Bundessozialgericht, Beschluss vom 24.06.2020, Az. B 4 AS 26/20 B

4. Senat | REWIS RS 2020, 2584

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Gegenstand

Grundsicherung für Arbeitsuchende - keine Pflicht der zugelassenen kommunalen Träger zur Anwendung und Beachtung der fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit - keine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes


Tenor

Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom 11. April 2019 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Beschwerdeverfahren.

Gründe

1

I. Der Rechtsstreit betrifft die Aufforderung zur Rentenantragstellung durch einen Leistungsträger nach dem [X.].

2

Die Klägerin ist am 18.5.1954 geboren. Eine Regelaltersrente kann sie seit dem 1.2.2020 in Anspruch nehmen, eine abschlagsfreie Altersrente für schwerbehinderte Menschen wäre seit dem [X.] möglich gewesen, mit Abschlägen bereits seit dem 1.2.2015. [X.], der zugelassener kommunaler Träger iS von § 6a [X.] (sog Optionskommune) ist, forderte sie zur Beantragung einer Altersrente auf (Bescheid vom 27.6.2017, Widerspruchsbescheid vom 31.7.2017). Das [X.] hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 22.5.2018).

3

Das L[X.] hat die streitgegenständlichen Bescheide aufgehoben, weil sie ermessensfehlerhaft seien (Urteil vom [X.]). Gemäß § 6 Satz 1 [X.] sei die Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente unbillig, wenn Leistungsberechtigte dadurch hilfebedürftig im Sinne der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung werden würden. Dies sei nach § 6 Satz 2 [X.] insbesondere anzunehmen, wenn der Betrag in Höhe von 70 % der bei Erreichen der Altersgrenze (§ 7a [X.]) zu erwartenden monatlichen Regelaltersrente niedriger sei als der zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Unbilligkeit maßgebende Bedarf der leistungsberechtigten Person nach dem [X.]. Der grundsicherungsrechtliche Bedarf der Klägerin (495,57 Euro) liege bei genau 70 % der zu erwartenden ungeminderten Altersrente (707,96 Euro). Bei der Bedarfsberechnung sei entsprechend den fachlichen Hinweisen der [X.] wegen schwankenden Bedarfs für Unterkunft und Heizung ein "Sicherheitszuschlag" in Höhe von 10 % des Regelbedarfs zu berücksichtigen. Wegen Art 3 Abs 1 [X.] hätten auch Optionskommunen die fachlichen Hinweise der [X.] ihrer Ermessensausübung zugrunde zu legen. Ungeachtet dessen habe der [X.] sein Ermessen auch mit Blick auf § 3 [X.] unrichtig ausgeübt. [X.] gehe davon aus, dass der Ausnahmetatbestand des § 3 [X.], wonach die Inanspruchnahme der Altersrente unbillig sei, wenn Hilfebedürftige in nächster Zukunft die Altersrente in Anspruch nehmen könnten, nur dann vorliege, wenn die Altersrente innerhalb eines Zeitraumes von drei Monaten abschlagsfrei bezogen werden könne. Aus dem Urteil des B[X.] vom 9.8.2018 ([X.] [X.]/18 R - [X.] 4-4200 § 12a [X.]) ergebe sich aber, dass die Zeitspanne gerade nicht starr auf drei Monate begrenzt sei. [X.] habe bei Ausübung seines Ermessens seine "Spielräume" also nicht richtig eingeschätzt. Die Zeitspanne im Fall der Klägerin (sieben Monate) falle noch unter den Begriff "in nächster Zukunft", der einen Zeitraum von bis zu acht Monaten umfasse. Würde man die Grenze bei sechs Monaten ziehen, läge aber jedenfalls ein Härtefall vor.

