Bundesfinanzhof, Urteil vom 14.12.2011, Az. XI R 5/10

11. Senat | REWIS RS 2011, 416

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Gegenstand

Zur Schätzungsbefugnis bei Buchführungsmängeln - Inhalt der Entscheidungsgründe


Leitsatz

1. NV: Bei der Beurteilung eines Buchführungsfehlers ist nicht auf die formale Bedeutung des Mangels, sondern auf dessen sachliches Gewicht abzustellen .  

2. NV: Formelle Buchführungsmängel berechtigen nur zur Schätzung, soweit sie Anlass geben, die sachliche Richtigkeit des Buchführungsergebnisses anzuzweifeln .  

3. NV: Ist eine Buchführung wegen Buchführungsmängeln ganz oder teilweise nicht der Besteuerung zugrunde zu legen, sind die Besteuerungsgrundlagen grundsätzlich zu schätzen. Eine Schätzung scheidet allerdings aus, wenn die durch die Fehler der Buchführung verursachten Unklarheiten und Zweifel durch anderweitige zumutbare Ermittlungen beseitigt werden können .  

4. NV: Die Pflicht zur Aufbewahrung von Unterlagen setzt stets eine Aufzeichnungspflicht voraus und besteht grundsätzlich nur im Umfang der Aufzeichnungspflicht. Dies gilt auch für § 147 Abs. 1 Nr. 5 AO, wonach sonstige Unterlagen aufzubewahren sind, soweit sie zum Verständnis und zur Überprüfung der für die Besteuerung gesetzlich vorgeschriebenen Aufzeichnungen im Einzelfall von Bedeutung sind .

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betrieb im Dienstgebäude der [X.] in [X.] eine [X.]. Seinen Gewinn ermittelte er nach § 4 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes. Von den im Streitjahr 2001 ausgeführten Umsätzen bezeichnete er einen Anteil von 53,19 % als zum ermäßigten Steuersatz zu besteuernde "[X.]".

2

[X.] führte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --[X.]--) bei dem Kläger eine Betriebsprüfung durch. Im Bericht vom 14. Oktober 2003 führte die Prüferin unter [X.]. 5 zur steuerlichen Beurteilung der Buchführung aus:

3

"Die Prüfung ergab Feststellungen, die gegen die Ordnungsmäßigkeit der Buchführung sprechen.

4

Die Ergebnisse der Buchführung können unter Berücksichtigung der in den nachfolgenden [X.] behandelten Änderungen der Besteuerung zugrunde gelegt werden."

5

Unter [X.]. 6 werden als Mängel der Buchführung angeführt:

6

"In der jährlichen Bestandsaufnahme wurde nicht das Verpackungsmaterial (Pappteller, Pappschalen, Einschlagpapier usw.) erfasst.

7

Desweiteren wurden keine Speise- und Getränkekarten vorgelegt."

8

Weitere Feststellungen, die gegen die Ordnungsmäßigkeit der Buchführung sprechen, enthält der Bericht nicht. Unter [X.]. 14 nahm die Prüferin "nach Zusammenstellung des betrieblichen Datenmaterials ... eine Umverteilung der 7%igen und der 16%igen USt-Erlöse für Speisen und Getränke" vor. Bei durchschnittlich 361 Gästen täglich an 260 Arbeitstagen und einem täglichen Durchschnittsverzehr von 5,11 DM, hätten --ausgehend von dem vom Kläger genannten Anteil der ermäßigt zu versteuernden Umsätze von 53,19 %-- 49 920 "[X.]" im Kalenderjahr stattfinden müssen. Das im Jahr 2001 eingekaufte Verpackungsmaterial habe aber weit unter dem gelegen, was für so viele Verkäufe benötigt worden wäre.

