Bundesgerichtshof, Urteil vom 04.10.2017, Az. 2 StR 219/15

2. Strafsenat | REWIS RS 2017, 4474

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Gegenstand

Sexueller Kindesmissbrauch: Auswirkung des zeitlichen Abstandes zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung; Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 21. Januar 2015 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

a) soweit er in den Fällen II.2. und [X.] der Urteilsgründe verurteilt wurde,

b) im Ausspruch über die Einzelstrafe im Fall II.3. der Urteilsgründe,

c) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen versuchter sexueller Nötigung und sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich seine auf eine Verfahrensrüge und die Sachbeschwerde gestützte Revision. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet.

I.

2

Das [X.] hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

3

1. Der Angeklagte lebte zur Tatzeit mit    Sch.   , der Großmutter der Nebenklägerin, zusammen. In der [X.] vom [X.] 1995 bis Anfang 2010 kam es zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten auf deren Enkelin, die am 17. Januar 1993 geborene Nebenklägerin      [X.], sowie auf die am 21. August 1988 geborene Zeugin     M.  . Weitere sexuelle Übergriffe waren nicht konkretisierbar; insoweit hat das [X.] den Angeklagten freigesprochen. Festgestellt wurden folgende Vorkommnisse:

4

a) Zu einem unbekannt gebliebenen [X.]punkt zwischen dem 21. August 1995 und dem 1. Dezember 1996 missbrauchte der Angeklagte      M.  , indem er das Kind auf den Esstisch setzte, dessen Beine auseinanderdrückte und seinen Penis für kurze [X.] an ihrem Genitalbereich rieb, um sich sexuell zu erregen (Fall II.1. der Urteilsgründe).

5

b) An einem Morgen im [X.]raum zwischen dem 17. Januar 1997 und [X.] 1999 missbrauchte der Angeklagte die Nebenklägerin, die im Bett auf dem Bauch lag, indem er sie an Brust und Scheide anfasste. Letzteres verursachte der Nebenklägerin Schmerzen (Fall II.2. der Urteilsgründe).

6

c) Im [X.]raum zwischen [X.] 2003 und [X.] 2005 missbrauchte der Angeklagte die Nebenklägerin im Gästezimmer der Wohnung ihrer Großmutter, indem er ihr die Hosen auszog, sie an Brust und Scheide anfasste und an ihrer Scheide leckte (Fall II.3. der Urteilsgründe).

7

d) Bei einem Besuch der Familie der Nebenklägerin im [X.]raum vom 28. September 2000 bis zum 28. Mai 2009 legte sich der Angeklagte hinter die Nebenklägerin ins Bett und fasste sie entweder an der Scheide an oder rieb seinen Penis daran (Fall [X.] der Urteilsgründe).

8

e) An einem Tag im [X.]raum zwischen dem 17. Januar 2007 und dem 16. Januar 2010 wollte der Angeklagte erneut sexuelle Handlungen an der Nebenklägerin vornehmen. Diese wehrte sich jedoch durch Schläge und Tritte. „Um sein Vorhaben umzusetzen, drohte er der Nebenklägerin nunmehr, sie zu vergewaltigen, wenn sie ihm nicht freiwillig zu Willen sei. Er hatte jedoch nicht vor, tatsächlich Gewalt anzuwenden. Als seine Drohung keine Wirkung zeigte und der Angeklagte erkannte, dadurch nicht zu seinem Ziel zu gelangen, verließ er [X.]“ (Fall [X.] der Urteilsgründe).

9

2. Das [X.] hat sich in den Fällen II.2., II.3. und [X.] nicht davon überzeugen können, dass der Angeklagte, wie dies die Anklage angenommen hat, auch in die Scheide der Nebenklägerin eingedrungen ist. Im Fall [X.] ist es nicht zu einer Verurteilung gelangt, weil es nicht feststellen konnte, dass die sexuelle Handlung vor Überschreiten der Schutzaltersgrenze der Nebenklägerin im Sinne von § 176 Abs. 1 StGB begangen wurde. In den Fällen II.1. bis II.3. der Urteilsgründe ist es jeweils von sexuellem Missbrauch eines Kindes ausgegangen; im Fall [X.] der Urteilsgründe hat es den Versuch einer sexuellen Nötigung angenommen.