4

Mit der Beschwerde macht der [X.] zum einen als grundsätzliche Rechtsfrage geltend, ob "zugelassene kommunale Träger nach § 6a [X.] (sog Optionskommunen) ihr Ermessen rechtsfehlerhaft ausüben, wenn sie im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung nicht mit ausführen, welchen (abweichenden) Inhalt die fachlichen Hinweise der [X.] haben und warum sie von diesen abweichen, sowie ob Bürger/Kunden durch diese Nichtanwendung eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung erfahren". [X.] macht zum anderen eine Divergenz geltend. Er entnimmt der Entscheidung des L[X.] den Rechtssatz, dass der auslegungsbedürftige Rechtsbegriff "in nächster Zukunft" in Anbetracht des [X.] gemäß § 41 Abs 3 [X.] von einem Jahr einen Zeitraum von bis zu acht Monaten umfasse. Damit weiche das L[X.] vom Urteil des B[X.] vom 9.8.2018 ([X.] [X.]/18 R - [X.] 4-4200 § 12a [X.]) ab. Diesem Urteil entnimmt der [X.] den Rechtssatz, dass der Begriff "in nächster Zukunft" in § 3 [X.] vier Monate umfasse. Sofern der Begriff nicht bereits durch dieses Urteil definiert sei, liege jedenfalls eine weitere Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vor.

5

II. Die zulässige Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet. Zwar wirft das Verfahren die zwei von dem [X.]n formulierten Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne einer Klärungsbedürftigkeit auf. Deren Beantwortung ist aber nicht entscheidungserheblich und daher nicht klärungsfähig.

6

Grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G) hat eine Rechtssache nur, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Die Rechtsfrage muss (abstrakt) klärungsbedürftig und (konkret) klärungsfähig im jeweiligen Rechtsstreit (Entscheidungserheblichkeit) sein sowie eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) haben (vgl etwa B[X.] vom [X.] [X.] 142/02 B - [X.] 3-1500 § 160a [X.] mwN).

7

Die Frage, "ob zugelassene kommunale Träger nach § 6a [X.] (sog Optionskommunen) ihr Ermessen rechtsfehlerhaft ausüben, wenn sie im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung nicht mit ausführen, welchen (abweichenden) Inhalt die fachlichen Hinweise der [X.] haben und warum sie von diesen abweichen, sowie ob Bürger/Kunden durch diese Nichtanwendung eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung erfahren", ist von grundsätzlicher Bedeutung. Zweifel an der Auffassung des L[X.], dass wegen Art 3 Abs 1 [X.] auch Optionskommunen die fachlichen Hinweise der [X.] ihren Ermessensentscheidungen zugrunde zu legen haben, erwachsen insbesondere daraus, dass damit der Gewährleistungsgehalt des Art 3 Abs 1 [X.] unzutreffend beurteilt worden sein dürfte. Der allgemeine Gleichheitssatz erfasst nur Ungleichbehandlungen, die aus Handlungen ein- und desselben Hoheitsträgers resultieren ([X.] in Friauf/Höfling, [X.] Kommentar zum [X.], Art 3 RdNr 47 mwN; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.] Kommentar zum [X.], Art 3 Rd[X.]91 ; Nußberger in [X.], [X.], 8. Aufl 2018, Art 3 RdNr 81; [X.] in Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, [X.], 2013, § 125 RdNr 97; Wollenschläger in von Mangoldt/[X.]/[X.], [X.], [X.], 7. Aufl 2018, Art 3 RdNr 68; vgl [X.] vom 14.1.2015 - 1 BvR 931/12 - [X.]E 138, 261, 288, [X.]). Die verschiedene Auslegung und Anwendung derselben Rechtsvorschriften durch verschiedene Behörden verletzen noch kein Verfassungsrecht ([X.] vom 12.1.1967 - 1 BvR 335/63 - [X.]E 21, 87, 91; [X.] vom [X.] - 2 BvL 11/85 - [X.]E 75, 329, 347; vgl auch [X.] in Friauf/Höfling, [X.] Kommentar zum [X.], Art 3 RdNr 47 ). Ein kommunaler Träger nach § 6a [X.] ist daher nicht aufgrund Art 3 Abs 1 [X.] verpflichtet, sein Handeln an der Verwaltungspraxis anderer Behörden, hier der [X.], auszurichten (vgl allgemein [X.] in Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, [X.], 2013, § 125 RdNr 95). Die fachlichen Hinweise der [X.] sind auch keine allgemeinen Verwaltungsvorschriften iS des Art 84 Abs 2 [X.] oder des § 48 Abs 2 Satz 2 [X.], die (nur) die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates erlassen dürfte. Auch § 6b Abs 4 [X.] dient nicht der Gewährleistung eines grundsätzlich einheitlichen Gesetzesvollzuges ([X.] vom 7.10.2014 - 2 BvR 1641/11 - [X.]E 137, 108, 184 = [X.] 4-4200 § 6a [X.], Rd[X.]82).

