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Zulässigkeit des Sicherungshaftbefehls bei Ausbleiben den Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung
Die Wirkung eines wegen Ausbleibens des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung erlassenen Sicherungshaftbefehls endet nicht mit der vorläufigen Einstellung des Verfahrens nach § 205 StPO. (amtlicher Leitsatz)
Oberlandesgericht Nürnberg
Beschluss
vom 04.02.2016
2 Ws 785/15 Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg
JKIV Ns 606 Js 49400/14 jug. Landgericht Nürnberg-Fürth
606 Js 49400/14 Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth
2. Strafsenat
In dem Strafverfahren
gegen
Ö. Z., geboren am ... in E., Staatsangehörigkeit: ..., wohnhaft: ...
Verteidiger: Rechtsanwalt G. Rechtsanwalt V. Rechtsanwalt P.
wegen vorsätzlicher Körperverletzung
hier: Beschwerde der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth
erlässt das Oberlandesgericht Nürnberg - 2. Strafsenat - durch die unterzeichnenden Richter am 04.02.2016 folgenden Beschluss
I.
Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth gegen den Beschluss des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 26.11.2015 wird als unbegründet verworfen.
II.
Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten im Beschwerdeverfahren.
Gründe:
I. Der Angeklagte wurde mit Urteil des Amtsgerichts Erlangen vom 24.02.2015 wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr neun Monaten verurteilt. Auf die von der Staatsanwaltschaft und dem Angeklagten eingelegten Berufungen hat das Landgericht Nürnberg-Fürth Termin für die Berufungshauptverhandlung auf den 06.10.2015 bestimmt. Mit der ihm am 03.09.2015 zugestellten Ladung zu diesem Termin wurde der Angeklagte auf die Folgen seines nicht genügend entschuldigten Ausbleibens hingewiesen.
Da der Angeklagte zum Berufungshauptverhandlungstermin am 06.10.2015 unentschuldigt nicht erschienen ist und der anwesende Verteidiger keine schriftliche Vertretungsvollmacht gemäß § 329 Abs. 1 StPO besaß, verwarf das Landgericht durch im Termin verkündetes Urteil die Berufung des Angeklagten, erließ gegen den Angeklagten Haftbefehl gemäß § 329 Abs. 3 StPO und stellte das Verfahren auf die Berufung der Staatsanwaltschaft wegen der Abwesenheit des Angeklagten vorläufig gemäß § 205 StPO ein.
Mit Verfügung vom 26.10.2015 beantragte die Staatsanwaltschaft unter Verweis auf die Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Hamm (NStZ-RR 2009, 89), den Haftbefehl (deklaratorisch) aufzuheben und Haftbefehl nach § 112 StPO zu erlassen. Das Landgericht hat diesen Antrag mit Beschluss vom 26.11.2015 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass die Anordnung der Verhaftung des Angeklagten nach § 329 Abs. 3 StPO - ebenso wie der Erlass eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO - das Ziel habe, die Durchführung der Hauptverhandlung zu sichern. Gesichert werden solle damit das Erscheinen des Angeklagten bei der für das Verfahren erforderlichen Hauptverhandlung. Wenn in § 329 Abs. 3 StPO auf die „Hauptverhandlung“ abgestellt werde, sei darunter nicht nur die konkrete, bereits begonnene Hauptverhandlung zu verstehen, sondern die Hauptverhandlung, die erforderlich ist, um das Verfahren durchzuführen und die ggf. neu angesetzt werden muss. Ansonsten würde ein Sicherungshaftbefehl immer dann gegenstandslos, wenn der Angeklagte nicht innerhalb der zulässigen Unterbrechungsfrist des § 229 StPO verhaftet werden könne.
Gegen diesen Beschluss hat die Staatsanwaltschaft mit Schreiben vom 09.12.2015 Beschwerde eingelegt. Aus der Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm ergebe sich, dass die Einstellung des Verfahrens gemäß § 205 StPO einer Aussetzung des Verfahrens gleichzustellen sei, mit der Folge, dass der Haftbefehl nach § 230 StPO gegenstandslos werde und deklaratorisch aufzuheben sei. Das Landgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 14.12.2015 nicht abgeholfen.
