Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 10.06.2020, Az. 1 BvR 572/20

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2020, 2866

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Anforderungen an die fachgerichtliche Konkretisierung der Annahme einer Kindeswohlgefährdung bei der Entscheidung über eine vorläufige Sorgerechtsentziehung - Verschaffungsobliegenheit hinsichtlich Unterlagen aus dem fachgerichtlichen Verfahren, die zur hinreichenden Substantiierung der Verfassungsbeschwerde notwendig sind - hier: Verfassungsbeschwerde gegen vorläufige Sorgerechtsentziehung mangels hinreichender Begründung unzulässig


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).

Gründe

1

Die Beschwerdeführerin wendet sich, auch im Wege des [X.], gegen den im einstweiligen [X.] erfolgten Entzug weiter Teile des elterlichen Sorgerechts für ihren im November 2007 geborenen [X.].

2

1. a) Die Beschwerdeführerin ist Mutter von vier Kindern, von denen zwei noch minderjährig sind. Für den ursprünglich in ihrem Haushalt wohnenden [X.] hatte sie das alleinige Sorgerecht.

3

b) Das [X.] leitete im Juli 2018 von Amts wegen ein Verfahren zum Entzug der elterlichen Sorge für den [X.] der Beschwerdeführerin ein. Auslöser dafür war der Bericht eines Sozialarbeiters, der die Umgänge der Beschwerdeführerin mit ihrer Tochter begleitete. Dessen Wahrnehmungen enthielten Anhaltspunkte für eine eingeschränkte Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin, die zu einer Gefährdung des seelischen Wohls des [X.]es führen könnte. Gestützt auf die Einschätzung der für den [X.] bestellten [X.] und des zuständigen [X.] sah das [X.] zunächst von Maßnahmen nach § 1666 BGB ab, weil der [X.] aktuell noch in der Lage sei, mit dem Verhalten der Mutter umzugehen.

4

c) Nachdem das Jugendamt Kenntnis von mehreren Vorfällen unter anderem mit erheblichem gewalttätigen Verhalten des [X.]es der Beschwerdeführerin gegenüber anderen Kindern in der Schule und im Hort erlangt hatte, leitete das [X.] auf Anregung des [X.] erneut ein Verfahren zur vorläufigen Entziehung der elterlichen Sorge für diesen ein. Im Rahmen des einstweiligen [X.] holte es eine Stellungnahme der [X.] ein. Im September 2019 hörte es den [X.] sowie im Oktober 2019 die Beschwerdeführerin persönlich an. In diesem Termin nahmen die [X.] und das Jugendamt erneut Stellung. Das [X.] hörte zudem die ehemalige Klassenlehrerin des [X.]es, den Leiter des Hortes und eine Gruppenerzieherin aus dem Hort an, den der [X.] bis zum [X.] 2019 besucht hatte.

5

Mit angegriffenem Beschluss vom 1. Oktober 2019 entzog das [X.] der Beschwerdeführerin vorläufig weite Teile der elterlichen Sorge für ihren [X.], unter anderem das Aufenthaltsbestimmungsrecht, das Recht zur Gesundheitssorge sowie das Recht zur Regelung der schulischen Angelegenheiten und übertrug diese auf den Ergänzungspfleger. Diesem wurde das Kind herausgegeben, der es am 4. Oktober 2019 in einer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung unterbrachte, in der sich der [X.] der Beschwerdeführerin bis heute befindet. Das [X.] führte zur Begründung aus, auf der Grundlage des festgestellten Sachverhalts bestehe eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr für das Kindeswohl, dass sich ohne Maßnahmen des [X.]s bei einer weiteren aktuellen Entwicklung eine erhebliche Schädigung des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lasse. Bei den näher festgestellten erheblichen Gewalttätigkeiten des [X.]es handele es sich um "Hilferufe eines sich in großer seelischer Not befindenden Kindes". Die Beschwerdeführerin sei nicht in der Lage, die Gefahr für das Kindeswohl abzuwenden. Ihre Erziehungsfähigkeit sei aufgrund einer Persönlichkeitsstörung mit unreifen und impulsiven Wesenszügen sowie einer Störung der Impulskontrolle eingeschränkt. Die diesbezüglichen Annahmen stützte das [X.] auch auf zwei 2014 in früheren (wohl) familiengerichtlichen Verfahren eingeholte Sachverständigengutachten sowie auf die Schilderungen der im hier zugrundeliegenden Ausgangsverfahren gehörten Personen. Weniger eingriffsintensive Maßnahme als der weitgehende Entzug des Sorgerechts kämen wegen der fehlenden Mitwirkungsbereitschaft und Akzeptanz der Beschwerdeführerin nicht in Betracht. Im Hauptsacheverfahren hat das Amtsgericht ein Sachverständigengutachten zur Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin beauftragt. Das Gutachten liegt noch nicht vor.

