Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 13.09.2016, Az. VI ZR 239/16

VI. Zivilsenat | REWIS RS 2016, 5622

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[X.]:[X.]:[X.]:2016:130916BVIZR239.16.0

BUN[X.]SGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VI [X.]
vom
13. September 2016
in dem Rechtsstreit

Nachschlagewerk:
ja
[X.]Z:
nein
[X.]R:
ja

BGB § 280, § 823 I; ZPO § 138

Zum Erfordernis der nochmaligen Aufklärung der Schwangeren über die Möglichkeit der [X.] bei nachträglicher Veränderung des Nut-zen-Risiko-Verhältnisses der verschiedenen Geburtswege.

[X.], Beschluss vom 13. September 2016 -
VI [X.] -
OLG [X.]

[X.]

-
2
-
Der VI. Zivilsenat des [X.] hat am 13. September 2016 durch den Vorsitzenden [X.], [X.], [X.], die Richterinnen von [X.] und Dr. Oehler

beschlossen:

Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Fristen zur Einlegung und Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des 7. Zivilsenats des [X.] vom 10. Februar 2016 gewährt.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] wird das [X.] Urteil aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Gründe:
I.
Der Kläger, der am 9. Februar 2005 nach 31 + 1 Schwangerschaftswo-chen in der Frauenklinik der [X.] geboren wurde und infolge einer Hirn-schädigung unter schweren körperlichen und geistigen Behinderungen leidet, nimmt die Beklagte wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung und unzureichen-1
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der Aufklärung über die Möglichkeit der Sectio auf Ersatz materiellen und imma-teriellen Schadens in Anspruch.
Die Mutter des [X.] wurde am 27. Januar 2005 nach 29 + 2 Schwan-gerschaftswochen wegen vorzeitiger Wehen in dem von der [X.] betrie-benen Krankenhaus stationär aufgenommen. Während der Schwangerschaft waren bei ihr wiederholt Nierenbeckenentzündungen aufgetreten. Außerdem litt sie unter Schwangerschaftsdiabetes. Am Tag ihrer stationären Aufnahme [X.] Entzündungsparameter nachgewiesen. Die Leukozyten und der [X.] waren deutlich erhöht. Bei einer Sonographie der Nieren wurde ein Harnstau auf beiden Seiten festgestellt. Der Mutter des [X.] wurden wehenhemmen-de Mittel und Antibiotika verabreicht. Darüber hinaus erfolgte eine medikamen-töse Induktion der fetalen Lungenreife durch zweimalige Verabreichung von [X.].
Die Mutter des [X.] wurde außerdem über die Möglichkeit eines Kaiserschnitts aufgeklärt.
Sie entschied sich für eine vaginale Entbindung.
Nach einem vorzeitigen Blasensprung in den frühen Morgenstunden des 9. Februar 2005 wurden die wehenhemmenden Mittel abgesetzt und die Mutter des [X.] unter fortlaufender [X.]-Registrierung an einen [X.]. Ab 15.50 Uhr verzeichnete das [X.] einen zunehmend auffälligen Verlauf der fetalen Herzfrequenz. Ab
etwa 16.25 Uhr zeigte das [X.] ein patho-logisches Muster. Um 16.42 Uhr fassten die behandelnden Ärzte den Ent-schluss zur Notsectio. Der Kläger wurde um 16.59 Uhr geboren und musste reanimiert werden. Bis zum 18. Februar 2005 wurde er beatmet. Wegen ver-schiedener subarachnoidaler und epikranieller Blutungen, akuten Nierenversa-gens, Leberinfarkts, Cholestase bei Leberinfarkt und Hämolyse sowie akuter Blutungsanämie und cerebralen Krampfanfällen ist er schwerstbehindert. Eine histologische Untersuchung der Plazenta nach der Geburt des [X.] ergab das Vorliegen einer akuten eitrigen Chorioamnionitis bei der Mutter des Klä-2
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gers. Das [X.] hat mehrere Behandlungsfehler angenommen, die es in ihrer Gesamtheit als grob qualifiziert hat. Es hat festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger den im Zusammenhang mit seiner Geburt am 9.
Februar 2005 entstandenen und noch entstehenden immateriellen und mate-riellen Schaden zu ersetzen, soweit dieser nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen ist oder übergeht. Das [X.] hat die Berufung der [X.] mit Urteil vom 27. Februar 2013 zurückgewiesen, deren Haftung al-lerdings auf eine unzureichende Aufklärung über Behandlungsalternativen ge-stützt und den Feststellungsausspruch zur Klarstellung dahingehend umformu-liert, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger den aus dem ohne wirksame Einwilligung erfolgten Versuch einer vaginalen Geburt mit anschließender Not-sectio am 9. Februar 2005 entstandenen und noch entstehenden immateriellen und materiellen Schaden zu ersetzen, soweit dieser nicht auf [X.] übergegangen ist oder übergeht. Mit Versäumnisurteil vom 28. Ok-tober 2014 ([X.]) hat der Senat dieses Urteil aufgehoben und die Sa-che an das [X.] zurückverwiesen. Mit Urteil vom 10. Februar 2016 hat das [X.] das landgerichtliche Urteil auf die Berufung der [X.] aufgehoben und die Klage abgewiesen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde.

