Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 07.04.2022, Az. 2 B 48/21

2. Senat | REWIS RS 2022, 2402

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Gegenstand

Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes; in sich widersprüchliche Rechtsauffassung des Berufungsgerichts


Leitsatz

Grundsätzlich ist bei der Prüfung, ob dem Berufungsgericht ein Verfahrensfehler unterlaufen ist, von dessen materiell-rechtlicher Rechtsauffassung auszugehen, auch wenn diese inhaltlich nicht zutrifft. Dieser Grundsatz gilt nicht, wenn sich das Berufungsgericht zu der von ihm vertretenen Rechtsauffassung selbst in Widerspruch setzt.

Tenor

Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das [X.] vom 25. August 2021 wird aufgehoben. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 8 134,08 € festgesetzt.

Gründe

1

Die [X.]eschwerde des [X.]eklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass der Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist. Die [X.]eschwerdebegründung rechtfertigt zwar nicht die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO. Es liegt jedoch ein Verfahrensmangel vor, auf dem das [X.]erufungsurteil beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).

2

1. Der 1989 geborene Kläger beansprucht seine Einstellung in den gehobenen Polizeivollzugsdienst als [X.]eamter auf Probe beim beklagten [X.]. Am 1. September 2010 ernannte der [X.]eklagte den Kläger unter [X.]erufung in das [X.]eamtenverhältnis auf Widerruf zum [X.]. Im März 2013 legte der Kläger ein Schriftstück mit der Unterschrift zweier Prüfer vor, in dem dem Kläger bescheinigt wurde, im Januar 2012 einen 3000 m Lauf in 12:55 Minuten erfolgreich absolviert zu haben. Nach [X.]efragung der vermeintlichen Prüfer erstattete das [X.] wegen des Verdachts der Urkundenfälschung und teilte dem Kläger mit, es sei beabsichtigt, ihn wegen erheblicher Zweifel an seiner charakterlichen Eignung aus dem [X.]eamtenverhältnis zu entlassen. Mit [X.]escheid vom 18. Mai 2013 entließ das Polizeipräsidium den Kläger wegen charakterlicher Ungeeignetheit mit Ablauf des 31. Mai 2013 aus dem [X.]eamtenverhältnis auf Widerruf. Vor dem Amtsgericht wurde der Kläger Mitte März 2014 vom Vorwurf der Urkundenfälschung freigesprochen.

3

Die gegen die Entlassungsverfügung vom 18. Mai 2013 erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht erstinstanzlich ab. In der [X.]erufungsverhandlung schlossen die [X.]eteiligten am 8. September 2016 einen Vergleich. In diesem Vergleich verpflichtete sich das [X.] zur Aufhebung der Entlassungsverfügung, um dem Kläger die Gelegenheit zu geben, seine Ausbildung für den gehobenen Polizeivollzugsdienst fortzusetzen und die noch ausstehenden Modulprüfungen abzulegen. Der Kläger verzichtete seinerseits auf eventuelle Ersatzansprüche, die im Zusammenhang mit dem streitigen [X.] stehen sowie auf die Nachentrichtung der [X.]esoldung für die [X.] vom 1. Juni 2013 bis 14. August 2016. Aufgrund dieses Vergleichs konnte der Kläger seine Ausbildung für den gehobenen Polizeivollzugsdienst weiterführen.

4

Nachdem ihm in einem Personalgespräch am 31. Juli 2017 mitgeteilt worden war, dass man ihn für eine Einstellung in das [X.]eamtenverhältnis auf Probe nach Abschluss seiner Ausbildung für charakterlich ungeeignet halte, beantragte der Kläger seine Einstellung in das [X.]eamtenverhältnis auf Probe. Diesen Antrag lehnte der [X.]eklagte mit [X.]escheid vom 25. August 2017 mit der [X.]egründung ab, der Kläger erfülle nicht die Anforderung der charakterlichen Eignung. Zur [X.]egründung verwies das beklagte [X.] auf vier Sachverhalte, die nach seiner Einschätzung exemplarisch die persönliche und charakterliche Ungeeignetheit des [X.] belegten.