II.

Der [X.] hat durch Beschluss vom 6. April 2016 die Revisionshauptverhandlung im Hinblick auf das Anfrage- und Vorlageverfahren des 3. Strafsenats in der Sache 3 [X.] unterbrochen. Er setzt die Hauptverhandlung fort, nachdem der [X.] des [X.] für Strafsachen durch Beschluss vom 12. Juni 2017 – [X.] (NJW 2017, 3537 ff., für [X.]St bestimmt) über die Vorlage entschieden hat.

III.

Die Revision des Angeklagten ist teilweise begründet.

1. Soweit es um die Taten zum Nachteil der Nebenklägerin geht, gilt Folgendes:

a) Der Schuldspruch hinsichtlich der Tat im Fall II.3. ist rechtsfehlerfrei; jedoch begegnet die Begründung der Zumessung der Einzelstrafe hierfür durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

aa) Die Feststellungen zur Tatbegehung im Fall II.3. der Urteilsgründe sind rechtlich nicht zu beanstanden. Insoweit liegt keine Konstellation vor, in der nur „Aussage gegen Aussage“ stünde. Der Angeklagte, der zuvor alle Vorwürfe bestritten hatte, hat die Tat im Fall II.3. in der Hauptverhandlung eingeräumt. Sein Geständnis wird durch die Zeugenaussage der Nebenklägerin bestätigt. Da das [X.] den insoweit übereinstimmenden Angaben des Angeklagten und der Nebenklägerin gefolgt ist, liegt kein Rechtsfehler der Beweiswürdigung vor.

bb) Das [X.] hat im Fall II.3. der Urteilsgründe einen minder schweren Fall des sexuellen Missbrauchs eines Kindes nach § 176 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 StGB a.F. verneint und bei der Strafzumessung im engeren Sinne auf die diesbezügliche Begründung Bezug genommen. Dabei hat es darauf verwiesen, dass die Tat bereits lange [X.]; diesen Strafmilderungsgrund hat es jedoch mit der Bemerkung relativiert: „Allerdings kommt dem langen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil bei [X.] nicht die gleich hohe Bedeutung zu wie in anderen Fällen (vgl. [X.], 393).“

Die Überlegung trifft in dieser Allgemeinheit nicht mehr zu. Der [X.] für Strafsachen des [X.] hat am 12. Juni 2017 – [X.] – in Abänderung der vom [X.] zitierten Entscheidung des 1. Strafsenats für recht erkannt: „Dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil kommt im Rahmen der Strafzumessung bei Taten, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zum Gegenstand haben, die gleiche Bedeutung zu wie bei anderen Straftaten.“ Danach kann entgegen der früheren Entscheidung des 1. Strafsenats des [X.] nicht mehr generell davon ausgegangen werden, dass der [X.]ablauf zwischen Tat und Urteil in Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern eine andere Bedeutung für die Strafzumessung habe, als sie bei anderen Delikten anzunehmen ist.

Daran ändert nach Ansicht des Großen [X.]s für Strafsachen die Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB nichts, wonach die Verjährung der Strafverfolgung bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 180 Abs. 3, §§ 182, 225, 226a und 237 StGB ruht. Mit dieser verjährungsrechtlichen Regelung soll der besonderen Bedeutung des Anzeige- und [X.] von Opfern des sexuellen Missbrauchs im Kindes- oder Jugendalter Rechnung getragen werden, die sich bei der Tatbegehung im [X.] Nahbereich in einer Abhängigkeit vom Täter befinden und dadurch in ihrer Bereitschaft zur Strafanzeige und zur Aussage gegen den Beschuldigten gehemmt sein können. Jedoch wirkt sich die verjährungsrechtliche Regelung nicht ohne weiteres auf die Bewertung des [X.]ablaufs zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung aus. Die Umstände, die das gesetzgeberische Motiv für die besondere Regelung des Ruhens der Verjährung der Strafverfolgung bilden, können zwar auch den Strafzumessungsaspekt des langen [X.]ablaufs zwischen Tat und Urteil beeinflussen. Dies bedarf aber einer Prüfung des Tatgerichts im Einzelfall. Es rechtfertigt nicht die generelle Annahme, dem [X.]ablauf komme bei der Strafzumessung in Fällen des sexuellen Missbrauchs nicht die gleiche Bedeutung zu, wie bei anderen Delikten. Danach ist der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung nicht mehr deliktsgruppenspezifisch, sondern einzelfallbezogen zu würdigen.