8

Auch die Frage, wie der Begriff "in nächster Zukunft" in § 3 [X.] zu definieren ist, ist von grundsätzlicher Bedeutung, sofern man die Ausführungen im Urteil des B[X.] vom 9.8.2018 ([X.] [X.]/18 R - [X.] 4-4200 § 12a [X.]) so versteht, dass eine Obergrenze damit noch nicht markiert ist (so etwa das Verständnis bei [X.] in [X.], jurisPK-[X.], 5. Aufl 2020, § 12a Rd[X.]8; [X.], NZS 2019, 73). Wäre dieses Urteil hingegen so zu verstehen, dass der Begriff "in nächster Zukunft" abschließend mit vier Monaten umschrieben werden soll, würde das Urteil des L[X.] hiervon iS des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G divergieren, weil das L[X.] ausdrücklich davon ausgeht, dass in dem Urteil des B[X.] eine solche Obergrenze nicht beschrieben ist.

9

Die aufgezeigten Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung bzw die (unterstellte) Divergenz sind aber nicht entscheidungserheblich und daher im vorliegenden Fall nicht klärungsfähig. Denn das L[X.] hat selbständig tragend (auch) darauf abgestellt, dass der [X.] den Rechtsbegriff "in nächster Zukunft" fehlerhaft ausgelegt und sein Ermessen somit auf Grundlage einer unzutreffenden Rechtsauffassung ausgeübt habe, indem er davon ausgegangen sei, dass der Ausnahmetatbestand des § 3 [X.] nur dann vorliege, wenn die Altersrente innerhalb eines Zeitraumes von drei Monaten abschlagsfrei bezogen werden könne. [X.] ist insoweit von einer Rechtslage ausgegangen, die nicht mit der Auslegung des § 3 [X.] im Urteil des B[X.] vom 9.8.2018 ([X.] [X.]/18 R - [X.] 4-4200 § 12a [X.]) vereinbar ist. Zwar konnte der [X.] dieses Urteil zum Zeitpunkt seiner letzten Entscheidung noch nicht kennen. Ein Ermessensfehler setzt bezüglich der rechtlichen Würdigung eines Sachverhaltes aber kein Verschulden der Behörde voraus. Da der [X.] hinsichtlich der Auslegung des § 3 [X.] von einer objektiv unzutreffenden Rechtslage ausgegangen ist, liegt ein Fall des Ermessenfehlgebrauchs vor, der zur Rechtswidrigkeit der streitgegenständlichen Bescheide führt. Auf die Frage, ob die Auslegung des § 3 [X.] durch das L[X.] zutreffend ist, wonach der Begriff "in nächster Zukunft" einen Zeitraum von bis zu acht Monaten umfasse, kommt es damit nicht an. Selbst wenn in einem Revisionsverfahren die Rechtsfragen im Sinne des [X.]n beantwortet würden, würde dies die Entscheidung des L[X.] im Ergebnis nicht in Frage stellen können.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 Satz 1 [X.]G.

Meta

B 4 AS 26/20 B

24.06.2020

Bundessozialgericht 4. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Dresden, 22. Mai 2018, Az: S 29 AS 3326/17, Urteil

§ 6a SGB 2, § 6b Abs 4 SGB 2, § 48 Abs 2 S 2 SGB 2, Art 3 Abs 1 GG, Art 84 Abs 2 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 24.06.2020, Az. B 4 AS 26/20 B (REWIS RS 2020, 2584)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2584

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1 BvR 931/12

2 BvR 1641/11

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