5

Der Kläger hat beantragt, das beklagte [X.] unter Aufhebung des ablehnenden [X.]escheids zu verpflichten, ihn als [X.]eamten auf Probe in den gehobenen Polizeivollzugsdienst einzustellen, hilfsweise, das beklagte [X.] zu verpflichten, über seinen Antrag auf Einstellung als [X.]eamter auf Probe in den gehobenen Polizeivollzugsdienst unter [X.]eachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die [X.]erufung des [X.] hat das Oberverwaltungsgericht das Urteil des [X.] geändert und das beklagte [X.] zur Neubescheidung des Antrags des [X.] unter [X.]eachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verpflichtet. Im Übrigen hat es die [X.]erufung des [X.] zurückgewiesen. Zur [X.]egründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:

6

Maßgeblich sei die Sach- und Rechtslage zum [X.]punkt der letzten [X.]ehördenentscheidung, weil das Gericht auf die Überprüfung der zu jenem [X.]punkt vom Dienstherrn getroffenen [X.]eurteilung beschränkt sei. Die vom [X.] im Verfahren vorgetragenen Umstände aus der [X.] nach dem 25. August 2017 seien deshalb nicht zu berücksichtigen. Das Werturteil des beklagten [X.]es über die charakterliche (Nicht-)Eignung des [X.] sei zu beanstanden. Das [X.] habe nicht auf solche Geschehnisse abstellen dürfen, die sich vor dem Abschluss des Vergleichs vom 8. September 2016 ereignet hätten und dem [X.] bekannt gewesen seien. Dies betreffe die Sachverhalte 1, 2 und 3. Auch wenn der Vergleich eine ausdrückliche Vereinbarung darüber, dass die zeitlich vor der Entlassungsverfügung liegenden Ereignisse nicht mehr in [X.]ezug auf die [X.]eurteilung der charakterlichen Eignung des [X.] bei einer erneuten Entlassungs- oder Nichtübernahmeentscheidung herangezogen werden sollten, nicht enthalte, sei durch den Vergleich ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden. Denn das beklagte [X.] habe nicht ausdrücklich zu erkennen gegeben, dass es sich vorbehalte, die charakterliche Nichteignung des [X.] auf die der Entlassungsverfügung vom 18. Mai 2013 zugrunde liegenden Sachverhalte oder die bereits zu diesem [X.]punkt bekannten Sachverhalte 1 bis 3 zu stützen. Der Sachverhalt 4, das [X.]emühen des [X.], einen polizeiärztlichen Untersuchungstermin zu verschieben, lasse unter Heranziehung allgemein gültiger Wertmaßstäbe tragfähige Rückschlüsse auf das Fehlen der Charaktereigenschaften nicht zu. Der weitere Hinweis, Mitarbeiter der Leitung der Ausbildung sowie die in die Ausbildung eingebundenen Mitarbeiter des [X.]esamtes und der [X.] hätten übereinstimmend erhebliche Zweifel an der persönlichen Eignung des [X.] geäußert, beziehe sich wiederum auf Geschehnisse aus der [X.] vor dem [X.] und bleibe darüber hinaus pauschal und inhaltsleer. Es bleibe offen, ob sich Zweifel hinsichtlich der charakterlichen Eignung des [X.] daraus herleiten ließen, dass er bezüglich des [X.], das zu seiner Knieverletzung geführt habe, unterschiedliche Angaben gemacht haben solle. Dieser Umstand bedürfte näherer Aufklärung, ändere aber jedenfalls nichts an der materiellen Rechtswidrigkeit des [X.]escheids.

7

2. Im Hinblick auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen [X.]edeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) ist die [X.]eschwerde unzulässig.

