Bundessozialgericht, Beschluss vom 23.03.2011, Az. B 6 KA 74/10 B

6. Senat | REWIS RS 2011, 8355

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Gegenstand

Vertragsärztliche Versorgung - Honorarverteilungsmaßstab - Rechtswidrigkeit einer Regelung über Erhöhung des Individualbudgets - Nichtberücksichtigung von Patientenzulauf aus anderem KÄV-Bezirk wegen Praxisschließung


Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom 6. Oktober 2010 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten auch des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 20 000 Euro festgesetzt.

Gründe

1

I. Streitig ist, ob ein Arzt nach Schließung einer Praxis im Bezirk einer benachbarten [X.] ([X.]) fordern kann, ihm sein Individualbudget ([X.]) wegen zusätzlicher Patienten aus jenem [X.]-Bezirk zu erhöhen.

2

Der Kläger, Neurologe und Psychiater und seit 1986 zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen, betreibt seine Praxis in B. Ein Nervenarzt im benachbarten [X.] gelegen im Bundesland [X.] - schloss seine Praxis zum Ende 2002; andere Nervenärzte gab es in der dortigen Region nicht; die nächstgelegene nervenärztliche Praxis befand sich in [X.] Eine Nachbesetzung der Praxis erfolgte im August 2003 durch eine Fachärztin für Psychiatrie; außerdem wurden im Juli und September 2004 zwei Nervenärzte in [X.] zugelassen.

3

Der Honorarverteilungsmaßstab ([X.]) der Beklagten sah ab dem [X.] [X.]s vor. Der Kläger beantragte, das ihm zugemessene [X.] im Hinblick auf die Schließung der benachbarten Praxis und die Übernahme dort wohnhafter Patienten zu erhöhen. Dies lehnte die Beklagte ab, weil nicht sie, sondern die dortige [X.] zur Sicherstellung der Versorgung der dort wohnhaften Patienten verpflichtet sei.

4

Das [X.] hat die Beklagte zur Neuberechnung des [X.] des [X.] für die [X.]/2003 bis II/2004 verpflichtet; das L[X.] hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteile vom [X.] und vom 6.10.2010). Das L[X.] hat - unter weitgehender Bezugnahme auf das Urteil des [X.] - ausgeführt: Eine Praxisschließung im näheren Umfeld des [X.] im Sinne des § 9 [X.] 9 [X.] habe vorgelegen, denn die Praxis des [X.] sei nur 9 km von [X.] entfernt. Durch die Schließung der dortigen Praxis sei es zur Übernahme von deren Patienten gekommen. Da in dem Ausnahmetatbestand des § 9 [X.] 9 [X.] weitere Voraussetzungen nicht normiert seien, sei der Anspruch auf Erhöhung des [X.] gegeben. Dafür erhalte die Beklagte Zahlungen aus dem sog Fremdkassenausgleich.

5

Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Beklagte gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des L[X.]. Sie macht geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung.

6

II. Die Beschwerde der Beklagten hat keinen Erfolg.

7

1. Das Vorbringen der Beklagten, der Rechtssache komme grundsätzliche Bedeutung zu (Zulassungsgrund gemäß § 160 [X.] 2 [X.] [X.]G), entspricht zwar den Darlegungsanforderungen des § 160a [X.] 2 Satz 3 [X.]G. Ihre Beschwerde ist mithin zulässig. Sie ist aber unbegründet, denn nicht alle Erfordernisse für die Revisionszulassung sind erfüllt.

8

Eine Revisionszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung setzt eine Rechtsfrage voraus, die in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl B[X.] [X.]-1500 § 153 [X.] Rd[X.]3 mwN). Die Klärungsbedürftigkeit fehlt insbesondere dann, wenn die Rechtsfrage bereits geklärt ist und/oder wenn sie sich ohne Weiteres aus den Rechtsvorschriften und/oder aus der bereits vorliegenden Rechtsprechung klar beantworten lässt (hierzu siehe zB B[X.] [X.] 3-1500 § 146 [X.]; B[X.] [X.] 3-2500 § 75 [X.]; B[X.] [X.] 3-1500 § 160a [X.]; vgl auch B[X.] [X.] 3-4100 § 111 [X.] S 2 f; s auch B[X.] [X.] 3-2500 § 240 [X.]3 S 151 f mwN). Diese Anforderungen sind verfassungsrechtlich unbedenklich (siehe die [X.] in B[X.] [X.]-1500 § 153 [X.] Rd[X.]3 sowie [X.] [X.]-1500 § 160a [X.]6 Rd[X.] 4 f).

9

[X.] wirft - hier sinngemäß verkürzt - die Rechtsfrage auf,

        

ob ein Anspruch auf Erhöhung des [X.] wegen Schließung einer Praxis im Umfeld und Übernahme ihrer Patienten auch dann auf eine [X.]-Bestimmung wie § 9 [X.] 9 [X.] gestützt werden kann, wenn die Praxis in einem anderen KÄV-Bezirk gelegen war.

Insoweit besteht kein bundesrechtlicher Klärungsbedarf.