Das [X.] hat sich mit den Umständen des Einzelfalls hinsichtlich der Beziehung zwischen Täter und Opfer im Lauf der [X.] zwischen Tat und Urteil nicht auseinandergesetzt, sondern allgemein und deliktsspezifisch die Bedeutung des langen [X.]ablaufs zwischen Tat und Urteil relativiert. Der [X.] kann die aufgrund des veränderten Maßstabs erforderliche Würdigung nicht selbst vornehmen und daher nicht ausschließen, dass die Verneinung eines minder schweren Falls und die Strafzumessung im engeren Sinne auf der rechtlich fehlerhaften Erwägung beruht.

b) Die Verurteilung des Angeklagten in den Fällen II.2. und [X.] der Urteilsgründe hat insgesamt keinen Bestand. Insoweit ist die Beweiswürdigung des [X.]s nicht tragfähig.

aa) Die Beweiswürdigung ist Aufgabe des Tatgerichts. Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Darüber hinaus hat der [X.] in Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, besondere Anforderungen an die Darlegung einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung und ihrer Grundlagen formuliert. Die Urteilsgründe müssen dann für das Revisionsgericht genau erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt hat (vgl. [X.], Urteil vom 6. April 2016 – 2 StR 408/15). Gerade bei Sexualdelikten sind die Entstehung und die Entwicklung der belastenden Aussage von besonderer Bedeutung (vgl. [X.], Beschluss vom 13. Juni 2017 – 2 [X.], [X.], 319 f.). Hat die Geschädigte zum Teil Angaben gemacht, der das Tatgericht nicht folgt, ist besondere Vorsicht bei der Beweiswürdigung hinsichtlich der übrigen Aussageteile geboten (vgl. [X.], Urteil vom 20. Juli 2016 – 2 StR 59/16).

bb) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht, weshalb die Verurteilung des Angeklagten in den Fällen II.2. und [X.] keinen Bestand haben kann.

(1) Das [X.] hat es als Hinweis auf die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin gewertet, dass ihre erste [X.] gegenüber den Eltern „in einer Drucksituation eher zufällig“ erfolgt sei. Dabei habe sie auf mehrmaliges Nachfragen eine Missbrauchsbehauptung aufgestellt, aber nur wenig preisgegeben. Im Urteil wird nicht erörtert, ob diese Behauptung möglicherweise allein der Drucksituation geschuldet war.

Hatte zudem nach den Urteilsfeststellungen bei der anschließenden polizeilichen Vernehmung eine „suggestive Befragung“ stattgefunden, wäre in Betracht zu ziehen gewesen, dass weitere Details erst in diesem Zusammenhang entwickelt worden sein können, ohne dass dies auf einen Erlebnisbezug der Behauptungen schließen lässt. Der Hinweis des [X.]s, dass die suggestiven Elemente in der polizeilichen Vernehmung nicht die Taten des sexuellen Missbrauchs eines Kindes (§ 176 StGB) im Umfang der Feststellungen betroffen hätten, sondern Qualifikationen durch Penetration (§ 176a Abs. 2 StGB), die das [X.] nicht festgestellt hat, genügt insoweit nicht. Das [X.] hat in der Behauptung einer Penetration eine möglicherweise unzutreffende Mehrbelastung des Angeklagten durch die Nebenklägerin gesehen. Dies weckt weiter gehende Bedenken gegen die Glaubhaftigkeit der übrigen belastenden Angaben, die das [X.] nicht ausgeräumt hat.