8

Sie genügt nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO, wonach in der [X.]egründung der Nichtzulassungsbeschwerde die grundsätzliche [X.]edeutung der Rechtssache dargelegt werden muss. Das [X.] des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt im Fall des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende [X.]edeutung besteht. Die [X.]eschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. [X.]VerwG, [X.]eschluss vom 19. August 1997 - 7 [X.] 261.97 - [X.] 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14 m.w.N.). Diesen Anforderungen genügt die [X.]eschwerdebegründung nicht.

9

Die [X.]eschwerde formuliert keine konkrete Frage, der nach ihrer Auffassung grundsätzliche [X.]edeutung zukommt. Vielmehr wird im Stile der [X.]egründung eines zulassungsfreien oder bereits zugelassenen Rechtsmittels die inhaltliche Richtigkeit der Sachentscheidung des [X.]erufungsgerichts angegriffen. Die [X.]eschwerde wendet sich insbesondere gegen die das [X.]erufungsurteil tragende Annahme, aus dem Abschluss des Vergleichs vom 8. September 2016 sei zu schließen, dass eine erneute Entlassungs- oder Nichtübernahmeentscheidung des beklagten [X.]es nicht auf die der Entlassungsverfügung vom 18. Mai 2013 zugrunde liegenden Sachverhalte oder auf die bereits zu diesem [X.]punkt bekannten Umstände gestützt werden könne. [X.]ei der richterlichen Auslegung eines Vergleichs dürfe aber lediglich der "Vertragsinhalt", nicht aber der "[X.]" der [X.]eteiligten ergänzt werden. Der maßgebliche [X.] der [X.]eteiligten sei bei dem Abschluss des Vergleichs darauf beschränkt gewesen, eine Regelung für die Fortsetzung des [X.]eamtenverhältnisses auf Widerruf zu treffen. Dem Kläger habe entsprechend § 23 Abs. 4 Satz 2 [X.]eamtStG die Gelegenheit gegeben werden sollen, seinen Vorbereitungsdienst zu beenden. Angriffe gegen die inhaltliche Richtigkeit einer gerichtlichen Entscheidung können ernstliche Zweifel an der Richtigkeit eines Urteils i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO begründen, reichen aber für die Darlegung der grundsätzlichen [X.]edeutung einer Rechtssache i.S.v. § 132 Abs. 2 Nr. 1 und § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO nicht aus (stRspr, vgl. etwa [X.]VerwG, [X.]eschlüsse vom 4. Januar 2017 - 2 [X.] 23.16 - [X.] 11 Art. 140 GG Nr. 91 Rn. 8, vom 2. August 2021 - 2 [X.] 13.21 - Rn. 4 und vom 3. November 2021 - 2 [X.] 39.21 - Rn. 4 ff.).

3. Die Revision ist auch nicht wegen Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zuzulassen.

Eine die Revision eröffnende Divergenz ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die [X.]eschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des [X.]undesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen die Entscheidung des [X.]undesverwaltungsgerichts tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (vgl. [X.]VerwG, [X.]eschluss vom 21. Juni 1995 - 8 [X.] 61.95 - [X.] 310 § 133 VwGO Nr. 18). Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen, die das [X.]undesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt aber nicht den Zulässigkeitsanforderungen einer Divergenzrüge (vgl. [X.]VerwG, [X.]eschluss vom 17. Januar 1995 - 6 [X.] 39.94 - [X.] 421.0 Prüfungswesen Nr. 342 S. 55).

a) Zunächst weicht das [X.]erufungsurteil nicht rechtsgrundsätzlich von den [X.]eschlüssen des Senats vom 25. November 2015 - 2 [X.] 38.15 - und vom 20. Juli 2016 - 2 [X.] 17.16 - ([X.] 232.01 § 9 [X.]eamtStG Nr. 4) ab. In diesen [X.]eschlüssen wird zum Ausdruck gebracht, die [X.]eurteilung der charakterlichen Eignung eines [X.]ewerbers erfordere eine wertende Würdigung aller Aspekte des Verhaltens des [X.]eamten. Die Annahme des [X.], bestimmte Umstände seien bei der [X.]ewertung der charakterlichen Eignung des [X.] nicht zu berücksichtigen, beruht nicht auf der generellen Ansicht des [X.]erufungsgerichts, es seien nicht alle Aspekte des Verhaltens eines [X.]ewerbers einzubeziehen, sondern auf der [X.]esonderheit des am 8. September 2016 abgeschlossenen Vergleichs. Dieser Vergleich steht nach Einschätzung des [X.] der [X.]erücksichtigung von bestimmten Sachverhalten entgegen.