9

Das [X.] ging daraufhin in dem geänderten Umsatzsteuerbescheid für 2001 vom 5. Februar 2004 von einem Anteil von 27 % der "[X.]" aus. Der dagegen eingelegte Einspruch, in dem der Kläger u.a. vortrug, der erklärte Anteil der "[X.]" entspreche dem der Vorpächter der [X.], hatte keinen Erfolg. In der Einspruchsentscheidung vom 3. Mai 2005 wird u.a. ausgeführt, die Übertragung der Kassenbons in das Kassenbuch sei "nicht identisch" erfolgt. Zum Beispiel seien am 2. und 3. Januar 2001 auf den Kassenbons sämtliche Umsätze als "[X.]" registriert worden, während im Kassenbuch eine Aufteilung in "[X.]" und "[X.]"-Umsätze erfolgt sei. Am 30. Oktober 2001 seien nach der Registrierkasse Umsätze zu 7 % in Höhe von 373,70 DM und zu 16 % in Höhe von 1.908,70 DM getätigt worden. Im Kassenbuch seien vom Kläger für diesen Tag Umsätze zu 7 % in Höhe von 1.100 DM und zu 16 % in Höhe von 1.182,10 DM erklärt worden.

Im Rahmen des sich anschließenden Klageverfahrens trug das [X.] in der Klageerwiderung vom 11. August 2005 u.a. vor, derartige Abweichungen bei der Gegenüberstellung der Kassenbons mit den jeweiligen Eintragungen im Kassenbuch habe es an 25 Arbeitstagen gegeben. Weiter machte das [X.] geltend, die Aufzeichnungen der Barausgaben seien nicht im zeitlichen Ablauf erfasst worden. Die Kassenaufzeichnungen hätten nicht den Abgleich des tatsächlichen Kassenbestands mit dem des buchmäßigen Kassenbestands (Kassenbuch) ermöglicht. Bei einer täglichen Abgleichung des [X.] wäre aufgefallen, dass die zu vergleichenden Kassenbestände voneinander abwichen.

Das Finanzgericht ([X.]) gab der Klage statt. Es ließ offen, ob die Buchführung des Klägers formell nicht ordnungsgemäß sei, weil er das Verpackungsmaterial nicht in den jährlichen Bestandsaufnahmen erfasst und die Speise- und Getränkekarten nicht aufbewahrt habe. Denn selbst eine formelle Ordnungswidrigkeit der Buchführung würde das [X.] noch nicht zur Durchführung einer Schätzung berechtigen. Eine solche erfordere stets Anzeichen für eine sachliche Fehlerhaftigkeit der Buchführung. Hierzu habe das [X.] aber keine ausreichenden Feststellungen getroffen. Die Grundlagen der anhand des Verpackungsmaterials vorgenommenen Schätzung des [X.] seien nicht hinreichend substantiiert und vom Kläger in nachvollziehbarer Weise angegriffen worden.

Mit seiner Revision trägt das [X.] vor, die Vorentscheidung verstoße gegen die §§ 162 und 146 der Abgabenordnung ([X.]). Neben der fehlenden jährlichen Bestandsaufnahme des Verpackungsmaterials und der Nichtvorlage der Speise- und Getränkekarten habe das [X.] in der Einspruchsentscheidung und im Klageabweisungsantrag vom 11. August 2005 auf die nicht identische Übertragung von mehreren Kassenbons in das Kassenbuch und auf die nicht im zeitlichen Ablauf erfassten Barausgaben hingewiesen sowie auf die mangelnde Kassensturzfähigkeit. Dies begründe auch Zweifel an der sachlichen Richtigkeit der Buchführung. Das [X.] hätte unter Zugrundelegung des Akteninhalts die Missstände in der Buchführung feststellen und die Buchführung als weder formell noch sachlich ordnungsgemäß verwerfen müssen.

Außerdem habe das [X.] verkannt, dass die Abgabe von Speisen und Getränken zum Verzehr auf dem Gelände auf Grund des räumlichen Zusammenhangs eine Abgabe zum Verzehr an Ort und Stelle i.S. des § 3 Abs. 9 Satz 5 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) darstelle, die als sonstige Dienstleistung nicht dem nur für bestimmte Lieferungen geltenden ermäßigten Steuersatz unterfallen könne.

Das [X.] beantragt,
die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der nicht durch einen Prozessbevollmächtigten vertretene Kläger verweist auf seine bereits früher gegenüber dem [X.] und dem [X.] abgegebenen Stellungnahmen.

