Bundesgerichtshof, Beschluss vom 06.04.2022, Az. StB 11/22

3. Strafsenat | REWIS RS 2022, 2538

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Fortdauer der Untersuchungshaft vor der Revisionsentscheidung: Vorliegen eines dringenden Tatverdachts und von Fluchtgefahr; Beschleunigungspflicht für das Strafverfahren


Tenor

1. Die Beschwerde der Angeklagten gegen den Beschluss des [X.] vom 16. Juni 2021 wird verworfen.

2. Die Beschwerdeführerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

1

Die Angeklagte befindet sich seit dem 17. Dezember 2020 in Untersuchungshaft aufgrund Haftbefehls des [X.] vom 15. Dezember 2020. Der nach Beginn der Hauptverhandlung erlassene Haftbefehl ist auf den Haftgrund der Fluchtgefahr wegen des Vorwurfs gestützt, die Angeklagte habe sich vom 10. Oktober 2013 bis Mai 2015 wegen Unterstützung der terroristischen Vereinigung im Ausland "[X.] (im [X.] und in [X.])" ([X.]) in zehn Fällen strafbar gemacht, dabei in einzelnen Fällen in Tateinheit mit verschiedenen Verstößen gegen das [X.] als Mitglied einer Bande und in einem Fall überdies in Tateinheit mit der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Der Senat hat mit Beschluss vom 14. Januar 2021 (StB 49/20) eine Haftbeschwerde der Angeklagten verworfen. Das [X.] hat sie am 16. Juni 2021 wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland in neun Fällen, davon in sieben Fällen in Tateinheit mit bandenmäßiger Zuwiderhandlung gegen ein Bereitstellungsverbot und in einem dieser Fälle mit Terrorismusfinanzierung sowie mit drei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen der bandenmäßigen verbotswidrigen Ausfuhr von Gütern, wobei es in einem dieser Fälle beim Versuch geblieben ist, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zudem hat es beschlossen, dass die Untersuchungshaft der Angeklagten "nach Maßgabe ihrer heutigen Verurteilung" fortzudauern habe.

2

Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Angeklagten, deren Revision gegen das Urteil beim Senat noch anhängig ist. Die Angeklagte hält den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft für nicht mehr verhältnismäßig, da ihre Verteidigung dadurch "nahezu unmöglich" gemacht werde, dass sie nur über eine Postkontrolle Kontakt zur Verteidigerin halten könne und ihr "durch die Arrestierung sämtlicher Vermögenswerte" kein finanzieller Spielraum für die Beauftragung eines Wahlverteidigers bleibe. Das [X.] hat der Beschwerde durch näher begründeten Beschluss nicht abgeholfen.

II.

3

Die gemäß § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO zulässige Beschwerde ist unbegründet.

4

1. Gegen die Angeklagte besteht weiterhin der dringende Verdacht im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO, sie habe zwischen Oktober 2013 und Mai 2015 ihre sich zunächst in [X.] aufhaltenden, dem [X.] angehörenden Söhne durch die arbeitsteilige Mitwirkung an der Beschaffung von Waffenzubehör sowie Ausrüstungsgegenständen für islamistische Kämpfer und durch den - teils versuchten - Transport zu den Söhnen unterstützt. Zudem habe sie ihnen Geldbeträge zukommen lassen. Wegen der Einzelheiten wird auf den Haftbefehl, den Beschluss des Senats vom 14. Januar 2021 und die Urteilsgründe verwiesen.

5

Der dringende Verdacht wird durch das verurteilende Erkenntnis hinreichend belegt (vgl. [X.], Beschlüsse vom 8. Januar 2004 - StB 20/03, [X.]R StPO § 112 Tatverdacht 4; vom 30. Mai 2018 - StB 12/18, NStZ-RR 2018, 255 mwN). Soweit die Angeklagte sich dagegen unter Bezugnahme auf das in der Hauptverhandlung gehaltene Plädoyer ihrer Verteidigerin wendet, ergibt sich namentlich in Bezug auf ihren Vorsatz nichts anderes. Es ist danach nicht ersichtlich, dass die vom Tatgericht vorgenommene Beweiswürdigung einer revisionsgerichtlichen Prüfung nicht standhalten kann (vgl. näher [X.], Beschluss vom 28. Oktober 2005 - StB 15/05, [X.], 297 mwN).