b) Aus diesem Grund scheidet auch die Annahme einer rechtssatzmäßigen Abweichung des [X.]erufungsurteils von den Urteilen des [X.]undesverwaltungsgerichts vom 27. November 1980 - 2 C 38.79 - [X.]VerwGE 61, 176, vom 28. November 1980 - 2 C 24.78 - [X.]VerwGE 61, 200 und vom 9. Juni 1981 - 2 C 48.78 - [X.]VerwGE 62, 267 aus. Diesen Entscheidungen kann der Rechtssatz entnommen werden, auch Vorkommnisse, die sich vor der erstmaligen [X.]egründung des [X.]eamtenverhältnisses ereignet haben, können für die [X.]eurteilung der charakterlichen Eignung eines [X.]ewerbers relevant sein. Dem widerspricht das angegriffene [X.]erufungsurteil aber nicht. Es stellt entscheidungstragend auf den am 8. September 2016 abgeschlossenen Vergleich ab, der nach Auffassung des [X.] eine zeitliche Zäsur in dem Sinne darstellt, dass das [X.] für die Annahme der Nichteignung des [X.] nicht mehr auf solche Geschehnisse abstellen darf, die sich vor dem Abschluss des Vergleichs am 8. September 2016 ereignet haben und dem [X.] bekannt waren.

c) Auch in [X.]ezug auf die Zulässigkeit des [X.] von Gründen, d.h. die [X.]erücksichtigung von Ereignissen aus den Jahren 2019 und 2020 für die [X.]eurteilung der charakterlichen Eignung des [X.], liegt keine Divergenz i.S.v. § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO vor.

Das Oberverwaltungsgericht ist von der Rechtsprechung des [X.]undesverwaltungsgerichts ausgegangen, wonach neue Gründe für einen Verwaltungsakt nur nachgeschoben werden dürfen, wenn sie schon bei Erlass des Verwaltungsakts vorlagen, dieser nicht in seinem Wesen verändert und der [X.]etroffene nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt wird ([X.]VerwG, Urteile vom 14. Oktober 1965 - 2 C 3.63 - [X.]VerwGE 22, 215 <218>, vom 16. Juni 1997 - 3 C 22.96 - [X.]VerwGE 105, 55 <59> und vom 29. Januar 2001 - 11 C 3.00 - [X.] 401.64 § 6 [X.] Nr. 3 S. 6). Im Zweifel steht danach lediglich, ob das [X.]erufungsgericht diese Grundsätze zutreffend auf den konkreten Sachverhalt angewendet hat. Diese Frage begründet aber, wie oben dargelegt, nicht die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO.

d) Unter II 4 der [X.]eschwerdebegründung wird die inhaltliche Richtigkeit des [X.]erufungsurteils wegen der dortigen Heranziehung des [X.]eschlusses des [X.] vom 27. September 2017 - 6 [X.] 977/17 - infrage gestellt; eine rechtsgrundsätzliche Abweichung des Urteils des [X.] von der Rechtsprechung des [X.]undesverwaltungsgerichts wird aber nicht dargelegt.

