die das Gesetz umgehen wollen, eine Lücke eröffnet, die informelle Absprachen sanktionslos lasse.

III.

Zu der Verfassungsbeschwerde haben der [X.] und der Vorsitzende des [X.] des [X.] Stellung genommen. Der Beschwerdeführer hat auf die Stellungnahmen erwidert. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben der Kammer vorgelegen.

IV.

Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, soweit sie sich gegen die Revisionsentscheidung des [X.] richtet, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 [X.] genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b [X.]. § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind insoweit gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind in der Rechtsprechung des [X.] bereits geklärt. Danach ist die zulässige Verfassungsbeschwerde in einem die Entscheidungskompetenz der Kammer eröffnenden Sinn offensichtlich begründet. Das der Revisionsentscheidung zugrunde liegende Verständnis des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO verstößt gegen das verfassungsrechtliche Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG).

1. Ein verfassungsgerichtliches Eingreifen gegenüber Entscheidungen der Fachgerichte unter dem Gesichtspunkt des Willkürverbots kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht. Willkürlich ist ein [X.]spruch nicht bereits dann, wenn die Rechtsanwendung oder das eingeschlagene Verfahren Fehler aufweisen. Hinzukommen muss vielmehr, dass Rechtsanwendung oder Verfahren unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar sind und sich daher der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht. Dabei enthält die Feststellung von Willkür keinen subjektiven Schuldvorwurf. Willkür ist vielmehr in einem objektiven Sinne zu verstehen (vgl. [X.] 62, 189 <192>; 80, 48 <51>; 86, 59 <62 f.>; stRspr).

2. Zur Gesetzesauslegung hat das [X.] Folgendes ausgeführt ([X.] 133, 168 <205 f., Rn. 66>):

Maßgebend für die Auslegung von Gesetzen ist der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist (vgl. [X.] 1, 299 <312>; 11, 126 <130 f.>; 105, 135 <157>; stRspr). Der Erfassung des objektiven Willens des Gesetzgebers dienen die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung aus dem Wortlaut der Norm, der Systematik, ihrem Sinn und Zweck sowie aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte, die einander nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig ergänzen. Unter ihnen hat keine einen unbedingten Vorrang vor einer anderen (vgl. [X.] 11, 126 <130>; 105, 135 <157>). Ausgangspunkt der Auslegung ist der Wortlaut der Vorschrift. Er gibt allerdings nicht immer hinreichende Hinweise auf den Willen des Gesetzgebers. Unter Umständen wird erst im Zusammenhang mit Sinn und Zweck des Gesetzes oder anderen Auslegungsgesichtspunkten die im Wortlaut ausgedrückte, vom Gesetzgeber verfolgte [X.] deutlich, der sich der [X.] nicht entgegenstellen darf (vgl. [X.] 122, 248 <283> - abw. M.). Dessen Aufgabe beschränkt sich darauf, die intendierte [X.] bezogen auf den konkreten Fall - auch unter gewandelten Bedingungen - möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen (vgl. [X.] 96, 375 <394 f.>). In keinem Fall darf richterliche Rechtsfindung das gesetzgeberische Ziel der Norm in einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen oder an die Stelle der [X.] des Gesetzgebers gar eine eigene treten lassen (vgl. [X.] 78, 20 <24> m.w.N.). Für die Beantwortung der Frage, welche [X.] dem Gesetz zugrunde liegt, kommt daneben den Gesetzesmaterialien und der Systematik des Gesetzes eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu. Die Eindeutigkeit der im Wege der Auslegung gewonnenen gesetzgeberischen Grundentscheidung wird nicht notwendig dadurch relativiert, dass der Wortlaut der einschlägigen Norm auch andere Deutungsmöglichkeiten eröffnet, soweit diese Deutungen offensichtlich eher fern liegen. Anderenfalls wäre es für den Gesetzgeber angesichts der Schwierigkeit, textlich Eindeutigkeit herzustellen, nahezu unmöglich, sein Regelungsanliegen gegenüber der Rechtsprechung über einen längeren Zeitraum durchzusetzen (vgl. [X.] 122, 248 <284> - abw. M.).

3. Nach diesen Maßstäben ist die Auslegung des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO, wie sie der Revisionsentscheidung zugrunde liegt, wonach eine Mitteilungspflicht gemäß dieser Vorschrift nicht bestehe, wenn keine auf eine Verständigung hinzielenden Gespräche stattgefunden haben, unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich haltbar. Sie verstößt in unvertretbarer und damit objektiv willkürlicher Weise gegen den eindeutigen objektivierten Willen des Gesetzgebers, wie er auch im Urteil des [X.] vom 19. März 2013 ([X.] 133, 168 ff.) herausgearbeitet wurde.

