Bundesgerichtshof, Beschluss vom 09.12.2010, Az. Xa ARZ 283/10

10a. Zivilsenat | REWIS RS 2010, 581

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Negativer Kompetenzkonflikt zwischen Gerichten verschiedener Gerichtszweige: Durchbrechung der Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses


Leitsatz

Die Durchbrechung der gesetzlichen Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses nach § 17a GVG kommt auch dann nur bei "extremen Verstößen" in Betracht, wenn die Entscheidung von Gesetzes wegen keiner weiteren Prüfung unterliegt .

Tenor

[X.] ist das [X.].

Gründe

1

I. Der Kläger, der seinen Wohnsitz im Amtsgerichtsbezirk [X.] hat, führte mehrere Klage- und Antragsverfahren vor verschiedenen Gerichten in [X.]. Am 15. April 2010 erhob der Kläger beim [X.] gegen die Beklagte Klage auf Rücknahme dreier im Einzelnen bezeichneter Vollstreckungsaufträge. Er ist der Auffassung, dass die den [X.] zugrunde liegenden, gegen ihn und seine Ehefrau ergangenen Einkommens- und Umsatzsteuerbescheide wegen Einkünften aus freischaffender künstlerischer Tätigkeit ohne Ermächtigungsgrundlage ergangen seien. § 18 Abs. 1 Satz 1 EStG, auf dem diese Bescheide beruhten, sei wegen Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 3 GG nichtig. Der Kläger hat ferner beantragt, den Rechtsstreit nach Art. 100 Abs. 1 GG auszusetzen und eine Entscheidung des [X.] über die Verfassungsmäßigkeit des § 18 Abs. 1 Satz 1 EStG, der Abgabenordnung 1977, des Umsatzsteuergesetzes und der Zivilprozessordnung herbeizuführen. Er meint, es handle sich um eine Verfassungsstreitigkeit, für die nach Art. 19 Abs. 4 Satz 2 GG das [X.] zuständig sei.

2

Auf die Mitteilung des [X.] vom 12. Mai 2010 an die Parteien, dass Bedenken gegen die sachliche und örtliche Zuständigkeit bestünden, hat der Kläger der Abgabe an ein anderes Gericht widersprochen. Die Beklagte hat Abgabe an das Amtsgericht [X.] als Wohnsitzgericht des [X.] beantragt, soweit Einwendungen gegen Vollstreckungsmaßnahmen erhoben werden. Im Übrigen sei die Sache an diejenigen Gerichte abzugeben, bei denen die Kosten angesetzt worden seien.

3

Das [X.] hat sich durch unangefochten gebliebenen Beschluss für unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das [X.] abgegeben. Der Antrag des [X.] sei als Erinnerung gegen den [X.] auszulegen. Über eine solche Erinnerung habe das [X.] als das Gericht zu entscheiden, bei dem die Kosten angesetzt worden seien.

4

Das [X.] hat den Rechtsweg zu ihm als unzulässig erklärt und das Verfahren an das [X.] zurückverwiesen; die Beschwerde hat es nicht zugelassen. Der Verweisungsbeschluss des [X.] sei offensichtlich fehlerhaft und daher nicht bindend.

5

Das [X.] hat die Aufnahme des Verfahrens abgelehnt und den Rechtsstreit in entsprechender Anwendung des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO dem [X.] zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.

6

Der Antrag auf Bestimmung des zuständigen Gerichts ist zulässig.

7

1. Der [X.] ist für die Entscheidung zuständig. Sofern zwei Gerichte unterschiedlicher Rechtswege ihre Zuständigkeit verneint haben, obliegt die Bestimmung des zuständigen Gerichts demjenigen obersten Gerichtshof des [X.], der zuerst darum angegangen wird ([X.], Beschluss vom 26. Juli 2001 - [X.], NJW 2001, 3631, 3632; Beschluss vom 30. Juli 2009 - [X.] 167/09, NJW-RR 2010, 209 Rn. 6).

8

2. Der Antrag ist statthaft.

9

Nach ständiger Rechtsprechung des [X.]s ist § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO bei negativen Kompetenzkonflikten zwischen Gerichten verschiedener Gerichtszweige entsprechend anwendbar ([X.] aaO).

