Bundesgerichtshof, Beschluss vom 30.03.2022, Az. XII ZB 35/22

12. Zivilsenat | REWIS RS 2022, 434

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Gegenstand

Unterbringungssache: Anordnung oder Genehmigung einer Unterbringung für länger als ein Jahr


Leitsatz

Zu den Voraussetzungen und Begründungsanforderungen, wenn eine Unterbringung für länger als ein Jahr angeordnet oder genehmigt werden soll (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 14. März 2018 - XII ZB 629/17, BGHZ 218, 111 = FamRZ 2018, 950).

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 3. Zivilkammer des [X.] vom 23. Dezember 2021 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des [X.], an das [X.] zurückverwiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Gründe

I.

1

Für den im Jahre 1965 geborenen Betroffenen besteht seit vielen Jahren eine Betreuung, deren Aufgabenkreis unter anderem die Bereiche Gesundheitssorge, Aufenthaltsbestimmung und Entscheidung über Unterbringung und unterbringungsähnliche Maßnahmen umfasst. Nach gutachterlicher Diagnose leidet er an einem hirnorganischen Psychosyndrom bei Zustand nach einem durch einen Verkehrsunfall bedingten Schädel-Hirn-Trauma sowie langjähriger Alkoholabhängigkeit mit selbstständigen Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen.

2

Beginnend mit dem [X.] befand sich der Betroffene bis März 2008 [X.] in stationärer psychiatrischer Behandlung. Seit März 2008 wurde die Unterbringung des Betroffenen mehrfach betreuungsgerichtlich genehmigt.

3

Auf Antrag des Betreuers vom 9. Dezember 2020 hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 8. Juli 2021 erneut die Unterbringung des Betroffenen in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses bzw. der beschützenden Abteilung einer Pflegeeinrichtung bis längstens 17. Juni 2023 genehmigt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das [X.] zurückgewiesen, wogegen er sich mit seiner Rechtsbeschwerde wendet.

II.

4

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.].

5

1. Dieses hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Voraussetzungen für die Genehmigung der Unterbringung gemäß § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB lägen vor. Die Unterbringung sei zum Wohl des Betroffenen erforderlich, weil er sich aufgrund einer psychischen Krankheit selbst gefährde. Bei seinen bestehenden kognitiven Beeinträchtigungen und verminderter Urteils- und Kritikfähigkeit sei er zu einer eigenständigen selbstbestimmten Lebensweise nicht mehr in der Lage. Er ernähre sich kaum, seine Wohnung sei vermüllt und verwahrlost bis hin zu im Bad verschmierten [X.]. Er sei mehrfach an der Grenze der Dekompensation gewesen, entweder psychisch wegen Suizidalität oder somatisch wegen Verwahrlosung, Unterernährung und Deprivation. Ohne Unterbringung drohe ein erneuter Alkoholkonsum mit Fortbestehen der Verwahrlosung, Unterernährung sowie das Risiko der Aspiration in alkoholisiertem Zustand bei bestehender Refluxerkrankung. Außerdem sei der Betroffene nicht ausreichend absprachefähig hinsichtlich der wegen seines Anfallsleidens benötigten Medikamente. So habe er bereits eine Wirbelsäulenfraktur nach Krampfanfall erlitten. Ein derartiger Anfall könne auch tödliche Folgen haben. Daneben bestehe das durch paranoides Erleben verstärkte Risiko eines Suizids.

6

Der Betroffene sei auch nicht in der Lage, einen Willen frei zu bilden. [X.] lehne er ab oder mache sie durch sein Verhalten unmöglich; ebenso verweigere er den Umzug in ein offenes Pflegeheim. Bei einer Abwägung seines Freiheitsrechts mit dem Lebensschutz überwiege Letzterer, auch wenn dies eventuell letztlich zu einem dauerhaften Freiheitsentzug führe.

7

2. Dies hält hinsichtlich der Dauer der genehmigten Unterbringung einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

8

a) Ohne Erfolg wendet sich die Rechtsbeschwerde allerdings dagegen, dass das [X.] das Vorliegen der Voraussetzungen einer zivilrechtlichen Unterbringung im Sinne des § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB bejaht hat.

9

aa) Gemäß § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB ist eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt.

Alkoholismus für sich gesehen ist keine psychische Krankheit bzw. geistige oder seelische Behinderung in diesem Sinne, so dass allein darauf die Genehmigung der Unterbringung nicht gestützt werden kann. Ebenso wenig vermag die bloße Rückfallgefahr eine Anordnung der zivilrechtlichen Unterbringung zu rechtfertigen. Etwas anderes gilt, wenn der Alkoholismus entweder im ursächlichen Zusammenhang mit einem geistigen Gebrechen steht, insbesondere einer psychischen Erkrankung, oder ein auf den Alkoholmissbrauch zurückzuführender Zustand eingetreten ist, der das Ausmaß eines geistigen Gebrechens erreicht hat (Senatsbeschluss [X.], 111 = FamRZ 2018, 950 Rn. 10 mwN).

bb) Diesen rechtlichen Vorgaben entsprechend hat das [X.] die psychische Krankheit des Betroffenen nicht (allein) aus der vom Sachverständigen gestellten Diagnose eines Abhängigkeitssyndroms vom Alkoholtyp abgeleitet, sondern insoweit vor allem auf das daneben bestehende hirnorganische Psychosyndrom abgestellt. Es hat sich dabei auf das eingeholte Sachverständigengutachten gestützt, das - anders als die Rechtsbeschwerde meint - die tatrichterlichen Feststellungen zum Vorliegen einer psychischen Erkrankung und einer die zivilrechtliche Unterbringung rechtfertigenden Selbstgefährdung im Sinne des § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB trägt.