6

c) Das [X.] lehnte am 13. Dezember 2019 eine Aussetzung der Vollziehung des familiengerichtlichen Beschlusses auf der Grundlage einer Folgenabwägung ab. Mit angegriffenem Beschluss vom 7. Februar 2020 wies es zudem die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen die vorläufige Sorgerechtsentscheidung des [X.]s zurück. Zur Begründung nahm das [X.] auf seinen Beschluss vom 13. Dezember 2019 Bezug. Die dort getroffene vorläufige Abwägung sei durch die weitere Entwicklung bestätigt worden. Ein (erneuter) [X.] des Kindes sei vor einer Entscheidung im Hauptsachverfahren zu vermeiden, um ihm die Möglichkeit rechtzeitiger therapeutischer Behandlung der bei ihm "diagnostizierten Verhaltensauffälligkeiten" zu erhalten.

7

Eine gegen die Beschwerdeentscheidung gerichtete Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin verwarf das [X.] mit Beschluss vom 25. März 2020 als unzulässig.

8

2. Die Beschwerdeführerin macht eine Verletzung ihres Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geltend und sieht ihren Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG nicht gewahrt. Sie beanstandet unter anderem unzureichende Feststellungen zur Kindeswohlgefährdung und bringt vor, die Fachgerichte hätten ihre Einwendungen gegen die Verwertbarkeit früherer, ihre Erziehungsfähigkeit betreffender Gutachten nicht gewürdigt. Zudem hätten sich die Gerichte nicht mit ihren Einwänden gegen die Stellungnahme der [X.] und des [X.] auseinandergesetzt.

9

Die [X.]beschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. [X.] nach § 93a Abs. 2 [X.] liegen nicht vor. Ihr kommt weder grundsätzliche Bedeutung zu, noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Grundrechte beziehungsweise grundrechtsgleichen Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt, denn die [X.]beschwerde ist unzulässig.

1. Die Beschwerdeführerin hat eine Verletzung ihrer Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte nicht in einer den Begründungs- und Substantiierungsanforderungen aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] genügenden Weise dargetan.

a) Danach muss sich die [X.]beschwerde mit dem zugrundeliegenden einfachen Recht sowie mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des vorgetragenen Sachverhalts auseinandersetzen und hinreichend substantiiert darlegen, dass eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint (vgl. [X.] 89, 155 <171>). Richtet sich die [X.]beschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung, bedarf es in der Regel einer ins Einzelne gehenden argumentativen Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung und ihrer konkreten Begründung. Dabei ist auch darzulegen, inwieweit das bezeichnete Grundrecht durch die angegriffene Entscheidung verletzt sein soll und mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen sie kollidiert (vgl. [X.] 88, 40 <45>; 99, 84 <87>; 101, 331 <345>; 108, 370 <386 f.>).

