Bundesfinanzhof, Beschluss vom 10.11.2020, Az. XI S 17/20

11. Senat | REWIS RS 2020, 3578

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Gegenstand

(Zuständiges Gericht für eine Klage, mit der ein Insolvenzverwalter die Gesellschafter einer OHG gemäß § 128 HGB für Steuerschulden der OHG persönlich als Gesamtschuldner in Haftung nimmt)


Leitsatz

1. NV: Die Bestimmung des örtlich zuständigen FG nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 FGO kommt nur in Betracht, wenn der Finanzrechtsweg eröffnet ist.

2. NV: Der Finanzrechtsweg ist eröffnet, wenn ein persönlich haftender Gesellschafter einer OHG wegen § 93 InsO durch Klage des Insolvenzverwalters (dieser als gesetzlicher Prozessstandschafter des FA) in Haftung genommen wird.

3. NV: Ist der Beklagte eine natürliche Person, kann für die Bestimmung des zuständigen Gerichts an dessen (Wohn-)Sitz anzuknüpfen sein.

4. NV: Verbindlichkeiten eines persönlich haftenden Gesellschafters gemäß § 128 HGB gehören zu den Vertragsverhältnissen i.S. des § 29 ZPO.

5. NV: Wird ein persönlich haftender Gesellschafter einer OHG wegen § 93 InsO nicht durch Haftungsbescheid des FA, sondern durch Klage des Insolvenzverwalters (dieser als gesetzlicher Prozessstandschafter des FA) in Haftung genommen, entspricht es den Wertungen des § 38 FGO, das FG zum zuständigen Gericht zu bestimmen, in dessen Bezirk das FA seinen Sitz hat und das deshalb für eine Klage gegen einen Haftungsbescheid zuständig wäre.

Tenor

1. Zum zuständigen Finanzgericht wird das [X.] Finanzgericht bestimmt.

2. Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen.

Tatbestand

I.

1

Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der [X.] ([X.]). Diese hat ihren Sitz in [X.], [X.] ([X.]). Persönlich haftende Gesellschafter der [X.] sind nach [X.]ngaben des Klägers seit dem 06.11.2014 ... ([X.]eklagter zu 1.) mit Wohnsitz in [X.], [X.], und ... ([X.]eklagter zu 2.) mit Wohnsitz in [X.], [X.]. Zuständig für die Umsatzsteuer der [X.] ist das Finanzamt ... (F[X.]) mit Sitz in D.

2

Unter dem 21.08.2018 hat der Kläger gegen den [X.]eklagten zu 1. und den [X.]eklagten zu 2. beim [X.] ([X.]) Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Er beantragt, die [X.]eklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ... € zu zahlen. In dieser Höhe seien aufgrund der Forderungsanmeldung des F[X.] vom 25.05.2018 [X.]bgabenforderungen (vor allem Umsatzsteuer) zur Insolvenztabelle festgestellt worden. [X.]nspruchsgrundlage für die gesamtschuldnerische Haftung der [X.]eklagten sei § 93 der Insolvenzordnung ([X.]) i.V.m. § 128 des Handelsgesetzbuchs (HG[X.]). Für die Geltendmachung dieses [X.]nspruchs, den der Kläger als gesetzlicher Prozessstandschafter für das F[X.] geltend mache, sei der [X.] eröffnet.

3

[X.]m 22.04.2020 hat das [X.] beschlossen, den [X.]undesfinanzhof ([X.]FH) um eine Entscheidung zu ersuchen, welches [X.] für den Rechtsstreit zuständig sei.

4

Die [X.]eteiligten haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

5

Der Kläger beantragt, das Thüringer [X.] zum zuständigen Gericht zu bestimmen.

Entscheidungsgründe

II.

6

[X.]er zulässige [X.]ntrag führt zur Bestimmung des [X.] zum zuständigen [X.].

7

1. Nach § 39 [X.]bs. 1 Nr. 5 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) wird das zuständige [X.] durch den [X.] bestimmt, wenn eine örtliche Zuständigkeit nach § 38 [X.]O nicht gegeben ist. Jeder am Rechtsstreit Beteiligte und jedes mit dem Rechtsstreit befasste [X.] kann den [X.] anrufen (§ 39 [X.]bs. 2 Satz 1 [X.]O). In dem Verfahren muss außerdem der [X.] eröffnet sein (vgl. [X.]-Beschlüsse vom 26.08.2008 - VI B 68/08, [X.]/NV 2008, 2036, unter [X.], Rz 6; vom 10.02.2012 - VI S 10/11, [X.]/NV 2012, 771, Rz 7; vom 09.04.2014 - III S 4/14, [X.]/NV 2014, 1077, Rz 6).

8

2. [X.]er [X.]ntrag des [X.] ist zulässig.

9

[X.]as ersuchende [X.] ist i.S. des § 39 [X.]bs. 2 Satz 1 [X.]O als Gericht, bei dem der Kläger die Klage erhoben hat, mit dem Rechtsstreit befasst. Zutreffend hat das [X.] außerdem angenommen, dass für die auf § 93 [X.] gestützte Klage der [X.] eröffnet ist (vgl. allgemein [X.]-Beschluss in [X.]/NV 2014, 1077, Rz 7). [X.]ußerdem ist eine Zuständigkeit gemäß § 38 [X.]O nicht gegeben, wenn die [X.] --wie hier-- keine Behörden sind (vgl. [X.]-Beschlüsse in [X.]/NV 2008, 2036, unter [X.], Rz 7; in [X.]/NV 2012, 771, Rz 8; in [X.]/NV 2014, 1077, Rz 8).