II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß §
544 Abs.
7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die Beurteilung des Berufungsge-richts, der [X.] könne nicht vorgeworfen werden, die Mutter des [X.] nach dem Blasensprung in der Nacht vom 8./9. Februar 2005 nicht noch einmal 4
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über die Möglichkeit der [X.] aufgeklärt zu haben,
beruht auf [X.] Verletzung des Anspruchs des [X.]
auf Gewährung rechtlichen
Gehörs aus Art.
103 Abs.
1 GG.
1.
Das Berufungsgericht hatte im ersten Urteil in dieser Sache ange-nommen, die Ärzte der [X.] hätten
die Mutter des [X.] trotz der bereits am 27. Januar 2005 erfolgten Aufklärung über die Möglichkeit der Schnittent-bindung am 8. Februar 2005 nochmals über diese Behandlungsalternative un-terrichten
müssen. Der Senat hat diese
Beurteilung beanstandet, weil sie von den getroffenen Feststellungen nicht getragen wurde (Urteil vom 28. Oktober 2014 -
[X.], [X.], 579 Rn. 5). Eine nochmalige Aufklärung der Schwangeren über die Möglichkeit der [X.] ist nur dann geboten, wenn sich nachträglich -
sei es aufgrund einer Veränderung der Situation, sei es aufgrund neuer Erkenntnisse -
Umstände ergeben, die zu einer [X.] Veränderung der Einschätzung der mit den verschiedenen Entbin-dungsmethoden verbundenen Risiken und Vorteile führen und die unterschied-lichen Entbindungsmethoden deshalb in neuem Licht erscheinen lassen. In ei-nem solchen Fall hat der Arzt die Schwangere zur Wahrung ihres Selbstbe-stimmungsrechts und ihres Rechts auf körperliche Unversehrtheit über das ver-änderte Nutzen-Risiko-Verhältnis -
beispielsweise über nachträglich [X.] oder erkannte Risiken der von ihr gewählten Entbindungsmethode -
zu in-formieren und ihr eine erneute Abwägung der für und gegen die jeweilige Be-handlungsalternative sprechenden Gründe zu ermöglichen (Senatsurteil vom 28. Oktober 2014 -
[X.], [X.], 579 Rn. 8). Der Senat hat
das angefochtene Urteil aufgehoben, weil das Berufungsgericht keine Feststellun-gen zu diesen Voraussetzungen getroffen hatte. Es hatte insbesondere nicht festgestellt, dass die mit einer vaginalen Entbindung verbundenen Risiken für den Kläger aufgrund nachträglich eingetretener Umstände oder Erkenntnisse höher einzuschätzen waren als am 27. Januar 2005. Das Berufungsgericht hat-5
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te lediglich darauf verwiesen, dass mit dem Blasensprung der Verdacht eines Amnioninfektionssyndroms nahegelegen und die [X.] nunmehr als gleichwertige Behandlungsalternative zu einer vaginalen Entbindung habe angesehen werden müssen. Feststellungen dazu, dass die Vaginalgeburt des-halb als mit höheren Risiken behaftet einzuschätzen war als vor dem [X.], hatte das Berufungsgericht dagegen nicht getroffen (vgl. Senatsurteil vom 28. Oktober 2014 -
[X.], [X.], 579 Rn. 10).
2.
Die Nichtzulassungsbeschwerde wendet sich mit Erfolg gegen die Be-urteilung des Berufungsgerichts
im nunmehr angefochtenen Urteil, die [X.] für die Beurteilung der Frage, ob eine Sectio oder eine vaginale Entbindung durchgeführt werden sollte, habe sich nach dem 27. [X.] 2005 nicht entscheidend verändert. Sie beanstandet zu Recht, dass das Be-rufungsgericht, wesentliche, dem Kläger günstige Ausführungen des gericht-lichen Sachverständigen Prof. Dr. St.
in der
mündlichen Verhandlung vom 15.
Oktober 2015 unberücksichtigt gelassen hat.
a) Prof. Dr. St.
hatte angegeben, nach dem Blasensprung sei eine Ände-rung der Risikosituation im Vergleich zum 27. Januar 2005 eingetreten. Bei dem Aufklärungsgespräch am 27. Januar 2005 habe zwar die Möglichkeit einer Frühgeburt bestanden. Diese sei aber noch nicht konkret gewesen. Bei dem Aufklärungsgespräch habe die Situation auf eine Harnwegsinfektion hingedeu-tet. Ein Harnwegsinfekt führe aber in der Regel nicht zu einem Blasensprung. Auf die Frage, ob sich die mechanische Belastung durch den Blasensprung verändert habe, gab der Sachverständige an, dass bei einer vaginalen [X.] die Prämisse bestehe, die Blase nach Möglichkeit stehen zu lassen. Das Fruchtwasserkissen habe eine gewisse abfedernde Wirkung, was auch dem Zweck diene, mechanische Belastungen zu reduzieren. Frühgeburten seien besonders sensibel im Hinblick auf mechanische Belastungen. Er selbst hätte 6
