Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22.02.2022, Az. AK 3/22

3. Strafsenat | REWIS RS 2022, 1126

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Gegenstand

Fortdauer von Untersuchungshaft wegen Kriegsverbrechen in Syrien: Abschuss einer Panzerabwehrwaffe auf eine auf Hilfsgüter wartende Menschenmenge


Tenor

Die Untersuchungshaft hat [X.].

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den [X.] findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach den allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.

Gründe

I.

1

Der Beschuldigte befindet sich seit dem 4. August 2021 aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des [X.] vom 30. Juli 2021 (4 [X.] 103/21) ununterbrochen in Untersuchungshaft.

2

Gegenstand des auf die Haftgründe der Fluchtgefahr sowie der [X.] gestützten Haftbefehls ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen bewaffneten Konflikt einen [X.] als solche oder gegen einzelne Zivilpersonen, die an den Feindseligkeiten nicht unmittelbar teilgenommen hätten, gerichtet und hierdurch vorsätzlich den Tod von mindestens sieben Zivilpersonen herbeigeführt sowie [X.] dazu in sieben [X.]en Fällen aus niedrigen Beweggründen mit gemeingefährlichen Mitteln einen Menschen getötet und in drei [X.]en Fällen eine Körperverletzung mittels einer Waffe und einer das Leben gefährdenden Behandlung begangen, strafbar gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 2 [X.], § 211 Abs. 1 und 2, § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5, § 52 StGB. Der Beschuldigte soll am 23. März 2014 in [X.] mit einem Geschütz aus Rache für den Tod eines Verwandten eine Granate gezielt auf wehrlose, auf einem Platz auf Lebensmittelpakete Wartende geschossen und dadurch mindestens sieben Menschen getötet sowie drei weitere verletzt haben.

II.

3

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

4

1. Der Beschuldigte ist der ihm zur Last gelegten Tat dringend verdächtig.

5

a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

6

aa) Die in [X.] seit Februar 2011 gegen die Regierung von [X.] schwelenden Proteste eskalierten ab dem 15. März 2011 aufgrund des repressiven und gewaltsamen Vorgehens [X.] Sicherheitskräfte, Milizen sowie der [X.] gegen Demonstranten und Oppositionelle. Die dadurch bewirkte Militarisierung der Protestbewegung entwickelte sich zu einem bewaffneten [X.], der Anfang 2012 schließlich weite Teile des [X.] erfasste und sich zu einem großflächigen Bürgerkrieg ausweitete.

7

bb) Der Beschuldigte war im März 2014 Mitglied der "[X.]" ("[X.]", FPM), die sich auf Seiten des [X.] Regimes an gewaltsamen Auseinandersetzungen beteiligte. Er war an einem Kontrollposten zu dem aus einem palästinensischen Flüchtlingslager hervorgegangenen [X.] Stadtviertel [X.]     tätig. Als am 23. März 2014 auf einem nahegelegenen Platz ein Hilfswerk der [X.] ausgab und eine Vielzahl von Anwohnern aus der Umgebung zusammenkam, schoss der Beschuldigte mit einer rückstoßfreien [X.] eine Granate gezielt auf die wehrlose und aufgrund der räumlichen Gegebenheiten an der Flucht gehinderte Menge ab. Er tötete mindestens sieben Menschen; wenigstens drei weitere erlitten durch den Einschlag Verletzungen. Diese möglichen Folgen waren dem Beschuldigten bei seinem Handeln bewusst. Er nahm sie aus Verärgerung über den Tod eines Verwandten zumindest billigend in Kauf.

8

b) Der dringende Tatverdacht beruht insbesondere auf mehreren Zeugenaussagen, die durch Lichtbilder, schriftliche Sachverständigengutachten sowie die Auswertung verschiedener Veröffentlichungen ergänzt und bestätigt werden.

9

Zahlreiche Zeugen haben geschildert, an dem Tattag vor Ort gewesen und den Einschlag einer "Rakete" bemerkt zu haben. Während die Angaben zur Täterschaft des Beschuldigten in verschiedenen Aussagen lediglich auf [X.] beruhen, haben einzelne Zeugen erklärt, gesehen zu haben, dass der Beschuldigte eine Rakete in die Menschenmenge geschossen habe. Auch wenn sich die Bekundungen zu der verwendeten Waffe, der Anzahl der Opfer und weiteren Umständen nicht vollständig decken, tragen sie insgesamt nach gegenwärtigem Stand den dringenden Verdacht, dass der Beschuldigte eine Granate abfeuerte und dadurch Menschen tötete sowie verletzte. Die innere Tatseite ergibt sich aus der Zusammenschau der äußeren Umstände.

c) In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit jedenfalls wegen Mordes in sieben [X.]en Fällen in Tateinheit mit einem besonders schweren Kriegsverbrechen des Einsatzes verbotener Methoden der Kriegsführung strafbar gemacht hat.

aa) Die Tatbestandsmerkmale eines besonders schweren Kriegsverbrechens des Einsatzes verbotener Methoden der Kriegsführung nach § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 2 [X.] sind nach dem gegenwärtig zugrunde zu legenden Sachverhalt erfüllt.