3. [X.]er Senat bestimmt das [X.] zum zuständigen Gericht.

a) [X.]afür spricht, soweit es um den [X.] zu 2. geht, der Rechtsgedanke des § 38 [X.]O, der an den Sitz des [X.] anknüpft. Bei natürlichen Personen als [X.] ist dies ebenfalls der (Wohn- oder [X.] (vgl. [X.]-Beschluss in [X.]/NV 2014, 1077, Rz 9).

b) Zum [X.] zu 1., der keinen (Wohn- oder [X.] im Inland hat, berücksichtigt der Senat die Wertung des § 29 der Zivilprozessordnung (ZPO), wonach für Streitigkeiten aus einem Vertragsverhältnis und über dessen Bestehen das Gericht des Ortes zuständig ist, an dem die streitige Verpflichtung zu erfüllen ist; denn [X.] gehören bei vertraglichen Verbindlichkeiten (z.B. nach § 128 HGB) zu den Vertragsverhältnissen des § 29 ZPO (vgl. [X.]/[X.], ZPO, 33. [X.]ufl., § 29 Rz 6a; subsidiär für § 29 ZPO auch [X.] in Röhricht/[X.] von Westphalen/[X.], HGB, 5. [X.]ufl., § 128 Rz 9a, 20d). Eine vorrangige Sonderregelung, die die [X.]nwendung des § 29 ZPO über § 155 Satz 1 [X.]O ausschlösse, enthält die [X.]O in Bezug auf Konstellationen wie im Streitfall nicht. [X.]er Rechtsgedanke des § 29 ZPO i.V.m. § 155 Satz 1 [X.]O spricht daher dafür, mit Blick auf den [X.] zu 1. auf den Sitz der [X.] abzustellen. [X.]ieses Ergebnis stimmt außerdem mit der Rechtsprechung des [X.] ([X.]) überein, wonach Zahlungsverpflichtungen der organschaftlichen Vertreter einer zur Vertretung der [X.] gegenüber der Gesellschaft gemäß § 130a [X.]bs. 1, [X.]bs. 2 Satz 1 HGB am Sitz der Gesellschaft zu erfüllen sind (vgl. [X.]-Beschluss vom [X.], Zeitschrift für das gesamte Insolvenz- und Sanierungsrecht 2019, 1839, Rz 15 ff., 22, m.w.N.).

c) Zusätzlich berücksichtigt der Senat bei der Bestimmung aber auch folgende weitere Überlegung: In dem Fall, dass das [X.] gegen die [X.] erließe und diese jeweils anschließend (nach erfolglosem Einspruchsverfahren) Klage erheben würden, wäre dafür wegen § 38 [X.]O das [X.] zuständig. [X.]ies spricht dafür, dessen Zuständigkeit auch insoweit anzunehmen, als während der [X.]auer des Insolvenzverfahrens aufgrund der Sperrwirkung des § 93 [X.] (vgl. zu deren Reichweite [X.]-Beschlüsse vom 02.11.2001 - VII B 155/01, [X.]E 197, 1, [X.] 2002, 73; vom 15.11.2012 - VII B 105/12, [X.]/NV 2013, 587) die Inanspruchnahme nicht durch Bescheid des [X.] erfolgt, sondern durch Klage des Insolvenzverwalters als dessen gesetzlicher Prozessstandschafter (vgl. dazu [X.]-Urteil vom 17.12.2015 - IX ZR 143/13, [X.]Z 208, 227, Rz 10 ff., 13; [X.]-Urteil vom 18.09.2019 - XI R 19/17, [X.]E 267, 98, [X.] 2020, 172, Rz 43).

d) [X.]a die Orte [X.] (als für den [X.] zu 1. maßgeblicher Ort), [X.] (als für den [X.] zu 2. maßgeblicher Ort) und [X.] (als für das [X.] maßgeblicher Ort) im Zuständigkeitsbereich des [X.] liegen, ist nach allen denkbaren [X.]lternativen das [X.] zum zuständigen Gericht zu bestimmen.

4. Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen (vgl. [X.]-Beschluss vom 27.01.2009 - X S 42/08, [X.]/NV 2009, 780, unter II.3., Rz 23).

5. [X.]er Senat entscheidet ohne mündliche Verhandlung (§ 39 [X.]bs. 2 Satz 2 [X.]O) in der Besetzung mit drei Richtern (§ 10 [X.]bs. 3 Halbsatz 2 [X.]O).

6. [X.]ieser Beschluss ist gemäß § 155 Satz 1 [X.]O i.V.m. § 37 [X.]bs. 2 ZPO unanfechtbar (vgl. [X.]-Beschlüsse in [X.]/NV 2012, 771, Rz 11; in [X.]/NV 2014, 1077, Rz 11).

Meta

XI S 17/20

10.11.2020

Bundesfinanzhof 11. Senat

Beschluss

vorgehend Thüringer Finanzgericht, 22. April 2020, Az: 1 K 559/18, Beschluss

§ 38 FGO, § 39 Abs 1 Nr 5 FGO, § 39 Abs 2 S 1 FGO, § 155 S 1 FGO, § 29 ZPO, § 128 HGB, § 93 InsO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 10.11.2020, Az. XI S 17/20 (REWIS RS 2020, 3578)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 3578

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

3 Ta 240/23

Zitiert

IX ZR 143/13

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