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nach dem Blasensprung nochmals aufgeklärt. Wie die Nichtzulassungsbe-schwerde zu Recht geltend macht, ist diesen Angaben zu entnehmen, dass mit dem Blasensprung die abfedernde Wirkung des Fruchtwasserkissens verloren gegangen war und der Kläger den von einer vaginalen Geburt ausgehenden mechanischen Belastungen -
abweichend von der am 27. Januar 2005 gege-benen Situation -
ungeschützt ausgesetzt war.
b) Mit diesen Angaben des Sachverständigen ist die Beurteilung des Be-rufungsgerichts nicht vereinbar, nach den Einschätzungen des [X.] habe sich an den Gefahren des vaginalen Geburtswegs durch den [X.] "nichts wesentlich verändert". Soweit das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang darauf verwiesen hat, dass bei der Mutter des [X.] Wehen-bereitschaft bestanden habe und man ex [X.] davon habe ausgehen können, die Geburt werde innerhalb von 24 Stunden von statten gehen, hat es überse-hen, dass sich die diesbezüglichen Ausführungen des Sachverständigen allein auf die Frage bezogen, ob eine vaginale
Geburt überhaupt noch in Betracht kam. Hiervon war nach Ausführungen des Sachverständigen nur dann auszu-gehen, wenn "diese zügig von statten ging". Gleiches gilt für die vom [X.] wiedergegebene Auffassung, ein Kaiserschnitt sei nach dem Bla-sensprung nicht geboten gewesen. Dies besagt nur, dass die vaginale Geburt eine medizinisch verantwortbare Alternative darstellte und das Absehen von der Sectio nicht behandlungsfehlerhaft war.
Auch hierauf weist die Nichtzulas-sungsbeschwerde zutreffend hin.
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c) [X.]) aufgezeigten, ihm günstigen Ausführungen des Sach-verständigen hat sich der Kläger zumindest konkludent zu Eigen gemacht (vgl. Senatsurteil vom 8. Januar 1991 -
VI [X.], [X.], 467, 468 mit [X.]. Jaeger; Senatsbeschlüsse vom 10. November 2009 -
VI [X.], [X.], 497 Rn. 5; vom 4. Dezember 2012 -
VI [X.], juris Rn. 4; vom 14. Januar 2014 -
VI [X.], [X.], 632 Rn. 11; vom 24. März 2015 -
VI [X.], NJW 2015, 2125 Rn. 17).
Die Nichtberücksichtigung der seine
Rechtsposition stützenden Ausführungen des Sachverständigen bedeutet, dass erhebliches Vorbringen des [X.] im Ergebnis übergangen und damit dessen verfassungsrechtlich gewährleisteter Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt worden ist (vgl. Senatsbeschlüsse vom 1. Juli 2014 -
VI [X.], juris Rn. 8; vom 14. Januar 2014 -
VI [X.], [X.], 632 Rn. 11; vom 16. August 2016 -
VI [X.], zVb).
3.
Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berück-sichtigung der Angaben des Sachverständigen zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre (vgl. Senatsbeschluss vom 17. Dezember 2013 -
VI [X.], [X.], 586 Rn. 7 mwN).
Dies gilt in besonderem Maße vor dem Hinter-grund, dass sich das Berufungsgericht vor Erlass des ersten Urteils in dieser Sache davon überzeugt hatte, dass die unterlassene Aufklärung über die Mög-

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9
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lichkeit der [X.] jedenfalls mitursächlich für die Schädigung des [X.] war.
Galke

[X.]

[X.]

von [X.]

Oehler
Vorinstanzen:
[X.], Entscheidung vom 22.09.2010 -
6 O 107/08 -

OLG [X.], Entscheidung vom 10.02.2016 -
7 [X.] (15) -

Meta

VI ZR 239/16

13.09.2016

Bundesgerichtshof VI. Zivilsenat

Sachgebiet: ZR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 13.09.2016, Az. VI ZR 239/16 (REWIS RS 2016, 5622)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 5622

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