§ 9 [X.] 9 [X.] räumt nach seinem Wortlaut einen Anspruch auf Erhöhung des [X.] für den Fall einer Praxisschließung ohne Praxisnachfolge im Umfeld des Antragstellers und entsprechender Patientenübernahme ein. Das [X.] und das L[X.] haben dazu ausgeführt, dass diese Bestimmung keine weitere Voraussetzung enthält, insbesondere auch nicht auf eine Praxisschließung im selben [X.]-Bezirk abstellt.

Ob bzw inwieweit diese Auslegung überhaupt bundesrechtlich überprüft werden kann, ist zweifelhaft. Denn ein [X.] stellt landesrechtliches Satzungsrecht dar. Die Feststellung und Auslegung von Landesrecht durch das L[X.] ist für die revisionsgerichtliche Überprüfung grundsätzlich verbindlich, es sei denn, der Geltungsbereich der Bestimmung erstreckt sich über den Bezirk des L[X.] hinaus oder es besteht in dem Bezirk eines anderen L[X.] eine inhaltlich identische Bestimmung; dann kann das B[X.] die Bestimmung in vollem Umfang überprüfen und sie ohne Bindung an die Auffassung des L[X.] selbst auslegen (vgl dazu § 162 [X.]G und die stRspr des B[X.], zB B[X.] [X.]-2500 § 69 [X.] Rd[X.]6; B[X.]E 106, 110 = [X.]-2500 § 106 [X.], Rd[X.]0 mwN). Weiterhin sind auch solche landesrechtlichen Normen einer eigenständigen Auslegung durch das B[X.] zugänglich, die das L[X.] gänzlich unberücksichtigt gelassen hat (B[X.] [X.]-2500 § 127 [X.] Rd[X.]9; B[X.] [X.]-2500 § 69 [X.] Rd[X.]8 aE; B[X.]E 106, 110 = [X.]-2500 § 106 [X.], Rd[X.]1 mwN). Soweit indessen weder vom L[X.] nicht berücksichtigtes noch bezirksübergreifend einheitlich geltendes Landesrecht betroffen ist, sind dessen Feststellung und Auslegung durch das L[X.] grundsätzlich für das Revisionsgericht verbindlich. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn die Auslegung willkürlich, dh schlechthin nicht nachvollziehbar ist (B[X.] [X.]-2500 § 85 [X.]9 Rd[X.] 6; B[X.] [X.]-2500 § 85 [X.]8 Rd[X.]; B[X.] [X.]-2500 § 69 [X.] Rd[X.]8). Noch nicht abschließend geklärt ist, ob darüber hinausgehend eine Überprüfung daraufhin erfolgen kann, ob das Ergebnis der Auslegung auch ansonsten mit Bundesrecht vereinbar ist, insbesondere ob etwa generelle Auslegungsgrundsätze verkannt worden sind (dafür zB B[X.] [X.]-2500 § 109 [X.] Rd[X.]1 und B[X.] vom [X.] [X.]/09 B - Rd[X.] 8 am Ende; - zurückhaltend B[X.] [X.]-2500 § 69 [X.] Rd[X.]8).

Selbst wenn im Sinne der Ausführungen der Beklagten davon ausgegangen wird, in anderen [X.]-Bezirken bestünden Bestimmungen, die mit § 9 [X.] 9 [X.] inhaltlich identisch sind, und deshalb sei § 9 [X.] 9 [X.] in vollem Umfang bundesgerichtlich überprüfbar, kann ein bundesgerichtlicher Klärungsbedarf nicht festgestellt werden. Die Auslegung von [X.] und L[X.], § 9 [X.] 9 [X.] begründe einen Anspruch auf Erhöhung des [X.] für den Fall einer Praxisschließung ohne Praxisnachfolge im Umfeld und entsprechender Patientenübernahme und diese Bestimmung enthalte keine weitere Voraussetzung - wie zB: deren Lage im selben [X.]-Bezirk -, ist bundesrechtlich nicht zu beanstanden. Dies ergibt sich ohne Weiteres aus den einschlägigen Rechtsvorschriften (unten Rd[X.]3 ff) und findet seine Bestätigung in einem jüngeren Urteil des B[X.] (unten Rd[X.]5):