Die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg beantragt, auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft den Beschluss des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 26.11.2015 sowie den Haftbefehl vom 06.10.2015 (letzteren deklaratorisch) aufzuheben. Der Verteidiger des Angeklagten schließt sich in seiner Stellungnahme vom 13.01.2015 der Auffassung des Landgerichts an.
II. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist gemäß § 304 Abs. 1 StPO zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg. Die Entscheidung des Landgerichts, das Verfahren vorläufig nach § 205 StPO einzustellen, hat keinen Einfluss auf den zeitgleich erlassenen Haftbefehl nach § 329 Abs. 3 StPO. Der Haftbefehl ist wirksam und nicht (deklaratorisch) aufzuheben.
1. Die Wirkung des Haftbefehls des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 06.10.2015 endete nicht mit der vorläufigen Einstellung des Verfahrens nach § 205 StPO sondern besteht weiter fort (so auch der erste Strafsenat im Beschluss vom 04.02.2016, 1 Ws 12/16). Der Beschluss des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 26.11.2015 und der Haftbefehl sind daher nicht aufzuheben.
a. Der Sicherungshaftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO bzw. § 329 Abs. 3 StPO hat die Aufgabe, die Hauptverhandlung zu sichern, zu deren Durchführung er erlassen ist. Mit dem Ende dieser Hauptverhandlung wird er von selbst gegenstandslos. Dies ist etwa der Fall, wenn die Hauptverhandlung ausgesetzt wird (Löwe-Rosenberg/Becker, StPO, 26. Auflage, § 230 Rn. 37; SK-StPO/Deiters 5. Auflage, § 230 Rn. 30; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Auflage, § 230 Rn. 23; OLG Hamm, Beschluss vom 12.03.1992 - 3 Ws 118/92 -, juris). Die vorläufige Einstellung des Verfahrens gemäß § 205 StPO entspricht dem nicht, so dass damit auch nicht die Wirkung eines Sicherungshaftbefehls entfällt.
aa. Die entgegenstehende Auffassung des Oberlandesgerichts Hamm (Beschluss vom 14.10.2008, NStZ-RR 2009, 89), die vorläufige Einstellung des Verfahrens nach § 205 StPO sei der Aussetzung der Hauptverhandlung gleichzusetzen, da in beiden Fällen regelmäßig die Durchführung einer neuen Hauptverhandlung erforderlich sei, so dass der Sicherungshaftbefehl auch bei einer vorläufigen Einstellung des Verfahrens nach § 205 StPO gegenstandslos werde, vermag nicht zu überzeugen. Diese Argumentation übersieht, dass bei einer vorläufigen Einstellung des Verfahrens die mit dem Haftbefehl zu sichernde Hauptverhandlung noch nicht begonnen hat und daher auch nicht beendet werden kann.
bb. Der vorläufigen Einstellung des Verfahrens gemäß § 205 Satz 1 StPO nach dem Erlass eines Sicherungshaftbefehls liegt in der Regel zugrunde, dass der Angeklagte zur Hauptverhandlung nicht erschienen ist und deshalb gegen ihn ein Sicherungshaftbefehl erlassen wurde. Dieser dient zur Sicherstellung der reibungslosen Durchführung der neu anberaumten „zweiten“ Hauptverhandlung (vgl. etwa SK-StPO/Deiters a. a. O.. § 230 Rn. 30; Meyer-Goßner/Schmitt StPO a. a. O.. § 230 Rn. 21). Mit deren Beendigung wird er gegenstandslos.