Bei gegen gerichtliche Entscheidungen gerichteten [X.]beschwerden zählt zu den Anforderungen an die hinreichende Begründung auch die Vorlage der angegriffenen Entscheidungen und derjenigen Schriftstücke, ohne deren Kenntnis sich die Berechtigung der geltend gemachten [X.] nicht beurteilen lässt, zumindest aber deren Wiedergabe ihrem wesentlichen Inhalt nach. Nur so wird das [X.] in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob die Entscheidungen mit dem Grundgesetz in Einklang stehen (vgl. [X.] 93, 266 <288>; 129, 269 <278>).

b) Diesen Anforderungen genügt die [X.]beschwerde insgesamt nicht.

aa) Soweit sie sich gegen den Beschluss des [X.]s vom 1. Oktober 2019 und die Beschwerdeentscheidung des [X.]s vom 7. Februar 2020 richtet, hat es die Beschwerdeführerin versäumt, für die Entscheidung über die [X.]beschwerde erforderliche Unterlagen vorzulegen oder zumindest ihrem wesentlichen Inhalt nach vorzutragen. Es handelt sich dabei um zwei in früheren, wohl ebenfalls das Sorgerecht der Beschwerdeführerin (möglicherweise für ihre Tochter A…) betreffenden gerichtlichen Verfahren eingeholte Sachverständigengutachten vom 17. August 2014 und vom 20. Oktober 2014, die sich zu ihrer Erziehungsfähigkeit verhalten. Das [X.] folgt in seinem angegriffenen Beschluss dem offenbar übereinstimmenden Ergebnis beider früherer Gutachterinnen über die aufgrund einer Persönlichkeitsstörung erheblich eingeschränkte Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin. Aus dieser Einschränkung leitet das [X.] sowohl ab, dass sie nicht in der Lage sei, die Gefährdung des Kindeswohls ihres [X.]es abzuwenden, als auch die Ungeeignetheit weniger eingriffsintensiver familiengerichtlicher Maßnahmen nach § 1666 BGB als den weitgehenden Entzug des Sorgerechts. Ohne Kenntnis zumindest der wesentlichen Inhalte dieser Gutachten kann nicht beurteilt werden, ob der mit einer Trennung des Kindes von seiner Mutter verbundene vorläufige Sorgerechtsentzug verfassungsrechtlicher Prüfung standhielte.

bb) Der in der unterbliebenen Vorlage der Gutachten liegende Begründungsmangel erfasst auch die gegen die Beschwerdeentscheidung des [X.]s gerichtete [X.]beschwerde. Das [X.] hat zwar weder in dem angegriffenen Beschluss vom 7. Februar 2020 noch in der vorausgegangenen, in Bezug genommenen Entscheidung vom 13. Dezember 2019 selbst näher die Kindeswohlgefährdung bei dem [X.] der Beschwerdeführerin dargelegt noch sich ausdrücklich zu weniger stark in ihr Elternrecht eingreifenden (vorläufigen) Maßnahmen verhalten, sondern vor allem auf die bereits jetzt bestehende Notwendigkeit einer umfassenden kinder- und jugendpsychotherapeutischen Behandlung der Verhaltensauffälligkeiten des Kindes hingewiesen. Damit dürfte es sich aber implizit die Feststellungen des [X.]s zur Kindeswohlgefährdung und zu der fehlenden Fähigkeit der Beschwerdeführerin, diese Gefährdung abzuwenden, zu eigen gemacht haben. Für die Prüfung der gegen die Beschwerdeentscheidung des [X.]s gerichtete [X.]beschwerde bedurfte es daher ebenfalls der Kenntnis vom Inhalt der beiden Gutachten.