(1) In [X.] bestand im Tatzeitraum ein nichtinternationaler bewaffneter Konflikt im Sinne des § 11 Abs. 1 [X.] zwischen dem [X.] Regime mit offizieller [X.], Polizei, Sicherheitskräften sowie zivilen Milizen und einer Vielzahl kämpfender Gruppierungen (vgl. etwa [X.], Beschluss vom 13. Oktober 2021 - AK 44/21, juris Rn. 24; Urteil vom 27. Juli 2017 - 3 StR 57/17, [X.]St 62, 272 Rn. 11 f.). Das Handeln des Beschuldigten stand damit in funktionalem Zusammenhang (vgl. allgemein [X.], Urteil vom 27. Juli 2017 - 3 StR 57/17, [X.]St 62, 272 Rn. 55). Die Tat wäre ohne den Konflikt bereits mit Blick auf die verwendete Waffe praktisch nicht denkbar gewesen (s. dazu BT-Drucks. 14/8524 S. 25).

(2) Der gezielte Abschuss der [X.] auf die Menschenmenge stellt einen Angriff mit militärischen Mitteln gegen die Zivilbevölkerung oder einzelne Zivilpersonen dar, die an den Feindseligkeiten nicht unmittelbar teilnahmen.

Dazu bedarf keiner abschließenden Erörterung, ob die angegangene Menschenmenge als Zivilbevölkerung oder als einzelne Zivilpersonen einzuordnen und der Begriff "[X.]" in § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.] ebenso wie in § 7 [X.] zu verstehen ist (s. zu § 7 [X.] [X.], Beschluss vom 17. Juni 2010 - AK 3/10, [X.]St 55, 157 Rn. 25; Urteil vom 20. Dezember 2018 - 3 [X.], [X.]St 64, 10 Rn. 166). Bedenken an einem einheitlichen Verständnis können deshalb bestehen, weil sich die bei der Auslegung des § 7 Abs. 1 [X.] herangezogene Legaldefinition des Art. 7 Abs. 2 Buchst. a [X.] allein auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach Art. 7 Abs. 1 [X.], nicht auf die Kriegsverbrechen in Art. 8 [X.] bezieht (s. zu diesen BT-Drucks. 14/8524 S. 32 f.; Art. 49 Abs. 1 Zusatzprotokoll zu den [X.] vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte [Protokoll I]; [X.]/[X.], [X.], 4. Aufl., Art. 8 Rn. 186 ff.). Zudem geht es in § 7 Abs. 1 Satz 1 [X.] um einen Gesamtvorgang, in den sich die mehrfache Verwirklichung der Einzeltatbestände des § 7 Abs. 1 Nr. 1 bis 10 [X.] einfügt (s. [X.], Urteil vom 20. Dezember 2018 - 3 [X.], [X.]St 64, 10 Rn. 166).

Zumindest handelte es sich bei den zusammengekommenen Menschen um einzelne Zivilpersonen, die an den Feindseligkeiten nicht teilnahmen (zur Unterscheidung zwischen Zivilpersonen und Mitgliedern bewaffneter Gruppen International Review of the Red Cross Vol. 90 N. 872, [X.], 1006 ff.; MüKoStGB/[X.], 3. Aufl., § 11 [X.] Rn. 37; [X.], Völkerstrafrecht, 5. Aufl., Rn. 1400; [X.]/[X.]/[X.], [X.], 4. Aufl., Art. 8 Rn. 935). Dem steht nicht entgegen, dass sich möglicherweise unter den Wartenden vereinzelt Angehörige bewaffneter Gruppen befanden; denn nach den [X.] waren diese weder Ziel des Angriffs noch prägten sie die wartende Menge (vgl. zum überwiegenden Charakter einer Personengruppe [X.], Urteil vom 20. Dezember 2018 - 3 [X.], [X.]St 64, 10 Rn. 165; s. auch [X.]/[X.]/[X.], [X.], 4. Aufl., Art. 8 Rn. 933).