Aus den gesetzlichen Regelungen über die freie Arztwahl, die nicht auf den [X.]-Bezirk begrenzt ist, in dem der Versicherte wohnt (§ 76 [X.] 1 Satz 1 [X.]B V), in Verbindung mit den Bestimmungen über die Behandlungspflicht des Vertragsarztes, die gegenüber allen Versicherten ohne Differenzierung nach deren Wohnort besteht 95 [X.] 3 Satz 1 und 3 [X.]B V iVm § 13 [X.] Ärzte/§ 13 [X.]), ergibt sich, dass untergesetzliche Rechtsnormen dem Versicherten nicht verwehren dürfen, Ärzte in einem anderen [X.]-Bezirk in Anspruch zu nehmen, und dass diese Ärzte - unabhängig davon, wie weit die Pflicht ihrer [X.] zur Sicherstellung der Versorgung reicht - zu deren Behandlung verpflichtet sind. Daraus folgt weiter, dass die Behandlung von Versicherten aus anderen [X.]-Bezirken nicht durch unzumutbare (Vergütungs-)Regelungen behindert werden darf. Dies schließt zwar nicht aus, dass das Honorar für deren Behandlung in seiner Höhe im Vergleich zum Honorar für Behandlungen der Versicherten des eigenen [X.]-Bezirks maßvoll geringer - oder auch höher - sein darf (zB dadurch, dass für die Honorierung der Behandlung von Versicherten aus anderen [X.]-Bezirken die Vergütungsmaßstäbe des sog Fremdkassenausgleichs zugrunde gelegt werden: vgl zu solchen Fällen B[X.] [X.]-2500 § 85 [X.] Rd[X.] 9 f, 12, und B[X.] vom 9.12.2004 - [X.] [X.] 71/03 R und [X.] [X.] 73/03 R -, jeweils unter [X.], letzter [X.]atz, sowie B[X.] vom 9.12.2004 - [X.] [X.] 83/03 R - unter [X.], letzter [X.]atz). Mit den genannten Regelungen über die freie Arztwahl und mit den Bestimmungen über die umfassende Behandlungspflicht des Vertragsarztes steht es aber nicht in Einklang, wenn in einer Honorarregelung über die Erhöhung des [X.] wegen [X.] nach Schließung einer nahe gelegenen Praxis die Versicherten aus dem anderen [X.]-Bezirk im Gegensatz zu solchen aus dem eigenen nicht berücksichtigt werden.

Ist mithin eine solche Eingrenzung rechtswidrig, so ergibt sich zugleich, dass sie auch nicht in den Tatbestand des § 9 [X.] 9 [X.] hineininterpretiert werden kann. Die Auslegung von [X.] und L[X.] ist mithin zutreffend.

Dieses Ergebnis steht in Übereinstimmung mit der Rechtslage im Zulassungsrecht. So ist nach der Bedarfsplanungs-Richtlinie-Ärzte ([X.]) sowohl für das Bestehen einer Unterversorgung (§ 31 [X.] 1 [X.] [X.]) als auch für das Vorliegen eines zusätzlichen lokalen [X.] (§ 34a [X.] 6 [X.] [X.], eingefügt durch Beschluss des [X.] vom 13.3.2008, BAnz [X.] 80 vom [X.], [X.]) auf den "Ort der tatsächlichen Inanspruchnahme der ärztlichen Leistungen" abzustellen. Daran hat der Senat in seinem jüngsten Urteil zu einer Sonderbedarfszulassung im Zusammenhang mit der Berechnung eines besonderen [X.] angeknüpft: In diesem Urteil ist unter Bezugnahme auf das Recht der Versicherten auf freie Arztwahl (§ 76 [X.] 1 Satz 1 [X.]B V; vgl dazu B[X.]E 105, 10 = [X.]-5520 § 24 [X.], Rd[X.]6 und 50 mwN) ausgeführt, dass für die Ermittlung und Quantifizierung des [X.] kein Raum für ein Herausrechnen "einpendelnder" Patienten ist (B[X.] vom 8.12.2010 - [X.] [X.] 36/09 R - Rd[X.]4 bis 36, zur Veröffentlichung in B[X.]E und [X.] vorgesehen).

Nach alledem ist die Auslegung von [X.] und L[X.] so eindeutig zutreffend, dass kein Bedarf für eine Klärung in einem Revisionsverfahren besteht. Für die Zulassung der Revision ist mithin kein Raum.

2. [X.] beruht auf § 197a [X.] 1 Satz 1 Halbsatz 3 [X.]G iVm einer entsprechenden Anwendung der §§ 154 ff VwGO. Danach trägt die Beklagte die Kosten des von ihr erfolglos geführten Rechtsmittels (§ 154 [X.] 2 VwGO).

Die Festsetzung des Streitwerts hat ihre Grundlage in § 197a [X.] 1 Satz 1 Halbsatz 1 [X.]G iVm § 63 [X.] 2 Satz 1, § 52 [X.] 3, § 47 [X.] 1 und 3 GKG. Die Bemessung des Streitwerts erfolgt entsprechend der Festsetzung des L[X.], die von keinem Beteiligten in Frage gestellt worden ist.

Meta

B 6 KA 74/10 B

23.03.2011

Bundessozialgericht 6. Senat

Beschluss

Sachgebiet: KA

vorgehend SG Berlin, 28. Juni 2006, Az: S 71 KA 172/04, Urteil

§ 76 Abs 1 S 1 SGB 5, § 82 Abs 1 SGB 5, § 85 Abs 4 SGB 5, § 92 Abs 1 S 2 Nr 9 SGB 5, § 95 Abs 3 S 1 SGB 5, § 95 Abs 3 S 3 SGB 5, § 101 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB 5, § 13 BMV-Ä, § 13 EKV-Ä, § 31 Abs 1 Nr 2 ÄBedarfsplRL, § 34a Abs 6 Nr 2 ÄBedarfsplRL vom 03.06.2008

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 23.03.2011, Az. B 6 KA 74/10 B (REWIS RS 2011, 8355)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 8355

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