4. [X.]egründet ist dagegen die Verfahrensrüge nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, das Oberverwaltungsgericht habe gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 VwGO) verstoßen. Denn das [X.]erufungsgericht hat in [X.]ezug auf die Frage, ob die Entscheidung des beklagten [X.]es hinsichtlich der charakterlichen Eignung des [X.] auch in Anerkennung des dem Dienstherrn zustehenden [X.]eurteilungsspielraums rechtlich zu beanstanden ist, auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage geurteilt.

a) Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die Sachverhalts- und [X.]eweiswürdigung einer Tatsacheninstanz ist der [X.]eurteilung des [X.] nur insoweit unterstellt, als es um Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geht. [X.] ist damit nicht das Ergebnis der [X.]eweiswürdigung, sondern nur ein Verfahrensvorgang auf dem Weg dorthin. Derartige Mängel liegen insbesondere vor, wenn das angegriffene Urteil von einem falschen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht, d.h. etwa entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht ([X.]VerwG, [X.]eschlüsse vom 13. Februar 2012 - 9 [X.] 77.11 - [X.] 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 73 Rn. 7, vom 21. Mai 2013 - 2 [X.] 67.12 - juris Rn. 18 und vom 23. Dezember 2015 - 2 [X.] 40.14 - Rn. 53 m.w.N.). Das Gericht darf nicht in der Weise verfahren, dass es einzelne erhebliche Tatsachenfeststellungen oder [X.]eweisergebnisse nicht in die rechtliche Würdigung einbezieht, insbesondere Umstände übergeht, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen. In solchen Fällen fehlt es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die innere Überzeugungsbildung des Gerichts, auch wenn die darauf basierende rechtliche Würdigung als solche nicht zu beanstanden ist ([X.]VerwG, Urteile vom 2. Februar 1984 - 6 C 134.81 - [X.]VerwGE 68, 338 <339> und vom 5. Juli 1994 - 9 [X.] - [X.]VerwGE 96, 200 <208 f.>; [X.]eschlüsse vom 18. November 2008 - 2 [X.] 63.08 - [X.] 235.1 § 17 [X.]DG Nr. 1 Rn. 27, vom 31. Oktober 2012 - 2 [X.] 33.12 - NVwZ-RR 2013, 115 Rn. 12 und vom 20. Dezember 2013 - 2 [X.] 35.13 - [X.] 235.1 § 13 [X.]DG Nr. 21 Rn. 19).

b) Hinsichtlich des "Sachverhalt 4" hat das Oberverwaltungsgericht gegen § 108 Abs. 1 VwGO verstoßen. Es hat nur Teile dieses Komplexes rechtlich gewürdigt - "Versuch der Verschiebung eines Termins für eine ärztliche Untersuchung" und "[X.]ewertung des [X.] durch Mitarbeiter von Polizeibehörden" -, hat aber den gravierenden Teil der Vorwürfe - "unterschiedliche Darstellung eines Geschehens im Rahmen eines Dienstunfallverfahrens" - weder aufgeklärt noch rechtlich gewürdigt, sondern lediglich eine Einschätzung angedeutet.

Aufgrund der Verweisung im [X.]erufungsurteil auf den Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils ([X.]) ist in [X.]ezug auf den "Sachverhalt 4" nach § 137 Abs. 2 VwGO von folgendem Inhalt auszugehen:

"Sachverhalt 4: Der Kläger habe sich einer vom Dienstherrn am 6. Februar 2017 angeordneten amtsärztlichen Untersuchung vom 13. Februar 2017, die aufgrund eines - angeblichen - Dienstunfalls des [X.] und der sich daran anschließenden Prüfung seiner Dienstfähigkeit durchzuführen war, aus privaten Gründen entziehen wollen. Der Versuch, private über dienstliche Interessen stellen zu wollen, begründe ebenfalls die charakterliche Ungeeignetheit des [X.]. Im Rahmen des Dienstunfallverfahrens habe der Kläger darüber hinaus Dinge anders als in der Vergangenheit dargestellt und damit erhebliche Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit begründet.

Zudem habe die KP[X.] G... dem [X.] mitgeteilt, dass seitens der in der [X.] [X.]eamten die [X.]edenken bestünden, dass Konflikte mit dem Kläger von Anfang an vorprogrammiert seien und selbst durch intensive Arbeit der Führungskräfte nicht zu lösen seien. In einer Gesamtschau aller Umstände sei daher die persönliche und charakterliche Ungeeignetheit des [X.] festzustellen."