Ein nach § 17a Abs. 2 [X.] ergangener Beschluss, mit dem ein Gericht den beschrittenen Rechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht verweist, ist einer weiteren Überprüfung entzogen, sobald er unanfechtbar geworden ist. Auch wenn sich das Gericht, an das die Sache verwiesen wurde, an den Verweisungsbeschluss nicht für gebunden hält, kommt eine Zuständigkeitsbestimmung analog § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO grundsätzlich nicht in Betracht. Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn es innerhalb eines Verfahrens zu Zweifeln über die Bindungswirkung von unanfechtbaren Verweisungsbeschlüssen kommt und keines der in Frage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten ([X.], Beschluss vom 26. Juli 2001 - [X.] aaO) oder die Verfahrensweise eines Gerichts die Annahme rechtfertigt, dass der Rechtsstreit von diesem nicht prozessordnungsgemäß gefördert werden wird, obwohl er gemäß § 17b Abs. 1 [X.] vor ihm anhängig ist ([X.], Beschluss vom 13. November 2001 - [X.] 266/01, NJW-RR 2002, 713, 714).

So liegt der Fall hier. Sowohl das Amtsgericht als auch das [X.] haben eine inhaltliche Befassung mit der Sache abgelehnt.

3. Die Voraussetzungen für eine Bestimmung des zuständigen Gerichts entsprechend § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO liegen vor. Das Amtsgericht und das [X.] haben jeweils unanfechtbar im Sinn des § 17a [X.] entschieden, dass der zu ihnen beschrittene Rechtsweg unzulässig sei.

Der Verweisungsbeschluss des [X.] ist von den Beteiligten nicht mit Rechtsmitteln angefochten worden und dementsprechend unanfechtbar geworden. Der [X.] des Niedersächsischen [X.]s ist nach § 17a Abs. 4 Satz 4 [X.] nicht anfechtbar. Diese Bestimmung betrifft an sich den Fall, dass das obere [X.] als Beschwerdegericht im zweiten Rechtszug entscheidet, mithin eine Überprüfungsmöglichkeit bestanden hat. Da jedoch in der [X.]sbarkeit nur ein Rechtszug auf Landesebene vorhanden ist und die [X.]e nach § 2 FGO als obere [X.]e errichtet sind, ist eine Beschwerdemöglichkeit an den [X.]finanzhof nur nach Zulassung gegeben ([X.] in [X.]/[X.]/[X.], VwGO, § 17a [X.] Rn. 37 (Stand: 2009)).

III. Als zuständiges Gericht ist das [X.] zu bestimmen.

1. Die Zuständigkeit des [X.] ergibt sich aus der Bindungswirkung des [X.]es des Niedersächsischen [X.]s gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 [X.]. Zwar ist dieser Verweisungsbeschluss gesetzwidrig ergangen. Das [X.] war nämlich seinerseits nach § 17a Abs. 2 Satz 3 [X.] an den Verweisungsbeschluss des [X.] gebunden. Der [X.] ist aber unanfechtbar. Dies hat zur Folge, dass er nunmehr seinerseits die Bindungswirkung nach § 17a Abs. 2 Satz 3 [X.] zu Lasten der ordentlichen Gerichte entfaltet. Diese besteht auch bei gesetzwidrigen (Rück-)Verweisungen. Die Unanfechtbarkeit des finanzgerichtlichen [X.]es hat damit Vorrang vor der Bindungswirkung der durch das Amtsgericht ausgesprochenen ursprünglichen Verweisung ([X.], Beschluss vom 24. Februar 2000 - [X.], [X.]Z 144, 21, 24 f. = NJW 2000, 1343, 1344; Beschluss vom 13. November 2001 - [X.] 266/01, NJW-RR 2002, 713).

2. Die Voraussetzungen, unter denen ein Verweisungsbeschluss ausnahmsweise nicht bindend wirkt, liegen nicht vor. Nach der ständigen Rechtsprechung des [X.]s ist eine Durchbrechung der gesetzlichen Bindungswirkung allenfalls bei "extremen Verstößen" denkbar ([X.], Beschluss vom 13. November 2001 - [X.] 266/01, NJW-RR 2002, 713; Beschluss vom 8. Juli 2003 - [X.] 138/03, NJW 2003, 2990, 2991), etwa wenn sich die Verweisungsentscheidung bei der Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen so weit von dem diese beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfernt hat, dass sie schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist, d.h. wenn sie unverständlich und offensichtlich unhaltbar ist ([X.] 29, 45, 49; [X.], Beschluss vom 24. Februar 2000 - [X.], [X.]Z 144, 21, 25; Beschluss vom 5. Oktober 1982 - [X.], [X.]Z 85, 116, 118 f.). § 17a Abs. 4 [X.] bietet den Parteien eine Überprüfungsmöglichkeit ([X.], Beschluss vom 13. November 2001 - [X.] 266/01 aaO; Beschluss vom 8. Juli 2003 - [X.] 138/03 aaO). Denn wenn ein [X.] missachtet, dass das beschließende Gericht bereits seinerseits unanfechtbar im Sinn des § 17a [X.] als das zuständige des zulässigen Rechtswegs bestimmt worden ist, muss das hingenommen werden, weil entweder die Parteien nicht durch Einlegung des zulässigen Rechtsmittels eine Korrektur ermöglicht haben oder der Fehler trotz Rechtsmittels in dem vom Gesetz hierfür vorgesehenen Instanzenzug nicht korrigiert worden ist ([X.], Beschluss vom 13. November 2001 - [X.] 266/01 aaO).