cc) Aus der Begründung der [X.]beschwerde ergibt sich nicht in einer nachvollziehbaren Weise, dass der Beschwerdeführerin die Vorlage der beiden Sachverständigengutachten unmöglich oder unzumutbar ist (vgl. [X.] 48, 271 <280>; 131, 66 <82>). Soweit sie geltend macht, die beiden Gutachten könnten nicht als Anlagen beigefügt werden, weil das [X.] diese seinerseits "nicht vorgelegt" habe, begründet das weder die Unmöglichkeit noch die Unzumutbarkeit der Vorlage im [X.] durch sie. Selbst wenn die Beschwerdeführerin nicht (mehr) über die Gutachten verfügen sollte, obwohl sie an den Verfahren, für die diese erstellt wurden, beteiligt war, konnte sie sich die Sachverständigengutachten beziehungsweise deren Inhalt durch Akteneinsicht nach § 13 FamFG verschaffen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 24. Juni 2002 - 1 BvR 575/02 -, Rn. 34). Das Akteneinsichtsrecht aus § 13 Abs. 1 FamFG bezieht sich auch auf die Anlagen der Akten des gegenständlichen Verfahrens sowie auf beigezogene Akten, wenn diese ‒ wie hier ‒ zur Grundlage der Entscheidungsfindung gemacht wurden (vgl. [X.], Beschluss vom 19. Juli 2018 - [X.] -, Rn. 8; [X.]/[X.], in: [X.]/[X.], FamFG, 6. Aufl. 2018, § 13 Rn. 3; Sternal, in: [X.], FamFG, 20. Aufl. 2020, § 13 Rn. 21 m.w.N.).

dd) Soweit sich die [X.]beschwerde gegen den ihre fachrechtliche Anhörungsrüge zurückweisenden Beschluss des [X.]s vom 25. März 2020 richtet, zeigt die Beschwerdeführerin nicht in einer § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] genügenden Weise auf, dass das [X.] entgegen dem ausdrücklichen Inhalt der angegriffenen Entscheidung entscheidungserhebliches Vorbringen nicht zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat.

c) Eine Verletzung der von der Beschwerdeführerin als beeinträchtigt geltend gemachten Grundrechte beziehungsweise grundrechtsgleichen Rechte liegt auch nicht derart auf der Hand (vgl. dazu [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 24. August 2010 - 1 BvR 1584/10 -, Rn. 3), dass ausnahmsweise auf die aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] folgenden Anforderungen an die Begründung der [X.]beschwerde verzichtet werden könnte. Ohne die offenbar die Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin betreffenden, in vorausgegangenen familiengerichtlichen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten kann nicht verantwortbar beurteilt werden, ob ein vorläufiger Entzug ihres Sorgerechts ohne Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG angeordnet werden durfte.

d) Angesichts der den gesetzlichen Anforderungen nicht entsprechenden Begründung der [X.]beschwerde kann offenbleiben, ob diese, soweit sie sich gegen den Beschluss des [X.]s richtet, auch wegen prozessualer Überholung aufgrund der vom Beschwerdegericht getroffenen eigenen Sachentscheidung unzulässig ist.

2. Wegen der unterbliebenen Vorlage für die Entscheidung über die [X.]beschwerde erforderlicher Unterlagen muss dahinstehen, ob die Beschlüsse des Amtsgerichts vom 1. Oktober 2019 und des [X.]s vom 7. Februar 2020 über die vorläufige Entziehung des Sorgerechts den dafür maßgeblichen verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG genügen, auch wenn daran ‒ soweit ohne die fehlenden Unterlagen beurteilbar ‒ Zweifel bestehen. Diese Zweifel rühren vor allem aus den wenig konkreten Feststellungen der Fachgerichte zu Art und Ausmaß der Kindeswohlgefährdung her.

a) Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz dieses Rechts erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts (vgl. [X.] 84, 168 <180>; 107, 150 <173>).

aa) Eine ‒ hier erfolgte ‒ räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen stellt den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar, der nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen oder aufrechterhalten werden darf (vgl. nur [X.] 60, 79, <88 ff.>; stRspr). Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt diesen Eingriff lediglich unter der strengen Voraussetzung, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre (vgl. [X.] 60, 79 <91>; 72, 122, <140>; 136, 382 <391 Rn. 28>; stRspr). Eine solche Gefährdung des Kindes ist dann anzunehmen, wenn bei ihm bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 3. Februar 2017 - 1 BvR 2569/16 -, Rn. 44; Beschluss der [X.] des [X.] vom 23. April 2018 - 1 BvR 383/18 -, Rn. 16 jeweils m.w.N.).