6

Da sich nach den vom [X.] getroffenen Feststellungen jedenfalls mehrere bandenmäßige Embargoverstöße nach § 17 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 [X.], § 74 Abs. 2 Nr. 3, § 80 Nr. 1 [X.] i.V.m. Teil I Abschnitt A Nr. 0001d der [X.] (Fassung vom 2. August 2013), [X.] der Verordnung ([X.]) Nr. 881/2002 in der zur Tatzeit geltenden Fassung, Art. 2 Abs. 1 des Gemeinsamen Standpunkts des Rates Nr. 2002/402/[X.]; § 18 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, Abs. 7 Nr. 2 [X.], Art. 2 Abs. 2 und 3 der Verordnung ([X.]) Nr. 881/2002 in der zur Tatzeit geltenden Fassung und Unterstützungen einer terroristischen Vereinigung im Ausland gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Satz 1, § 129b Abs. 1 StGB ergeben, bedürfen die Verwirklichung zusätzlicher Tatbestände und die konkurrenzrechtliche Einordnung hier für die Entscheidung über die Haftbeschwerde weiter keiner abschließenden Erörterung (vgl. näher bereits [X.], Beschluss vom 14. Januar 2021 - StB 49/20, juris Rn. 15 ff.). Die von der Beschwerdeführerin vertretene Ansicht, bei den Taten handele es sich teilweise um [X.] zulässige Unterstützungen ihrer Söhne, trifft nicht zu.

7

2. Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) liegt vor. Insofern haben sich ebenfalls keine maßgeblichen Änderungen seit dem Beschluss des Senats vom 14. Januar 2021 ergeben.

8

Der bestehende Fluchtanreiz wird nicht dadurch wesentlich herabgesetzt, dass sich die Angeklagte inzwischen seit über einem Jahr und drei Monaten in Untersuchungshaft befindet. Angesichts der Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten droht, eingedenk der noch ausstehenden Rechtskraft und einer etwaigen Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung nach § 57 StGB, ein erheblicher Strafvollzug.

9

Insgesamt kann der Zweck der Untersuchungshaft, wie bereits im vorangegangenen Senatsbeschluss dargelegt, nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 StPO). Auch der in der Beschwerdebegründung erwogene Einsatz technischer Überwachungsmittel (sogenannte elektronische Fußfessel) ist hier nicht erfolgversprechend, da er den mit einer Flucht einhergehenden Verstoß gegen Anweisungen belegen, aber nicht unterbinden kann.

3. Der fortdauernde Vollzug der Untersuchungshaft steht nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht der Angeklagten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Zwar setzt die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich regelmäßig das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung. Daraus folgt, dass mit der Dauer der Untersuchungshaft die Anforderungen an die [X.] in einer Haftsache und an den die [X.] rechtfertigenden Grund zunehmen (vgl. [X.], Beschluss vom 26. Mai 2020 - StB 15/20, juris Rn. 20 mwN). Allerdings ist diesen Erfordernissen genügt. Das [X.] hat insbesondere die Hauptverhandlung zügig - mit einer durchschnittlichen Verhandlungsdichte von mehr als einem Tag pro Woche - zu Ende geführt und das Urteil zudem deutlich vor Ablauf der Frist gemäß § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO zu den Akten gebracht. Das Revisionsverfahren weist bisher gleichfalls keine Verzögerungen auf.

Mit Blick auf die in der Beschwerdeschrift und der weiteren Stellungnahme genannten Gesichtspunkte ist die Untersuchungshaft ebenfalls nicht unverhältnismäßig. Die mit dieser einhergehenden Einschränkungen der Inhaftierten, namentlich längere Postlaufzeiten wegen Überwachungsmaßnahmen nach § 148 Abs. 2 Satz 1, § 148a StPO und die Unmöglichkeit, sich in Freiheit um den Verkauf von Immobilieneigentum zu kümmern, ergeben sich aus der Natur der Sache. Im Übrigen ist das Recht der - durch zwei Pflichtverteidiger verteidigten -Angeklagten auf effektive Verteidigung (s. Art. 6 Abs. 3 Buchst. [X.]) durch den Vollzug der Untersuchungshaft nicht berührt. Die von der Angeklagten als ungerechtfertigt angesehene Vollziehung des Vermögensarrestes, mit der sich das [X.] in einem Beschluss vom 17. November 2021 eingehend befasst hat, steht mit der Untersuchungshaft nicht in Zusammenhang und hat nicht deren Unverhältnismäßigkeit zur Folge.

[X.]                    Anstötz

Meta

StB 11/22

06.04.2022

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

§ 112 Abs 1 S 1 StPO, § 112 Abs 2 Nr 2 StPO, § 268b StPO, § 304 Abs 4 S 2 Halbs 2 Nr 1 StPO, Art 5 Abs 3 MRK, Art 2 GG, Art 20 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 06.04.2022, Az. StB 11/22 (REWIS RS 2022, 2538)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 2538

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

StB 49/22 (Bundesgerichtshof)


StB 16/22 (Bundesgerichtshof)

Notwendige Begründung eines Nichtabhilfebeschlusses bei Haftbeschwerde während laufender Hauptverhandlung: Tatrichterliche Prüfung des fortbestehenden dringenden Tatverdachts, …


StB 63 + 64/23, StB 63/23, StB 64/23 (Bundesgerichtshof)


StB 39/22 (Bundesgerichtshof)


StB 4/23 (Bundesgerichtshof)


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.