Aber auch dann, wenn - wie hier - eine Überprüfungsmöglichkeit nicht besteht, weil das erstinstanzliche Gericht ein oberes [X.] ist und dieses die Beschwerde nach § 17a Abs. 4 Satz 4 [X.] nicht zugelassen hat, kann hinsichtlich der Bindungswirkung nichts anderes gelten. Es steht grundsätzlich in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, ob hinsichtlich des Rechtswegs mehrere Instanzen bereitgestellt werden, unter welchen Voraussetzungen sie angerufen werden können und wie weit die Prüfungsbefugnis des Gerichts reicht ([X.], [X.] vom 24. Januar 2005 - 1 BvR 2653/03, [X.], 1768). Hat der Gesetzgeber vorgesehen, dass eine Entscheidung keiner weiteren Prüfung unterliegen soll, kann im Interesse der Rechtssicherheit eine Durchbrechung der gesetzlichen Bindungswirkung nur bei "extremen Verstößen" in Betracht kommen. Nicht jede potentielle inhaltliche Unrichtigkeit oder sonstige Fehlerhaftigkeit führt zur Nichtbeachtlichkeit einer rechtskräftigen Entscheidung. Bei Anlegung dieses Maßstabs ist der Verweisungsbeschluss des Niedersächsischen [X.]s nicht als willkürlich anzusehen.

Das [X.] hat seine Entscheidung im Wesentlichen auf die Erwägung gestützt, dass das [X.] das Klagebegehren - ohne in eine Sachaufklärung einzutreten - unzutreffend als Erinnerung gegen [X.] in den vom Kläger geführten Verfahren ausgelegt habe. Der Verweisungsbeschluss treffe keine Entscheidung darüber, was mit dem eigentlichen Klagebegehren, das auf die Einstellung von Vollstreckungsmaßnahmen gerichtet sei, geschehen solle. Selbst wenn das Vorbringen des [X.] auch als Erinnerung gegen Kostenfestsetzungen zu verstehen sein sollte, habe jedenfalls in einem Teil der Verfahren das [X.] über die Erinnerungen des [X.] bereits entschieden. Im Übrigen fehle eine Differenzierung nach den [X.]n der einzelnen Gerichtsverfahren, die überdies alle in der ordentlichen Gerichtsbarkeit angesiedelt seien.

Ob diese Begründung inhaltlich richtig ist, steht nicht zur Entscheidung. Die Erwägungen des [X.]s können jedenfalls nicht als völlig sachfremd oder gar willkürlich angesehen werden mit der Folge, dass der [X.] trotz der inzwischen eingetretenen Unanfechtbarkeit als unwirksam anzusehen wäre. Der Verweisungsbeschluss des Niedersächsischen [X.]s ist somit bindend. Das [X.] durfte seine Zuständigkeit hinsichtlich des Rechtswegs nicht mehr verneinen.

Keukenschrijver     

        

Mühlens     

        

Bacher

        

Hoffmann     

        

Schuster     

        

Meta

Xa ARZ 283/10

09.12.2010

Bundesgerichtshof 10a. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ARZ

§ 17a GVG, Art 101 Abs 1 S 2 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 09.12.2010, Az. Xa ARZ 283/10 (REWIS RS 2010, 581)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 581

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

Xa ARZ 283/10 (Bundesgerichtshof)


2 SAF 20/18 (Oberlandesgericht Hamm)


X ARZ 76/17 (Bundesgerichtshof)

Zwangsvollstreckungsverfahren: Verweisung an ein Gericht eines anderen Rechtswegs


X ARZ 482/18 (Bundesgerichtshof)

Verweisung des Rechtsstreits an ein Gericht eines anderen Rechtswegs


6 AV 2/11 (Bundesverwaltungsgericht)

Negativer Kompetenzkonflikt; Rechtmäßigkeit und Durchführung einer Ingewahrsamnahme


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.