(2) Das [X.] hat hervorgehoben, die in der Hauptverhandlung gemachten Angaben der Nebenklägerin entsprächen im Handlungskern dem Geschehen, das sie bei der Polizei und gegenüber der psychiatrischen Sachverständigen geschildert habe. Zugleich hat es aber die [X.] bei der Schilderung einzelner Übergriffe festgehalten und dies damit erklärt, dass die Erinnerung der Nebenklägerin an das Geschehen wegen einer Vielzahl gleichartiger Handlungen erschwert sei. Durch [X.] wird aber die Bedeutung des [X.] vermindert (vgl. [X.], Beschluss vom 28. Oktober 1999 – 4 [X.], [X.], 123, 124; [X.], Beschluss vom 11. Oktober 2010 – 2 StR 403/10). Zudem hat die Nebenklägerin eingeräumt, vor ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung die Vernehmungsprotokolle aus dem Vorverfahren gelesen zu haben. Auch dies kann die [X.] der detailarmen Mitteilungen erklären. Die Urteilsgründe lassen nicht erkennen, dass das [X.] dies bei seiner Gesamtwürdigung aller Umstände im erforderlichen Maß bedacht hat.

(3) Das [X.] hat nicht feststellen können, ob die bei der Nebenklägerin durch die psychiatrischen Sachverständigen diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung, die zusätzlich vorhandene [X.] und die außerdem diagnostizierte depressive Erkrankung auf die Taten zurückzuführen sind. Deshalb hat es diese Beeinträchtigungen auch nicht strafschärfend bewertet. Andererseits hat es von der Nebenklägerin beschriebene Flashbacks und Dissoziationen als Realkennzeichen gewertet. Das [X.] hat diesen Widerspruch nicht aufgelöst. Es hat zwar eine kinderpsychiatrische Sachverständige vernommen; deren Ausführungen hat es im Urteil aber nicht erläutert.

(4) Das [X.] hat ferner angenommen, das äußere Erscheinungsbild der Nebenklägerin bei der Vernehmung in der Hauptverhandlung deute „im Endeffekt ebenfalls die Richtigkeit“ ihrer Angaben an. Dies ist angesichts der Unklarheit der Ursachen der psychischen Beeinträchtigungen der Nebenklägerin und der Schwierigkeit der Deutung ihrer Wirkungen nicht nachzuvollziehen.

(5) Unklar bleibt die Annahme des [X.]s, es gebe keinen durchgreifenden Hinweis darauf, dass ein [X.], den die Nebenklägerin über ihre Missbrauchsbehauptungen geführt hatte, ohne suggestive Wirkung auf ihre Erinnerungen geblieben sei. Es hat betont, die Nebenklägerin sei nach der Trennung von etwaigen Suggestoren bei ihren Angaben geblieben. Die psychiatrische Sachverständige habe dazu erklärt, eine suggestiv beeinflusste [X.] distanziere sich „regelmäßig“ von der suggestiven Erinnerung, wenn sie vom Suggestor getrennt sei. Dieser Hinweis in den Urteilsgründen lässt besorgen, dass das [X.] von einem Erfahrungssatz ausgegangen ist, der so nicht besteht.

cc) Insgesamt hätte das [X.] die Aspekte der erstmaligen [X.] des Missbrauchsvorwurfs in einer Drucksituation, die anschließende suggestive Form der Befragung bei der polizeilichen Vernehmung, die [X.] der Angaben mit der Folge der Relativierung des Glaubhaftigkeitskriteriums der Aussagekonstanz, die Unklarheit der Ursachen der psychischen Beeinträchtigungen der Nebenklägerin, die Fragwürdigkeit des persönlichen Erscheinungsbild bei der Vernehmung in der Haupthandlung und mögliche suggestive Einflüsse bei der Internetkommunikation über die Missbrauchsproblematik nicht nur einzeln betrachten, sondern auch hinsichtlich einer möglichen Wechselwirkung der Beweisbedeutung dieser Umstände im Rahmen einer Gesamtschau würdigen müssen, um zu prüfen, ob insoweit eine unzutreffende Mehrbelastung des Angeklagten durch die Nebenklägerin vorliegt.