Da der Beschuldigte im Rahmen seiner Kontrolltätigkeit für die FPM eine [X.] abschoss, ist dem ein Angriff mit militärischen Mitteln zu entnehmen (vgl. allgemein MüKoStGB/[X.], 3. Aufl., § 11 [X.] Rn. 30; [X.], Völkerstrafrecht, 5. Aufl., Rn. 1397).

(3) Der Qualifikationstatbestand des § 11 Abs. 2 Satz 2 [X.] ist erfüllt, weil der Beschuldigte durch seinen Angriff den Tod mehrerer Menschen vorsätzlich herbeiführte.

bb) Die Tötung und Verletzung der Personen hat zudem hochwahrscheinlich die Tatbestände des Mordes aus niedrigen Beweggründen sowie der gefährlichen Körperverletzung mittels einer Waffe und einer das Leben gefährdenden Behandlung gemäß § 211 Abs. 2, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB verwirklicht. Ob zugleich das Mordmerkmal der Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln erfüllt ist (vgl. dazu näher [X.], Beschluss vom 14. April 2020 - 5 [X.], [X.], 614 Rn. 10 ff. [X.]; MüKoStGB/[X.], 4. Aufl., § 211 Rn. 127), bedarf für die Frage der [X.] keiner Entscheidung. Ebenso ist dazu eine nähere Klärung des [X.] zwischen dem Kriegsverbrechen des Einsatzes verbotener Methoden der Kriegsführung und der gefährlichen Körperverletzung entbehrlich (vgl. allgemein [X.], Urteil vom 28. Januar 2021 - 3 StR 564/19, [X.]St 65, 286 Rn. 82 [X.]).

cc) Da der [X.] die Strafverfolgung gemäß § 154 Abs. 1, § 154a Abs. 1 StPO auf die im Haftbefehl genannten Straftatbestände begrenzt hat, sind weitere Delikte derzeit nicht in den Blick zu nehmen.

dd) Die Anwendbarkeit [X.] Strafrechts ergibt sich aus dem Weltrechtsprinzip gemäß § 1 [X.] für das Kriegsverbrechen und als Annex dazu ebenfalls für den [X.] verwirklichen Tatbestand des Mordes (vgl. etwa [X.], Beschluss vom 6. Juni 2019 - StB 14/19, [X.]St 64, 89 Rn. 71).

2. Es bestehen der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sowie - auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (s. [X.], Beschluss vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.) - derjenige der [X.].

Im Jahr 2021 geführte Telefonate deuten darauf hin, dass der Beschuldigte ernsthaft in Erwägung gezogen hat, nach [X.] zu fliehen. Zudem stellt die im Falle einer Verurteilung zu erwartende Strafe einen erheblichen Fluchtanreiz dar. Dem stehen keine maßgeblichen Gesichtspunkte entgegen. Vor diesem Hintergrund ist insgesamt zu erwarten, dass sich der Beschuldigte, sollte er in Freiheit gelangen, dem weiteren Strafverfahren durch Flucht entziehen wird. Dieser Gefahr kann durch andere fluchthemmende Maßnahmen nicht genügend begegnet werden, weshalb der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 StPO erreicht werden kann.

3. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die [X.]. Das zügig geführte, aufwändige Ermittlungsverfahren ist dadurch erschwert, dass der in Rede stehende Tatort in einem ausländischen Staat liegt, mit dem kein Rechtshilfeverkehr besteht. Verschiedene Datenträger, die am Tag der Festnahme des Beschuldigten in seiner Wohnung sichergestellt worden sind, haben unter Hinzuziehung eines Dolmetschers ausgewertet werden müssen. Es sind mehrere Rechtshilfeersuchen an unterschiedliche [X.] gestellt worden; einzelne Ersuchen sind noch nicht erledigt. Gleichwohl geht der [X.] davon aus, dass innerhalb der nächsten drei Monate die Ermittlungen abgeschlossen werden könnten und Anklage erhoben werde. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf seine Zuschrift vom 1. Februar 2022 Bezug genommen.

4. Schließlich steht die Untersuchungshaft nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits nicht zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Berg                         [X.]                      Anstötz

Meta

AK 3/22

22.02.2022

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

§ 7 Abs 1 VStGB, § 11 Abs 1 S 1 Nr 1 VStGB, § 11 Abs 2 S 2 VStGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22.02.2022, Az. AK 3/22 (REWIS RS 2022, 1126)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 1126

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3 StR 236/17

3 StR 57/17

5 StR 93/20

3 StR 564/19

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