bb) Für die Fachgerichte ergibt sich aus Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG das Gebot, die dem Kind drohenden Schäden ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach konkret zu benennen und sie vor dem Hintergrund des grundrechtlichen Schutzes vor der Trennung des Kindes von seinen Eltern zu bewerten. Die Fachgerichte werden dem regelmäßig nicht gerecht, wenn sie ihren Blick nur auf die Verhaltensweisen der Eltern lenken, ohne die sich daraus ergebenden schwerwiegenden Konsequenzen für die Eltern darzulegen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 14. Juni 2014 - 1 BvR 725/14 -, Rn. 24 und 26 f.; Beschluss der [X.] des [X.] vom 19. November 2014 - 1 BvR 1178/14 -, Rn. 37 m.w.N.).

b) Soweit dies auf der Grundlage der eingereichten Unterlagen beurteilt werden kann, bestehen Zweifel, ob Amts- und [X.] diese grundsätzlich auch im fachrechtlichen Eilverfahren zu beachtenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Feststellungen einer Kindeswohlgefährdung hinreichend in den Blick genommen haben.

aa) Das [X.] ist von einer drohenden Kindeswohlgefährdung ausgegangen, die ohne den [X.] und die Fremdunterbringung des [X.]es der Beschwerdeführerin mit ziemlicher Sicherheit zu dessen erheblicher Schädigung führen werde. Dem Gesamtzusammenhang seines Beschlusses lässt sich entnehmen, dass das [X.] wohl eine Gefährdung des seelischen Wohls des Kindes annimmt. Diese leitet es aus dem für die Jahre 2018 und 2019 festgestellten, mehrfachen, erheblich fremdaggressiven Verhalten des [X.]es zum Nachteil von Mitschülern sowie der objektivtatbestandlich § 17 [X.] unterfallenden Tötung eines Vogels (wohl einer Taube) mittels mehrerer Stockschläge durch den [X.] der Beschwerdeführerin ab. Derartige Verhaltensweisen eines Kindes, die mit Erreichen der Altersschwelle strafrechtlicher Verantwortlichkeit (vgl. § 19 StGB, § 3 JGG) zu jugendstrafrechtlichen Konsequenzen führen können, mögen Ausdruck einer erheblichen Gefährdung des Kindeswohls sein und dementsprechend grundsätzlich Maßnahmen nach § 1666 BGB begründen können. Allerdings hat sich das [X.] vorliegend weitgehend auf die Beschreibung der tatsächlichen Geschehnisse beschränkt und sie ohne weitergehende Begründung als Ausdruck eines in großer seelischer Not befindlichen Kindes gedeutet. Nähere Erwägungen zu der Art und der Schwere der Kindeswohlgefährdung enthält der familiengerichtliche Beschluss nicht. Auch wenn im fachgerichtlichen einstweiligen [X.] die praktisch verfügbaren [X.] angesichts der spezifischen Eilbedürftigkeit dieser Verfahren regelmäßig hinter denen des Hauptsacheverfahrens zurückbleiben und insbesondere die Einholung eines Sachverständigengutachtens bereits im einstweiligen [X.] aus zeitlichen Gründen von [X.] wegen nicht stets geboten ist (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 23. April 2018 - 1 BvR 383/18 -, Rn. 18 m.w.N.), kann im Rahmen der unter den Bedingungen des Eilverfahrens möglichen Sachverhaltsaufklärung auf konkrete Feststellungen zu Art und Ausmaß der Kindeswohlgefährdung nicht gänzlich verzichtet werden. Entsprechendes gilt für die Feststellung und Beurteilung dazu, dass auch unter Berücksichtigung der negativen Folgen einer Trennung des Kindes von den Eltern eine hinreichende Aussicht auf Beseitigung der drohenden Kindeswohlgefährdung besteht und sich seine Situation in der Gesamtbetrachtung verbessert (zum Maßstab vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 22. Mai 2014 - 1 BvR 3190/13 -, Rn. 31; Beschluss der [X.] des [X.] vom 23. April 2018 - 1 BvR 383/18 -, Rn. 16 m.w.N.).