2. Die Verurteilung des Angeklagten wegen einer Tat zum Nachteil der Zeugin [X.]ist dagegen rechtlich nicht zu beanstanden.

a) Insoweit greift die Verfahrensrüge nicht durch, das [X.] habe einen wiederholten Antrag der Verteidigung auf Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens zu Unrecht zurückgewiesen.

aa) Die Verteidigung hatte die Einholung eines solchen Gutachtens zunächst mit der Begründung beantragt, dass die angeklagte Tat bereits 19 bis 20 Jahre zurückliege und die Zeugin [X.]damals erst 4 bis 5 Jahre alt gewesen sei. Das [X.] hatte diesen Antrag im Hinblick auf ausreichende eigene Sachkunde und den Hinweis der psychiatrischen Sachverständigen, die zur Begutachtung der Nebenklägerin hinzugezogen worden war, zurückgewiesen, es lägen „keine psychologischen oder psychiatrischen Anhaltspunkte“ vor, „die eine Glaubwürdigkeitsbeurteilung durch einen Sachverständigen erforderlich erscheinen lassen“. Später hat die Verteidigung den Antrag auf Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens wiederholt und damit ergänzt, dass die Zeugin [X.]zum Teil unterschiedliche Angaben gemacht habe. Den Beweisantrag hat die [X.] erneut abgelehnt, weil „weiterhin keine besonderen Umstände“ vorlägen, welche die Hinzuziehung eines Sachverständigen gebieten könnten. „Die von der Verteidigung im erneuten Antrag vorgebrachten Argumente betreffen die vom Gericht zu leistende und ohne die Hinzuziehung eines Sachverständigen leistbare Würdigung der Glaubhaftigkeit der Aussage und der Glaubwürdigkeit der Zeugin“.

bb) Diese Begründung ist rechtsfehlerfrei. Die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener, sondern auch kindlicher oder jugendlicher Zeugen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut. Die Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens ist nur dann geboten, wenn der Sachverhalt oder die [X.] des Zeugen solche Besonderheiten aufweist, dass Zweifel daran aufkommen können, ob die Sachkunde des Gerichts auch zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit unter den gegebenen besonderen Umständen ausreicht (vgl. [X.], Beschluss vom 25. April 2006 – 1 [X.], [X.], 242 f.). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier aber nicht allein deshalb vor, weil zwischen Tat und Urteil lange [X.] vergangen ist, die Zeugin zur Tatzeit noch ein Kind war und ihre Angaben in bestimmten Punkten keine [X.] aufweisen. Dies sind Umstände, die ein Strafrichter aus eigener Sachkunde beurteilen kann. Nach der Auskunft der psychiatrischen Sachverständigen konnte das [X.] zudem ohne Rechtsfehler davon ausgehen, dass kein psychopathologischer Befund bei der Zeugin vorliegt, der ausnahmsweise die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen nahegelegt hätte.

b) Auch die Beweiswürdigung des [X.]s ist rechtsfehlerfrei.

Die Tatsache, dass die Zeugin bei der ersten polizeilichen Vernehmung von mehreren sexuellen Übergriffen gesprochen hatte, aber in der Hauptverhandlung auch auf Vorhalt nur von einer Begebenheit ausging, hat die [X.] damit erklärt, dass bei langem [X.]ablauf die Erinnerungen „verschwimmen“. Dagegen ist rechtlich nichts zu erinnern. Die vom [X.] gezogene Schlussfolgerung ist möglich.

Der Hinweis der Revision darauf, dass die Mutter der Geschädigten ausgesagt hatte, diese habe ihr gegenüber geschildert, der Angeklagte habe bei einem Übergriff einen nackten Oberkörper gehabt, was sich in den Zeugenaussagen der Geschädigten nicht wieder finde, deckt ebenfalls keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Das [X.] hat diesen Aspekt als unerheblich bezeichnet, weil die Mutter der Geschädigten sich nach seiner Überzeugung „diesbezüglich nicht richtig erinnert oder Angaben von      [X.]nicht richtig wahrgenommen“ habe. Auch dabei handelt es sich um mögliche Schlussfolgerungen aus den festgestellten Tatsachen, die auch keinen Widerspruch der Urteilsgründe ergeben.

[X.]     

      

Eschelbach     

      

Bartel

      

Grube     

      

[X.]     

      

Meta

2 StR 219/15

04.10.2017

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend BGH, 6. April 2016, Az: 2 StR 219/15, Beschluss

§ 46 Abs 1 StGB, § 78 Abs 1 Nr 1 StGB, § 176 StGB, § 244 Abs 4 S 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 04.10.2017, Az. 2 StR 219/15 (REWIS RS 2017, 4474)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 4474


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 2 StR 219/15

Bundesgerichtshof, 2 StR 219/15, 04.10.2017.

Bundesgerichtshof, 2 StR 219/15, 06.04.2016.


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