Ist der Angeklagte aufgrund des Sicherungshaftbefehls in dieser neu anberaumten Hauptverhandlung anwesend und wird diese gemäß § 228 Abs.1 Satz 1 StPO ausgesetzt (ein derartiger Sachverhalt lag auch dem Beschluss des OLG Hamm vom 12.03.1992 zugrunde mit der Besonderheit, dass der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt worden war), entfällt nach zutreffender herrschender Auffassung die Wirkung des Sicherungshaftbefehls, da er seine Funktion, die „zweite“ Hauptverhandlung zu sichern, erfüllt hat und diese Hauptverhandlung beendet ist. Für die gemäß § 229 Abs. 4 Satz 1 StPO neu anzusetzende „dritte“ Hauptverhandlung besteht die Wirkung des zur Sicherung der „zweiten“ Hauptverhandlung erlassenen Sicherungshaftbefehls nicht fort. Ein neuer Sicherungshaftbefehl kommt erst in Betracht, wenn der Angeklagte auch zur „dritten“ Hauptverhandlung nicht erscheint. Dies erscheint auch sachgerecht, da der Angeklagte mit seiner Festnahme und Inhaftierung die Folgen seines unentschuldigten Ausbleibens nachdrücklich erfahren hat und in der ausgesetzten Hauptverhandlung darauf hingewiesen werden kann, dass er mit denselben Folgen auch bei einem erneuten Ausbleiben in einer neuen Hauptverhandlung zu rechnen haben wird.
cc. Der in der „ersten“ Hauptverhandlung, zu der der Angeklagte nicht erschienen ist, ergangene Sicherungshaftbefehl dient somit nicht der Sicherstellung der Durchführung dieser „ersten“ Hauptverhandlung, so dass die vorläufige Einstellung des Verfahrens nach § 205 StPO keine Beendigung der Hauptverhandlung zur Folge hat, zu deren Sicherung er ergangen ist. Das unter anderem vom Oberlandesgericht Hamm angenommene Entfallen der Wirkung des Sicherungshaftbefehls mit der vorläufigen Einstellung des Verfahrens nach § 205 StPO widerspricht damit dem gesetzlichen Zweck, mit dem Sicherungshaftbefehl die Durchführung der nächsten Hauptverhandlung zu sichern.
dd. Sicherungshaftbefehl und vorläufige Einstellung des Verfahrens haben zudem ähnliche Tatbestandsvoraussetzungen: Voraussetzung für einen Sicherungshaftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO bzw. § 329 Abs. 3 StPO ist, dass der Angeklagte zur Hauptverhandlung nicht erscheint. Voraussetzung für die vorläufige Einstellung nach § 205 StPO, dass der Angeklagte über längere Zeit abwesend ist. Es ist nicht nachvollziehbar und stünde in Widerspruch zum genannten Regelungszweck des § 230 Abs. 2 und des § 329 Abs. 3 StPO dass gerade dann der Sicherungshaftbefehl gegenstandslos werden soll, wenn der Angeklagte aufgrund des Sicherungshaftbefehls nicht ergriffen werden kann, weil er über längere Zeit untergetaucht ist, sich so der Hauptverhandlung nachhaltig entzieht und das Verfahren deshalb vorläufig einzustellen ist.
Die Gegenansicht würde jedenfalls in den Fällen, in denen der Erlass eines Haftbefehls gemäß § 112 StPO wegen Unverhältnismäßigkeit nicht in Betracht käme oder ein zuvor erlassener Haftbefehl nach § 112 StPO wegen Verletzung des Beschleunigungsgebots aufzuheben wäre, dazu führen, dass sich der Angeklagte erfolgreich dem Verfahren insgesamt entziehen könnte.
b. Die vorläufige Einstellung des Verfahrens durch das Landgericht Nürnberg-Fürth hat somit - unabhängig vom Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen des § 205 StPO - nicht zur Folge, dass der nach § 329 Abs. 3 StPO erlassene Haftbefehl gegenstandslos wird. Das Landgericht Nürnberg-Fürth hat es deshalb zu Recht abgelehnt, den Haftbefehl vom 06.10.2015 (deklaratorisch) aufzuheben. Seine Wirkung dauert an.
2. Soweit mit dem angefochtenen Beschluss auch der Erlass eines Haftbefehls nach § 112 StPO abgelehnt worden ist, hat die Staatsanwaltschaft dies mit ihrer Beschwerde nicht angefochten.
Datenquelle d. amtl. Textes: Bayern.Recht
Meta
04.02.2016
Entscheidung
Sachgebiet: Ws
Zitiervorschlag: OLG Nürnberg, Entscheidung vom 04.02.2016, Az. 2 Ws 824/15 (REWIS RS 2016, 16576)
Papierfundstellen: REWIS RS 2016, 16576
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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.
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