Der Vorsitzende teilt mit, ob Erörterungen nach den §§ 202a, 212 stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c) gewesen ist und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt.

Der Wortlaut der sprachlich wenig geglückten Norm erscheint zwar auf den ersten Blick mehrdeutig (einerseits "ob", andererseits "wenn"), lässt aber durch die weitere Formulierung "und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt" auf das Bestehen einer Mitteilungspflicht auch für den Fall schließen, dass keine [X.] stattgefunden haben (sog. [X.]spflicht), weil es des Zusatzes "und wenn ja" ansonsten nicht bedurft hätte. Da der Gesetzeswortlaut selbst bei einer Ersetzung des "ob" durch ein "dass" wegen der nachfolgenden konditionalen Doppelung ("wenn", "und wenn ja") unverständlich bliebe, ist nicht das "ob", sondern das "wenn" als Redaktionsversehen einzuordnen und die Vorschrift dahingehend zu verstehen, dass der Vorsitzende mitteilt, ob Erörterungen stattgefunden haben, deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung gewesen ist, und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt (so zu Recht Frister, in: [X.], 4. Aufl. 2011, § 243 Rn. 43).

b) Die Gesetzessystematik spricht ebenfalls für eine [X.]spflicht. Wenn in § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO von "Änderungen gegenüber der Mitteilung zu Beginn der Hauptverhandlung" die Rede ist, so lässt dies allein den Schluss zu, dass zu Beginn der Hauptverhandlung in jedem Fall eine Mitteilung - sei es positiv oder negativ - zu erfolgen hat. Eine klare Bestätigung dieser Sichtweise findet sich in § 78 Abs. 2 OWiG, der für die Hauptverhandlung nach Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid folgende Sonderregelung trifft:

§ 243 Absatz 4 der Strafprozessordnung gilt nur, wenn eine Erörterung stattgefunden hat; § 273 Absatz 1a Satz 3 und Absatz 2 der Strafprozessordnung ist nicht anzuwenden.

Daraus ergibt sich im Umkehrschluss eindeutig, dass im "normalen" Strafprozess eine Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO auch dann besteht, wenn keine Erörterung stattgefunden hat. Anderenfalls wäre § 78 Abs. 2 Halbsatz 1 OWiG sinnlos.

c) Auch die Materialien zum Verständigungsgesetz belegen eindeutig, dass der Gesetzgeber für den "normalen" Strafprozess eine [X.]spflicht einführen wollte. In der Begründung zum Regierungsentwurf eines [X.] (BTDrucks 16/12310, [X.]) heißt es bezüglich § 78 Abs. 2 OWiG:

Für diese wenigen "geeigneten" Fälle ist es auch grundsätzlich gerechtfertigt, die im Strafverfahren aufgestellten prozessualen Anforderungen und Bedingungen auch im Bußgeldverfahren greifen zu lassen. Als eine nicht gerechtfertigte Anforderung erschiene es jedoch, auch den Regelfall, also das Unterlassen einer solchen Verständigung, protokollieren zu müssen; das gleiche gilt für die in § 243 Absatz 4 StPO-E enthaltene Pflicht, auch eine Nichterörterung mitzuteilen. In § 78 Absatz 2 [X.] wird daher die Protokollierungspflicht nach § 273 Absatz 1a Satz 3 StPO-E für nicht anwendbar erklärt und die Mitteilungspflicht nach § 243 Absatz 4 StPO-E auf die Fälle beschränkt, in denen eine Erörterung im Sinne dieser Vorschrift stattgefunden hat.

Der Bundesrat ist in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf der Einführung einer [X.]spflicht in § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO mit folgenden Erwägungen entgegengetreten (BTDrucks 16/12310, S. 18):

Eine Mitteilung des Vorsitzenden, dass keine Erörterungen nach den §§ 202a, 212 zum Zwecke einer möglichen Verständigung stattgefunden haben, ist weder erforderlich noch zweckmäßig.

Nur für den Fall, dass Gespräche mit dem Ziel einer einvernehmlichen Absprache tatsächlich stattgefunden haben, besteht ein Bedürfnis, dies in der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung mitzuteilen und hierdurch transparent zu machen.