[X.]ei der rechtlichen Würdigung dieses "Sachverhalts 4" hat sich das Oberverwaltungsgericht auf die Teilaspekte der "versuchten Terminsverschiebung" sowie der "[X.]ewertung des [X.] durch Mitarbeiter der KP[X.] G..." beschränkt ([X.]1 f. unter 2. und 3.). Das davon zu trennende Vorbringen des beklagten [X.]es, die charakterliche Ungeeignetheit des [X.] zeige sich - exemplarisch - auch daran, dass er im Rahmen eines Dienstunfallverfahrens Dinge anders als in der Vergangenheit darstelle, hat das [X.]erufungsgericht nicht vergleichbar behandelt ([X.]3 unter 4.). Das Oberverwaltungsgericht hat ausdrücklich auf die nähere Aufklärung des [X.] verzichtet, das beim Kläger zu einer Knieverletzung geführt hat, obwohl es dem Vorbringen des [X.]eklagten, der Kläger stelle im Rahmen des Dienstunfallverfahrens nunmehr die Dinge anders dar als in der Vergangenheit, [X.]edeutung für die [X.]ewertung der Glaubwürdigkeit des [X.] beigemessen hat. Denn es hat auch ausgeführt, es erschiene allerdings "bedenklich", wenn sich feststellen ließe, dass der Kläger einen Schlag von innen auf das Knie erst behauptet habe, als klar gewesen sei, dass dies für die Anerkennung als Dienstunfall von [X.]edeutung sein könnte.

c) Zwar ist nach dem Wortlaut des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ("beruhen kann") bei der Prüfung, ob dem [X.]erufungsgericht ein Verfahrensfehler unterlaufen ist, von dessen materiell-rechtlicher Rechtsauffassung auszugehen, auch wenn diese einer Nachprüfung nicht standhalten sollte ([X.]VerwG, Urteil vom 9. Dezember 2010 - 10 C 13.09 - [X.]VerwGE 138, 289 Rn. 17 m.w.N. und [X.]eschluss vom 25. August 2015 - 1 [X.] 40.15 - [X.] 402.25 § 3 AsylVfG Nr. 19 Rn. 16). Dieser Grundsatz ist nicht anwendbar, wenn eine Rechtsauffassung des [X.]erufungsgerichts, wie hier, nicht erkennbar ist, weil sich das [X.]erufungsgericht in sich widersprüchlich verhält.

aa) Die Argumentation des [X.]erufungsgerichts ist durch zwei Überlegungen gekennzeichnet, denen der Senat jeweils nicht folgt.

Den Vergleich vom 8. September 2016 legt das Oberverwaltungsgericht dahin aus, dass das beklagte [X.] die negative Entscheidung über die charakterliche Eignung des [X.] nicht auf solche Geschehnisse stützen darf, die sich vor dem Abschluss dieses Vergleichs ereignet haben und ihm bekannt waren (Sachverhalte 1, 2 und 3 des [X.]escheids vom 25. August 2017). Ausgehend vom Anlass des gerichtlichen Verfahrens und nach seinem Wortlaut beschränkt sich der Vergleich aber ersichtlich auf das [X.]eamtenverhältnis auf Widerruf. Dem Kläger sollte entsprechend § 23 Abs. 4 Satz 2 [X.]eamtStG die Möglichkeit eröffnet werden, den Vorbereitungsdienst erfolgreich zu beenden. [X.]edeutung für andere, später anstehende Entscheidungen über die - auch charakterliche - Eignung des [X.] in dem Sinne, dass bestimmte Verhaltensweisen des [X.] oder Geschehnisse diesem nicht mehr entgegengehalten werden können, könnte dem Vergleich nur beigemessen werden, wenn sich in seinem Wortlaut entsprechende Hinweise finden ließen. Dies ist hier aber nicht der Fall.