Die nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB mögliche zivilrechtliche Unterbringung durch einen Betreuer wegen Selbstgefährdung des Betroffenen verlangt keine akute, unmittelbar bevorstehende Gefahr. Notwendig, aber auch ausreichend ist eine ernstliche und konkrete Gefahr für Leib oder Leben des Betreuten. Der Grad der Gefahr ist in Relation zum möglichen Schaden ohne Vornahme der freiheitsentziehenden Maßnahme zu bemessen. Die Gefahr für Leib oder Leben erfordert kein zielgerichtetes Verhalten des Betroffenen, so dass etwa auch eine völlige Verwahrlosung ausreichen kann, wenn damit eine Gesundheitsgefahr durch körperliche Verelendung und Unterversorgung verbunden ist. Die Prognose einer Gefahr erheblicher gesundheitlicher Schäden ist im Wesentlichen Sache des Tatrichters (vgl. Senatsbeschluss [X.], 111 = FamRZ 2018, 950 Rn. 14 mwN). Sie setzt objektivierbare und konkrete Anhaltspunkte für den Eintritt eines erheblichen Gesundheitsschadens voraus, welche hier - auch im Zusammenspiel mit dem Anfallsleiden und den von einer Aspiration ausgehenden Gefahren - ausreichend festgestellt worden sind.

b) Allerdings enthält der angefochtene Beschluss keine Begründung für das Abweichen von der gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 FamFG regelmäßig ein Jahr betragenden Höchstfrist (vgl. bereits den ebenfalls zum Betroffenen ergangenen Senatsbeschluss [X.], 111 = FamRZ 2018, 950 Rn. 33 ff.).

aa) Nach dieser Vorschrift endet die Unterbringung spätestens mit Ablauf eines Jahres, bei offensichtlich langer Unterbringungsbedürftigkeit spätestens mit Ablauf von zwei Jahren, wenn sie nicht vorher verlängert wird. Die Befristung auf längstens ein Jahr stellt damit eine gesetzliche Begrenzung für die Dauer der Unterbringung dar, die nur unter besonderen Voraussetzungen überschritten werden darf. Wird über die regelmäßige Höchstfrist der geschlossenen Unterbringung von einem Jahr hinaus eine Unterbringung von bis zu zwei Jahren genehmigt oder angeordnet, ist diese Abweichung vom Regelfall im Hinblick auf den hohen Rang des Rechts auf Freiheit der Person ausreichend zu begründen. Solche Gründe können sich etwa aus konkreten Feststellungen über die Dauer einer notwendigen Therapie oder aus fehlenden Heilungs- und Besserungsaussichten bei anhaltender Eigengefährdung ergeben. Dabei erfordert das im Gesetz genannte Merkmal der „Offensichtlichkeit“, dass die Gründe für eine über ein Jahr hinaus währende Unterbringungsbedürftigkeit für das sachverständig beratene Gericht deutlich und erkennbar hervortreten (Senatsbeschluss [X.], 111 = FamRZ 2018, 950 Rn. 34 mwN).

Denn die Freiheit der Person ist ein so hohes Rechtsgut, dass sie nur aus besonders gewichtigem Grund angetastet werden darf. Die Einschränkung dieser Freiheit ist daher auch hinsichtlich ihrer Dauer stets der strengen Prüfung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu unterziehen (Senatsbeschluss [X.], 111 = FamRZ 2018, 950 Rn. 19). Bei der Anordnung einer Freiheitsentziehung über ein Jahr hinaus muss dies nach dem Gesetz besonders in den Blick genommen werden. Die Prüfung der Erforderlichkeit ist hierbei auch im Hinblick darauf vorzunehmen, dass der Anspruch auf persönliche Freiheit mit Fortdauer der Unterbringung an Gewicht gewinnt und dem psychisch Kranken in gewissen Grenzen die „Freiheit zur Krankheit“ belassen werden muss, und deshalb die langfristige Unterbringung eines psychisch Kranken - wie des Betroffenen des vorliegenden Verfahrens - ohne die Perspektive auf Wiedererlangung der Freiheit auch unter dem Blickwinkel des Erwachsenenschutzes jedenfalls bei Krankheitsbildern wie dem des Betroffenen nur im Ausnahmefall gerechtfertigt sein wird (vgl. [X.] FamRZ 2015, 1367 Rn. 18 mwN und [X.], 895, 896; Senatsbeschluss [X.], 111 = FamRZ 2018, 950 Rn. 24 mwN).

bb) Dem genügt der angefochtene Beschluss weder, soweit er die vorliegende Symptomatik referiert, noch indem er Bezug auf die amtsgerichtliche Entscheidung nimmt, mit der auf die Ausführungen des Sachverständigen verwiesen wird.

3. Der angegriffene Beschluss kann daher keinen Bestand haben. Er ist nach § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben und die Sache ist an das [X.] zurückzuverweisen.

[X.]     

      

[X.]     

      

Günter

      

Nedden-Boeger     

      

Botur     

      

Meta

XII ZB 35/22

30.03.2022

Bundesgerichtshof 12. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Würzburg, 23. Dezember 2021, Az: 3 T 1561/21

§ 329 Abs 1 S 1 FamFG, § 1906 Abs 1 Nr 1 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 30.03.2022, Az. XII ZB 35/22 (REWIS RS 2022, 434)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 434 MDR 2022, 840 REWIS RS 2022, 434

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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XII ZB 219/23

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