Bundesgerichtshof, Beschluss vom 31.08.2022, Az. 4 StR 166/22

4. Strafsenat | REWIS RS 2022, 5146

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Gegenstand

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung: Berücksichtigung von Verteidigungsverhalten zur Begründung eines Hanges und der Gefährlichkeitsprognose


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 2. September 2021 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 144 Fällen unter Einbeziehung einer Strafe aus einem anderen Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und eine Anrechnungsentscheidung getroffen. Darüber hinaus hat das [X.] den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 19 Fällen, sexuellen Missbrauchs eines Jugendlichen in 301 rechtlich zusammentreffenden Fällen, sexuellen Übergriffs, gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, Drittbesitzverschaffung jugendpornografischer Schriften in zwei Fällen, hier jeweils in Tateinheit mit Besitz jugendpornografischer Schriften, und wegen Besitzes kinderpornografischer Schriften zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Im Übrigen hat es ihn freigesprochen. Schließlich hat es die Sicherungsverwahrung angeordnet. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten hat den aus der [X.] ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

2

1. Die auf § 66 Abs. 2 StGB gestützte Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.

3

Die Strafkammer hat sowohl zur Begründung eines Hanges zu gefährlichen Straftaten als auch bei der Entwicklung der Gefährlichkeitsprognose (§ 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB) darauf abgestellt, dass die Einlassung des Angeklagten erhebliche Verlagerungen der Tatverantwortung mit Schuldzuweisungen an den Nebenkläger bis zur Umkehrung der Rollen von Täter und Opfer enthalte.

4

Zulässiges Verteidigungsverhalten darf aber weder hangbegründend noch als Anknüpfungspunkt für die Gefährlichkeit des Angeklagten verwertet werden. Andernfalls wäre der Angeklagte gezwungen, seine Verteidigungsstrategie aufzugeben, will er hinsichtlich der Sicherungsverwahrung einer ihm ungünstigen Entscheidung entgegenwirken (vgl. [X.], Beschluss vom 24. Oktober 2019 – 4 StR 200/19 Rn. 7; Beschluss vom 26. März 2020 – 4 [X.] Rn. 24). Wenn der Angeklagte zu seiner Verteidigung die ihm zur Last gelegten Taten leugnet, bagatellisiert oder einem anderen die Schuld zuschiebt, ist dies grundsätzlich zulässig. Die Grenze zulässiger Verteidigung ist erst dann erreicht, wenn – was hier nicht der Fall ist – das Leugnen, Verharmlosen oder die Belastung des Opfers oder eines Dritten Ausdruck einer besonders verwerflichen Einstellung ist, etwa weil die Falschbelastung mit einer Verleumdung oder Herabwürdigung oder der Verdächtigung einer besonders verwerflichen Handlung einhergeht (vgl. [X.], Beschluss vom 24. Oktober 2019 – 4 StR 200/19 Rn. 7; Beschluss vom 12. August 2020 – 4 StR 588/19 Rn. 5). Der [X.] vermag nicht gänzlich auszuschließen, dass der [X.] auf der rechtlich durchgreifend bedenklichen Erwägung beruht (§ 337 Abs. 1 StPO).

5

2. Die Entscheidung über die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.

[X.]     

      

Bartel     

      

Maatsch

      

Scheuß     

      

Weinland     

      

Meta

4 StR 166/22

31.08.2022

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Bochum, 2. September 2021, Az: II 8 KLs 5/20

§ 66 Abs 1 S 1 Nr 4 StGB, § 66 Abs 2 StGB, § 261 StPO, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 31.08.2022, Az. 4 StR 166/22 (REWIS RS 2022, 5146)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 5146


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 4 StR 166/22

Bundesgerichtshof, 4 StR 166/22, 31.08.2022.


Az. 8 KLs 5/20

Landgericht Bochum, 8 KLs 5/20, 02.09.2021.


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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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