Ferner nimmt das Oberverwaltungsgericht an, die vom Dienstherrn getroffene Entscheidung über die charakterliche Eignung sei insgesamt nicht mehr von hinreichenden Erwägungen gestützt und daher fehlerhaft, wenn bereits eine die Prognoseentscheidung (mit)tragende Erwägung - wie hier in [X.]ezug auf die Sachverhalte 1, 2, 3 und 4 - entfalle. Etwas anderes gelte nur, wenn die [X.]ehörde zum Ausdruck gebracht habe, dass bereits eine einzelne Erwägung tragend sei ([X.]3). Auch diese Rechtsauffassung ist nicht haltbar. Denn es handelt sich nach der Vorstellung des [X.]eklagten - wiederum aufgrund des Verweises auf den Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils - lediglich um Sachverhalte, die exemplarisch die persönliche und charakterliche Ungeeignetheit des [X.] belegen sollen. Der Verweis auf die [X.]edeutung als bloßes [X.]eispiel verdeutlicht die Vorstellung des beklagten [X.]es, dem insoweit ein [X.]eurteilungsspielraum zukommt, dass die Schlussfolgerung der charakterlichen Ungeeignetheit des [X.] keinesfalls nur dann gelten soll, wenn jeder dieser vier Lebenssachverhalte tatsächlich zutrifft und damit gerade aus der Gesamtheit der vier Lebenssachverhalte resultiert.

bb) Für den Gesichtspunkt der für einen Verfahrensfehler maßgeblichen Rechtsauffassung des [X.]erufungsgerichts ist aber ausschlaggebend, dass das Oberverwaltungsgericht seine vorstehend dargestellte Rechtsansicht - ungeachtet ihrer (Un-)Richtigkeit - nicht konsequent durchgehalten hat, sondern ihr zuwider vorgegangen ist. Damit kann diese Rechtsauffassung bei der Prüfung der Frage, ob das [X.]erufungsurteil auf dem Verstoß gegen § 108 Abs. 1 VwGO i.S.v. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO beruhen kann, nicht zugrunde gelegt werden.

Der Rechtsauffassung des [X.]erufungsgerichts ([X.]3 f.) hätte es entsprochen, die verschiedenen Elemente des Sachverhalts 4, die sämtlich nach dem Abschluss des Vergleichs vom 8. September 2016 liegen, nicht mehr im Einzelnen zu werten. Denn wenn das Entfallen auch nur einer der die Prognoseentscheidung (mit)tragenden Erwägungen zur Fehlerhaftigkeit der Entscheidung über die charakterliche Eignung des [X.] geführt haben soll, hätte es der Würdigung der [X.]edeutung eines Teils des Sachverhalts 4 nicht mehr bedurft. Aufgrund der Annahme des [X.]erufungsgerichts zur Irrelevanz der Sachverhalte 1, 2 und 3 wegen der mit dem Vergleich vom 8. September 2016 verbundenen zeitlichen Zäsur wäre bereits von der Rechtswidrigkeit der Prognoseentscheidung des beklagten [X.]es auszugehen gewesen.

Stattdessen hat das [X.]erufungsgericht zwar die Teilelemente des Sachverhalts 4 "versuchte Terminsverschiebung" und "Einschätzung der Person des [X.] durch Mitarbeiter der KP[X.] G..." im Hinblick auf die Frage der charakterlichen Eignung des [X.] gewürdigt ([X.]1 f. unter 2. und 3.), hat aber das weitere Element der - unter Umständen - interessengeleiteten Angaben des [X.] im Rahmen eines Dienstunfallverfahrens trotz der erkannten [X.]edeutung für die charakterliche Eignung eines [X.]ewerbers weder aufgeklärt noch abschließend bewertet.

5. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 GKG.

Meta

2 B 48/21

07.04.2022

Bundesverwaltungsgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 25. August 2021, Az: 6 A 383/20, Urteil

§ 108 Abs 1 VwGO, § 132 Abs 2 Nr 3 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 07.04.2022, Az. 2 B 48/21 (REWIS RS 2022, 2402)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 2402

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