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Das [X.] hat nicht beachtet, dass es sich von dem Vorliegen oder Nichtvorliegen der für die Entscheidung erheblichen Tatsachen eine Überzeugung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 [X.]O) bilden musste. Es hat ferner den Vortrag des [X.] nicht berücksichtigt, dass [X.] nicht im zeitlichen Ablauf erfasst und Kassenbons nicht identisch in das Kassenbuch übertragen worden seien und die Kassensturzfähigkeit nicht gewährleistet gewesen sei.

1. Die Finanzbehörde hat die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, soweit sie diese nicht ermitteln oder berechnen kann (§ 162 Abs. 1 Satz 1 [X.]). Zu schätzen ist insbesondere dann, wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine ausreichende Aufklärung zu geben vermag oder weitere Auskunft oder eine Versicherung an Eides statt verweigert oder seine Mitwirkungspflicht nach § 90 Abs. 2 [X.] verletzt (§ 162 Abs. 2 Satz 1 [X.]). Das Gleiche gilt u.a. dann, wenn der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegen kann oder wenn die Buchführung oder die Aufzeichnungen der Besteuerung nicht nach § 158 [X.] zugrunde gelegt werden können (§ 162 Abs. 2 Satz 2 [X.]).

a) Nach § 158 [X.] sind der Besteuerung die Buchführung und die Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen, die den Vorschriften der §§ 140 bis 148 [X.] entsprechen, zugrunde zu legen, soweit nach den Umständen des Einzelfalls kein Anlass besteht, ihre sachliche Richtigkeit zu beanstanden. Eine formell ordnungsmäßige Buchführung hat die Vermutung der sachlichen Richtigkeit für sich (vgl. z.B. Urteil des [X.] --[X.]-- vom 22. August 1985 IV R 29-30/84, [X.] 1986, 719; [X.] vom 13. Juli 2010 V B 121/09, [X.] 2010, 2015, unter 1.a).

Die Buchungen und die sonst erforderlichen Aufzeichnungen sind vollständig, richtig, zeitgerecht und geordnet vorzunehmen (§ 146 Abs. 1 Satz 1 [X.]). Kasseneinnahmen und [X.] sollen überdies täglich festgehalten werden (§ 146 Abs. 1 Satz 2 [X.]). Kassenaufzeichnungen müssen so beschaffen sein, dass ein Buchsachverständiger jederzeit in der Lage ist, den [X.] mit dem Istbestand der [X.] zu vergleichen (vgl. [X.]-Urteil vom 20. September 1989 [X.], [X.], 301, [X.] 1990, 109, unter 1., m.w.N.). Das Kassenbuch ist wesentlicher Teil der Buchführung, zumal wenn der Steuerpflichtige nach der Art seines Unternehmens vorwiegend Bargeschäfte tätigt (vgl. [X.]-Urteil vom 20. Juni 1985 IV R 41/82, [X.] 1985, 12).

Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 UStG ist der Unternehmer verpflichtet, zur Feststellung der Steuer und der Grundlagen ihrer Berechnung Aufzeichnungen zu machen. Dabei ist u.a. ersichtlich zu machen, wie sich die Entgelte auf die steuerpflichtigen Umsätze, getrennt nach Steuersätzen, und auf die steuerfreien Umsätze verteilen (§ 22 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 UStG).

b) Ergibt die Würdigung des Sachverhalts, dass eine formell ordnungsmäßige Buchführung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ganz oder teilweise sachlich unrichtig ist, so kann das Ergebnis dieser Buchführung ganz oder teilweise verworfen werden. Die objektive Beweislast für die hierfür maßgeblichen steuererhöhenden Tatsachen trägt das [X.] (vgl. z.B. [X.]-Urteil vom 24. Juni 1997 VIII R 9/96, [X.] 183, 358, [X.] 1998, 51, unter 1.a).