Ob die Erwägungen des [X.]s zu der fehlenden Fähigkeit der Beschwerdeführerin, der drohenden Kindeswohlgefährdung zu begegnen, verfassungsrechtlicher Prüfung standhielten, kann wegen der unterbliebenen Vorlage der ihre Erziehungsfähigkeit betreffenden Gutachten, auf die sich der angegriffene Beschluss stützt, nicht beurteilt werden.

bb) Auch die Beschwerdeentscheidung des [X.]s vom 7. Februar 2020 gibt nicht ohne weiteres zu erkennen, von welcher Art der Kindeswohlgefährdung es ausgeht. Den jeweils knappen Ausführungen des [X.]s sowohl in der genannten Entscheidung als auch in dem vorausgegangenen, nicht angegriffenen Beschluss vom 13. Dezember 2019 lässt sich der Sache nach wohl entnehmen, dass dieses die Schädigung oder Gefährdung des Kindeswohls in dessen Verhaltensauffälligkeiten sieht und diese bereits vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren für therapiebedürftig hält. Soweit das Gericht "diagnostizierte(n) Verhaltensauffälligkeiten" als gegeben erachtet, bleibt die Grundlage für die Annahme einer Diagnose undeutlich. Mehr als die beobachtenden Wahrnehmungen des Verhaltens des [X.]es der Beschwerdeführerin durch Lehr- und andere pädagogische Kräfte dürfte bislang nicht vorliegen, so dass von einer für die Diagnose charakteristischen zusammenfassenden Beurteilung erhobener Befunde nicht ohne weiteres gesprochen werden kann. Zwar ist durchaus plausibel, dass Anlass besteht, die Ursachen für das erheblich gewalttätige Verhalten des Kindes abzuklären und an die Ergebnisse der Abklärung anknüpfend eine therapeutische Behandlung einzuleiten. Das enthebt die Fachgerichte selbst im einstweiligen [X.] aber nicht der aus der Intensität des Eingriffs in das Elternrecht resultierenden Anforderung, Art und Schwere der Kindeswohlgefährdung im Rahmen des im einstweiligen [X.] Möglichen konkret festzustellen und in den Entscheidungsgründen darzulegen.

3. Die Fachgerichte werden im bereits eingeleiteten Hauptsacheverfahren zur elterlichen Sorge die verfassungsrechtlichen Erfordernisse ausreichend konkreter Feststellungen zu Art und Schwere der Kindeswohlgefährdung in den Blick nehmen müssen, zumal durch das bereits beauftragte Sachverständigengutachten und die Erkenntnisse der wohl eingeleiteten fachwissenschaftlichen Abklärung der Verhaltensauffälligkeiten des [X.]es der Beschwerdeführerin eine breitere Erkenntnisgrundlage zur Verfügung stehen wird.

4. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 572/20

10.06.2020

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG München, 25. März 2020, Az: 16 UF 1296/19, Beschluss

Art 6 Abs 2 S 1 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 1666 Abs 1 BGB, § 1666 Abs 3 Nr 6 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 10.06.2020, Az. 1 BvR 572/20 (REWIS RS 2020, 2866)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2866

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

1 BvR 836/20 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Zu den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes an fachgerichtliche Entscheidungen über die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts als …


1 BvR 528/19 (Bundesverfassungsgericht)

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Sorgerechtsentziehung zwecks Fremdunterbringung verletzt bei mangelnder Verhältnismäßigkeit der Maßnahme das Elternrecht - …


1 BvR 65/22 (Bundesverfassungsgericht)

Erfolgreicher Eilantrag auf Aussetzung einer sorgerechtlichen Entscheidung - drohender mehrfacher Wechsel des gesamten Lebensumfeldes und …


1 BvR 65/22 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Rückführung eines Kindes aus einer Pflegefamilien zu seinen leiblichen Eltern verletzt bei damit …


1 BvR 674/22 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Erfolglose Verfassungsbeschwerde bzgl Inobhutnahme eines Kindes und vorläufigem Sorgerechtsentzug - Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ua …


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.