Über [X.] braucht hingegen nicht berichtet zu werden, da diese nicht Gegenstand der Hauptverhandlung sind. Dies entspricht auch dem Grundsatz der negativen Beweislast [sic!] des Protokolls über die Hauptverhandlung. Eine anderweitige Regelung stünde daher nicht im Einklang mit der Systematik des Strafverfahrens.

Dementsprechend hat der Bundesrat folgende abweichende Fassung des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO vorgeschlagen:

Haben Erörterungen nach den §§ 202a, 212 zum Zwecke einer möglichen Verständigung (§ 257c) stattgefunden, so teilt der Vorsitzende dies und deren wesentlichen Inhalt mit.

Dieser Vorschlag ist jedoch nicht Gesetz geworden. Es blieb vielmehr bei der im Regierungsentwurf vorgesehenen Fassung.

d) Sinn und Zweck des dem Verständigungsgesetz zugrunde liegenden Regelungskonzepts, das die Schaffung umfassender Transparenz in Bezug auf Verständigungen im Strafprozess vorsieht (vgl. [X.] 133, 168 <214 ff., Rn. 80 ff.>), sprechen ebenfalls für eine [X.]spflicht. Wie sich aus § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO ergibt, geht der Gesetzgeber davon aus, dass die Verpflichtung zu expliziter "Fehlanzeige" einer Verständigung der Transparenz und der Beachtung der gesetzlichen Vorschriften über die Verständigung dienlich ist (vgl. BTDrucks 16/12310, S. 15).

e) Auch der [X.] des [X.] legt die Vorschrift des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO dahingehend aus, dass sie eine [X.]spflicht beinhaltet (vgl. [X.] 133, 168 <223 f., Rn. 98>):

Kommt eine Verständigung nicht zustande und fehlt es an der gebotenen [X.] nach § 243 Absatz 4 Satz 1 StPO (vgl. [X.], Beschluss vom 5. Oktober 2010 - 3 StR 287/10 -, wistra 2011, [X.] f. = [X.], [X.] f.) oder dem vorgeschriebenen Negativattest nach § 273 Absatz 1a Satz 3 StPO, wird nach Sinn und Zweck des gesetzlichen Schutzkonzepts ein Beruhen des Urteils auf einem Verstoß gegen § 257c StPO grundsätzlich ebenfalls nicht auszuschließen sein […], sofern nicht ausnahmsweise zweifelsfrei feststeht, dass es keinerlei Gespräche gegeben hat, in denen die Möglichkeit einer Verständigung im Raum stand (vgl. [X.], Beschluss vom 30. August 2011 - 32 Ss 87/11 -, juris, Rn. 11, 13). Bei einem Verstoß gegen Transparenz- und Dokumentationspflichten wird sich nämlich in den meisten Fällen nicht sicher ausschließen lassen, dass das Urteil auf eine gesetzwidrige "informelle" Absprache oder diesbezügliche Gesprächsbemühungen zurückgeht.

Der vom [X.] hier verwendete Begriff der "[X.]" bezieht sich - entgegen der Annahme des [X.] des [X.] im Urteil vom 10. Juli 2013 - 2 StR 47/13 - nicht nur auf die Mitteilung über gescheiterte [X.], sondern umfasst auch die Mitteilung darüber, dass es keine Verständigungsgespräche gegeben hat. Anderenfalls ergäbe der Rest des Satzes keinen Sinn, weil es ausgeschlossen ist, dass einerseits eine Mitteilung über gescheiterte Verständigungsgespräche geboten gewesen wäre, andererseits jedoch "zweifelsfrei feststeht, dass es keinerlei Gespräche gegeben hat, in denen die Möglichkeit einer Verständigung im Raum stand". Zwar ging es in dem zunächst in Bezug genommenen Beschluss des [X.] vom 5. Oktober 2010 - 3 StR 287/10 - tatsächlich um die Pflicht zur Mitteilung gescheiterter Verständigungsgespräche. Der nachfolgende Hinweis auf den Beschluss des [X.] vom 30. August 2011 - 32 Ss 87/11 - zeigt jedoch deutlich, dass der Senat gerade auch diejenigen Fälle gemeint hat, bei denen eine Mitteilung darüber unterblieben ist, dass keine Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO stattgefunden haben.