c) Für die Prüfung der formellen Ordnungsmäßigkeit der Buchführung ist das Gesamtbild aller Umstände im Einzelfall maßgebend (vgl. z.B. [X.] in Tipke/[X.], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 158 [X.], Rz 13). Formelle [X.] berechtigen nur zur Schätzung, soweit sie Anlass geben, die sachliche Richtigkeit des Buchführungsergebnisses anzuzweifeln (vgl. [X.]-Urteile vom 17. November 1981 VIII R 174/77, [X.]E 135, 11, [X.] 1982, 430; vom 26. Oktober 1994 [X.], [X.] 1995, 373, und vom 7. Juni 2000 III R 82/97, [X.] 2000, 1462; [X.] vom 9. Januar 2008 [X.], Zeitschrift für Steuern und Recht 2008, [X.]; [X.] in Tipke/[X.], a.a.[X.], § 158 [X.] Rz 23, m.w.N.). Ob ggf. nur unwesentliche formelle [X.] vorliegen, unterliegt den Regeln der freien Beweiswürdigung (vgl. Trzaskalik in [X.]/ [X.]/[X.] --[X.]--, § 158 [X.] Rz 3).

d) Ist eine Buchführung ganz oder teilweise nicht nach § 158 [X.] der Besteuerung zugrunde zu legen, sind die Besteuerungsgrundlagen grundsätzlich nach § 162 Abs. 2 Satz 2 [X.] zu schätzen. Eine Schätzung scheidet allerdings dann aus, wenn die durch die Fehler der Buchführung verursachten Unklarheiten und Zweifel durch anderweitige zumutbare Ermittlungen beseitigt werden können. Im Rahmen einer solchen Ermittlung der tatsächlichen Verhältnisse richten sich die Anforderungen an die nötigen Beweise und die Beweislast nach den allgemein geltenden Grundsätzen (vgl. [X.]-Urteil in [X.]E 183, 358, [X.] 1998, 51).

e) Die Schätzungsgrundlagen müssen von der Finanzbehörde so dargelegt werden, dass ihre Nachprüfung möglich ist. Das zahlenmäßige Ergebnis der Schätzung muss auf Schlüssigkeit hin kontrollierbar sein [X.]/Rüsken, [X.], 10. Aufl., § 162 Rz 53; [X.] in Tipke/[X.], a.a.[X.], § 162 [X.] Rz 96, m.w.N.; [X.] in [X.], [X.] § 162 Rz 167; wohl auch [X.] in [X.], § 121 [X.] Rz 93, m.w.N.). Eine vom [X.] vorgenommene Schätzung wird vom [X.] in vollem Umfang überprüft und ggf. durch eine eigene Schätzung ersetzt (vgl. z.B. [X.]-Urteil vom 19. Februar 1987 IV R 143/84, [X.]E 149, 121, [X.] 1987, 412, unter 2.).

2. Nach diesen Grundsätzen durfte es das [X.] nicht offenlassen, ob die formelle Ordnungsmäßigkeit der Buchführung ganz oder teilweise aus den vom [X.] geltend gemachten Gründen zu verneinen ist.

a) Soweit das [X.] vorträgt, der Kläger habe entgegen der aus § 147 Abs. 1 Nr. 5 [X.] folgenden Aufbewahrungspflicht keine Speise- und Getränkekarten aufbewahrt, ist allerdings zu beachten, dass der sachliche Umfang der Aufbewahrungspflicht in § 147 Abs. 1 [X.] grundsätzlich durch die Reichweite der zugrunde liegenden Aufzeichnungspflicht begrenzt wird.

aa) Die Pflicht zur Aufbewahrung von Unterlagen gemäß § 147 Abs. 1 [X.] ist akzessorisch. Das heißt, sie setzt stets eine Aufzeichnungspflicht voraus und besteht grundsätzlich nur im Umfang der Aufzeichnungspflicht. Eine eigenständige Pflicht zur Aufbewahrung von Unterlagen, die nicht mit einer Pflicht zur Aufzeichnung von Daten in Zusammenhang stehen, ist § 147 Abs. 1 [X.] nicht zu entnehmen. Durch die Abhängigkeit der Aufbewahrungspflicht von einer im Gesetz angeordneten Aufzeichnungspflicht wird der Umfang der aufzubewahrenden Unterlagen sachgemäß begrenzt. Diese Beschränkung trägt dem Erfordernis hinreichender Bestimmtheit der in § 147 Abs. 1 [X.] geregelten Aufbewahrungspflicht ebenso Rechnung wie der von [X.] wegen geforderten Verhältnismäßigkeit der Norm (vgl. [X.]-Urteil vom 24. Juni 2009 VIII R 80/06, [X.]E 225, 302, [X.] 2010, 452, unter [X.] cc, m.w.N.).

bb) Dies gilt auch für § 147 Abs. 1 Nr. 5 [X.], wonach sonstige Unterlagen aufzubewahren sind, "soweit sie für die Besteuerung von Bedeutung sind".

Zwar lässt der weite Wortlaut der Vorschrift die Deutung zu, dass nach ihr ohne Rücksicht auf eine Aufzeichnungpflicht sämtliche für die Besteuerung bedeutsamen Unterlagen aufzubewahren sind. Dementsprechend hat das [X.] München im Urteil vom 29. Oktober 2009  15 K 219/07 (Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 10) ohne nähere Begründung im dortigen Streitfall angenommen, durch die [X.] habe der Kläger gegen § 147 Abs. 1 Nr. 5 [X.] verstoßen.

§ 147 Abs. 1 Nr. 5 [X.] ist aber unter Berücksichtigung der generellen Akzessorietät der Aufbewahrungspflicht im Lichte der im Einzelfall jeweils bestehenden gesetzlichen Aufzeichnungspflichten einschränkend auszulegen. Danach müssen bei einer abstrakten Bestimmung der Reichweite der gesetzlichen Aufbewahrungspflicht nach § 147 Abs. 1 Nr. 5 [X.] nur solche sonstigen, also nicht unter § 147 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 4a [X.] fallenden, Unterlagen aufbewahrt werden, die zum Verständnis und zur Überprüfung der für die Besteuerung gesetzlich vorgeschriebenen Aufzeichnungen im Einzelfall von Bedeutung sind (vgl. [X.]-Urteil in [X.]E 225, 302, [X.] 2010, 452, unter [X.] cc, m.w.N.).

b) Zutreffend rügt das [X.], dass das [X.] wesentlichen, bereits in der vom [X.] in Bezug genommenen Einspruchsentscheidung und im Schriftsatz vom 11. August 2005 vorgetragenen Sachverhalt unberücksichtigt gelassen und damit gegen seine Pflicht verstoßen habe, sein Urteil auf das Gesamtergebnis des Verfahrens zu stützen (§ 96 Abs. 1 Satz 1 [X.]O).

aa) Das [X.] hat in der Einspruchsentscheidung sowie in der Klageerwiderung auf die "nicht identische" Übertragung mehrerer Kassenbons in das Kassenbuch durch den Kläger und darauf hingewiesen, die Aufzeichnungen der [X.] seien nicht im zeitlichen Ablauf erfasst worden. Die Kassenaufzeichnungen hätten nicht den Abgleich des tatsächlichen Kassenbestands mit dem des buchmäßigen Kassenbestands (Kassenbuch) ermöglicht. Mit diesem für die Frage der formellen Ordnungsmäßigkeit der Buchführung maßgeblichen Vortrag hat sich das [X.] nicht erkennbar auseinandergesetzt, denn es hat sich in den Entscheidungsgründen weder mit der Verbuchung der Bareinnahmen noch mit der Führung des Kassenbuchs befasst.

bb) Zwar ist das [X.] nicht gehalten, sich mit jedem Vorbringen der Beteiligten in der Entscheidung ausdrücklich auseinanderzusetzen. Vielmehr ist im Allgemeinen davon auszugehen, dass ein Gericht auch denjenigen Akteninhalt in Erwägung gezogen hat, mit dem es sich in den schriftlichen Entscheidungsgründen nicht ausdrücklich auseinandergesetzt hat (vgl. z.B. [X.]-Beschlüsse vom 3. Juni 2003 [X.]102/02, [X.] 2003, 1209; vom 1. April 2008 [X.]154/04, [X.] 2008, 1116, unter II.3., m.w.N.). Zumindest die wesentlichen der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dienenden Tatsachen und Rechtsausführungen müssen jedoch in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden (vgl. z.B. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 119 Rz 10a).