Soweit das [X.] ausgeführt hat, dass Gespräche, die ausschließlich der Organisation sowie der verfahrenstechnischen Vorbereitung und Durchführung der Hauptverhandlung dienen, nicht der Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 StPO unterliegen (vgl. [X.] 133, 168 <216, Rn. 84>), ist damit nach dem Kontext der Gründe (vgl. insb. a.a.[X.], Rn. 83) die Pflicht zur (Positiv-)Mitteilung des wesentlichen Inhalts von Gesprächen gemeint (vgl. § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO: "und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt"). Diese Aussage lässt daher nicht den Schluss zu, dass es bei lediglich organisatorischen Vorgesprächen keinerlei Mitteilung nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO bedarf, auch keiner [X.].

4. Die Annahme, im vorliegenden Fall sei trotz Fehlens einer Mitteilung nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO jedenfalls ein Beruhen des erstinstanzlichen Urteils auf einer Verletzung des Gesetzes (§ 337 Abs. 1 StPO) auszuschließen, weil zweifelsfrei feststehe, dass es keinerlei Gespräche über die Möglichkeit einer Verständigung gegeben habe (vgl. [X.] 133, 168 <223 f., Rn. 98>), kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil eine Aufklärung der entsprechenden Verfahrenstatsachen nicht stattgefunden hat. Zwar trägt der Beschwerdeführer lediglich zu einem Gespräch zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung vor, welches vom [X.] zu Recht als nicht vom Anwendungsbereich der Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO erfasst angesehen wurde. Dass es darüber hinaus im Vorfeld keinerlei [X.] gegeben hat, deren Inhalt nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO mitzuteilen gewesen wäre, kann dem Vorbringen des Beschwerdeführers aber nicht zweifelsfrei entnommen werden.

5. Ebenso wenig scheidet ein Beruhen der Revisionsentscheidung auf dem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG deshalb aus, weil der [X.] die auf eine Verletzung des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO gestützte Verfahrensrüge möglicherweise auch bei Bejahung einer aus dieser Vorschrift folgenden [X.]spflicht als unzulässig angesehen hätte. Von einem Beruhen der angegriffenen Entscheidung auf einer Grundrechtsverletzung ist bereits dann auszugehen, wenn sich nicht ausschließen lässt, dass das Gericht bei hinreichender Berücksichtigung des verletzten Grundrechts zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Welche Darlegungsanforderungen der [X.] bei Bejahung einer [X.]spflicht an den Vortrag des Revisionsführers gestellt hätte und ob er hiernach die auf eine Verletzung des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO gestützte Verfahrensrüge für zulässig erachtet hätte, kann durch das [X.] nicht beurteilt werden. Denkbar wäre es gewesen, keine über den - bereits im Fehlen jeglicher Mitteilung liegenden - Verstoß gegen § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO hinausreichenden Anforderungen an die Darstellung des [X.] zu stellen und im Freibeweisverfahren aufzuklären, ob Gespräche stattgefunden haben, in denen die Möglichkeit einer Verständigung im Raum stand (so im Ergebnis [X.], Beschluss vom 3. September 2013 - 1 StR 237/13 -, juris, Rn. 4 ff.). Ebenso hätte, einem Vorschlag des [X.] in der Stellungnahme zur vorliegenden Verfassungsbeschwerde folgend, verlangt werden können, dass die Revisionsbegründung mitteilt, über welche Kenntnisse und Hinweise bezüglich etwaiger [X.] der Revisionsverteidiger und der Angeklagte - gegebenenfalls nach zumutbarer Einholung entsprechender Auskünfte beim Instanzverteidiger (vgl. BVerfGK 6, 235 <237 f.>) - verfügen. Auch wenn es sich dabei um eine Ausnahme von dem revisionsrechtlichen Grundsatz handeln mag, dass der Revisionsführer zur Beruhensfrage nicht vorzutragen braucht, geht es hierbei doch letztlich um eine Frage des einfachen Rechts, über die das [X.] nicht zu entscheiden hat.

V.

Soweit die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wird, wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] von einer Begründung abgesehen.

Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 [X.].

Meta

2 BvR 2172/13

26.08.2014

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BGH, 22. August 2013, Az: 5 StR 310/13, Beschluss

Art 3 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 78 Abs 2 Halbs 1 OWiG, § 202a StPO, § 212 StPO, § 243 Abs 4 S 1 StPO, § 257c StPO, StVVerstG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 26.08.2014, Az. 2 BvR 2172/13 (REWIS RS 2014, 3304)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 3304


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 2 BvR 2172/13

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 2172/13, 26.08.2014.


Az. 5 StR 310/13

Bundesgerichtshof, 5 StR 310/13, 27.01.2015.


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Verständigung im Strafverfahren: Dokumentations- und Mitteilungspflichten über Verständigungsgespräche mit dem Angeklagten außerhalb der Hauptverhandlung


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