Zu diesen wesentlichen Umständen gehört im Streitfall insbesondere auch die Feststellung, ob der Kläger seiner Pflicht, Kasseneinnahmen und [X.] vollständig, richtig, zeitgerecht und geordnet aufzuzeichnen und die Kasseneinnahmen und [X.] täglich festzuhalten, nachgekommen ist. Zumal wenn --wie hier-- vorwiegend Bargeschäfte getätigt worden sind, können Mängel in der Kassenbuchführung der gesamten Buchführung die Ordnungsmäßigkeit nehmen (vgl. [X.]-Urteil vom 21. Februar 1990 [X.], [X.] 1990, 683). Dies gilt umso mehr im vorliegenden Fall, in dem die Aufzeichnungen zugleich dazu dienten, die Umsätze entsprechend § 22 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 UStG nach unterschiedlichen Steuersätzen aufzuteilen.

3. Die Vorentscheidung war daher aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif. Das [X.] wird im zweiten Rechtsgang den Einwänden des [X.] gegen die Kassenaufzeichnungen des [X.] nachgehen und prüfen, inwieweit die Speise- und Getränkekarten zum Verständnis und zur Überprüfung der für die zutreffende Umsatzbesteuerung in § 22 UStG vorgeschriebenen Aufzeichnung zur Trennung der Umsätze nach Steuerarten im Einzelfall von Bedeutung sind.

a) Ob die danach ggf. festzustellenden Mängel der Buchführung und die fehlerhafte Nichtaufnahme des noch vorhandenen Verpackungsmaterials bei der jährlichen Bestandsaufnahme (§ 146 [X.]) zur Feststellung der formellen Ordnungswidrigkeit führen, ist in erster Linie eine Tatfrage und deshalb zunächst vom [X.] zu entscheiden, zumal bei der Beurteilung eines Buchführungsfehlers nicht auf die formale Bedeutung des Buchführungsmangels, sondern auf dessen sachliches Gewicht abzustellen ist (vgl. [X.]-Urteil in [X.] 2000, 1462 unter Hinweis auf die [X.]-Urteile vom 31. Juli 1969 IV R 57/67, [X.]E 97, 246, [X.] 1970, 125; vom 15. März 1972 I R 60/70, [X.]E 105, 138, [X.] 1972, 488, und vom 12. Dezember 1972 VIII R 112/69, [X.]E 109, 167, [X.] 1973, 555; [X.] in Tipke/[X.], a.a.[X.], § 158 [X.] Rz 13, m.w.N.).

b) Das [X.] muss sich vom Vorliegen oder Nichtvorliegen der für die Entscheidung erheblichen Tatsachen eine Überzeugung bilden. Dies ergibt sich aus § 96 Abs. 1 Satz 1 [X.]O, wonach das Gericht "nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung" entscheidet. Deshalb muss das [X.] den vom [X.] gegen die Richtigkeit der Buchführung des [X.] vorgebrachten Umständen nachgehen. Das [X.] wird ggf. von der ihm gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 [X.]O zustehenden eigenen Schätzungsbefugnis Gebrauch zu machen haben (vgl. z.B. [X.]-Urteil in [X.]E 149, 121, [X.] 1987, 412, unter 2.).

c) Das [X.] wird hinsichtlich der Anwendung des ermäßigten Steuersatzes nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG auf die vom Kläger erbrachten Leistungen die neuere Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] in seinem Urteil vom 10. März 2011 in den verbundenen Rechtssachen [X.]/09, [X.]/09, [X.]/09 und [X.]/09 --Bog u.a.-- ([X.], 515, [X.] 2011, 272) und die dazu ergangenen [X.]-Urteile (vom 8. Juni 2011 XI R 33/08, [X.] 2011, 1927 und [X.], [X.]E 234, 443, [X.] 2011, 1976, sowie vom 30. Juni 2011 V R 35/08, [X.]E 234, 491, [X.] 2011, 1811 und [X.], [X.]E 234, 484, [X.] 2011, 2186) berücksichtigen.

Meta

XI R 5/10

14.12.2011

Bundesfinanzhof 11. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 25. Februar 2009, Az: 5 K 5221/05 B, Urteil

§ 96 Abs 1 FGO, § 90 Abs 2 AO, § 146 Abs 1 AO, § 147 Abs 1 Nr 5 AO, § 158 AO, § 162 AO, § 3 Abs 9 S 5 UStG 1999, § 22 Abs 1 UStG 1999, § 22 Abs 2 Nr 1 S 2 UStG 1999

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 14.12.2011, Az. XI R 5/10 (REWIS RS 2011, 416)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 416

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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