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Abschiebungshaftsache: Haftgrund der Fluchtgefahr bei Identitätstäuschung; Auswirkungen des Vortäuschens der Passlosigkeit durch einen irakischen Asylsuchenden
Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss des [X.] vom 13. Januar 2020 und der Beschluss des [X.] - Zivilkammer 29 - vom 5. März 2020 den Betroffenen bis zu seiner Entlassung aus der Haft am 13. März 2020 in seinen Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der [X.] auferlegt.
Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 5.000 €.
I. Der Betroffene, ein [X.] Staatsangehöriger, reiste 2015 in das [X.] ein und stellte einen Asylantrag, der mit bestandskräftigem Bescheid des [X.] (fortan: [X.]) vom 4. September 2017 abgelehnt wurde. Er wurde aufgefordert, das [X.] innerhalb von 30 Tagen zu verlassen, und ihm wurde die Abschiebung in sein Heimatland angedroht. In der Folge wurde er wegen Passlosigkeit geduldet.
Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 13. Januar 2020 gegen den Betroffenen [X.] bis zum 16. März 2020 angeordnet. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat das [X.] zurückgewiesen. Nachdem der Senat die Vollziehung der [X.] durch Beschluss vom 13. März 2020 einstweilen ausgesetzt hat, will der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung feststellen lassen.
II. Das zulässige Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg.
1. Das Beschwerdegericht meint, die Haft sei von dem Amtsgericht zu Recht angeordnet worden. Insbesondere lägen die Voraussetzungen des Haftgrundes der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, Abs. 3a Nr. 1 [X.] vor, denn der Betroffene habe die Frage nach dem Vorhandensein eines Nationalpasses wahrheitswidrig verneint und diesen der Ausländerbehörde nicht vorgelegt.
2. Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
a) Die Feststellungen des [X.] tragen nicht den angenommenen Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, Abs. 3a Nr. 1 [X.].
aa) Nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 [X.] ist ein Ausländer in [X.] zu nehmen, wenn Fluchtgefahr besteht. Gemäß § 62 Abs. 3a Nr. 1 [X.] wird Fluchtgefahr widerleglich vermutet, wenn der Ausländer gegenüber den mit der Ausführung des Aufenthaltsgesetzes betrauten Behörden über seine Identität täuscht oder in einer für ein Abschiebungshindernis erheblichen Weise und in zeitlichem Zusammenhang mit der Abschiebung getäuscht hat und die Angabe nicht selbst berichtigt hat, insbesondere durch Unterdrückung oder Vernichtung von Identitäts- oder Reisedokumenten oder das Vorgeben einer falschen Identität.
bb) Es fehlt bereits an einer Täuschung des Betroffenen über seine Identität. Diese ergibt sich entgegen der Auffassung des [X.] nicht daraus, dass der Betroffene wahrheitswidrig angegeben hat, er habe keinen Pass, und diesen der Ausländerbehörde nicht vorgelegt hat.
(1) Eine Identitätstäuschung liegt vor, wenn der Betroffene seine wahre Identität nicht preisgibt, etwa durch die Angabe diverser Aliaspersonalien oder durch falsche Angaben zu seiner Person (vgl. [X.], Beschluss vom 19. Juli 2018 - [X.], [X.] 2018, 413 Rn. 17 f.; s.a. [X.], Beschluss vom 20. Mai 2016 - [X.], [X.] 2016, 335 Rn. 12 f., und [X.], Beschluss vom 29. Januar 2016 - 4 T 45/16, juris Rn. 19-22 - jeweils zur weitgehend gleichlautenden Vorschrift des § 2 Abs. 14 Nr. 2 [X.] aF, die nach der Vorstellung des Gesetzgebers in § 62 Abs. 3a Nr. 1 [X.] aufgegangen ist, vgl. Gesetzesbegründung zum Regierungsentwurf eines [X.] zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, BT-Drucks. 19/10047, [X.]). Für eine Identitätstäuschung können bei entsprechenden Begleitumständen bereits geringe Abweichungen bei den Personalien wie ein anderer Vorname und ein verändertes Geburtsdatum genügen (vgl. [X.], Beschluss vom 20. September 2018 - [X.], juris Rn. 19).
(2) Danach hat der Betroffene nicht über seine Identität getäuscht. Er hat von Beginn seines Kontakts mit Behörden in [X.] und auch in der Folge stets korrekte Angaben zu seinem Geburtsdatum, seinem Geburtsort und seiner Staatsangehörigkeit gemacht und auch seinen Namen offen gelegt. Seine Angaben entsprechen den Eintragungen in seinem [X.] Pass, den er in Kopie am 25. November 2019 an die beteiligte Behörde gesandt hat. Bereits im Rahmen der Anhörung vom 29. Februar 2016 zu seinem Asylantrag zeigte er das Original seiner [X.] Staatsbürgerschaftsurkunde und seinen [X.] Personalausweis vor, wovon Kopien zur Akte des [X.]s genommen worden sind. Diese Dokumente waren auch der beteiligten Behörde bekannt.
(3) Entgegen der Auffassung der beteiligten Behörde kann eine Identitätstäuschung nicht deshalb angenommen werden, weil in dem Anmeldebogen vom 20. Juni 2015 die Schreibweise des ersten Vornamens und des Nachnamens des Betroffenen von der Schreibweise in seinem [X.] Pass abweicht. Denn über die Identität des Betroffenen bestanden auf Grund der nach dem 20. Juni 2015 gemachten Angaben des Betroffenen und der Vorlage von [X.] keine Zweifel. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Anmeldebogen vom 20. Juni 2015 von einem Sprachmittler und nicht von dem Betroffenen selbst ausgefüllt worden ist und es bei der Übertragung arabisch geschriebener Namen in die lateinische Schrift zu Abweichungen kommen kann (vgl. [X.], Beschluss vom 20. September 2018 - [X.], juris Rn. 18). Schließlich liegen die Angaben vom 20. Juni 2015 bezogen auf den Zeitpunkt der Haftanordnung vom 13. Januar 2020 zu weit in der Vergangenheit, um zur Begründung einer Fluchtgefahr herangezogen werden zu können. Denn nach § 62 Abs. 3a Nr. 1 [X.] muss die Identitätstäuschung "in zeitlichem Zusammenhang mit der Abschiebung" erfolgt sein, weswegen aufgedeckte vergangene Vorgänge, die zeitlich so weit zurückliegen, dass der Schluss auf eine Fluchtgefahr im Sinne einer widerleglichen Vermutung unverhältnismäßig wäre, von der Vermutungsregelung ausgenommen sind (vgl. Gesetzesbegründung zum Regierungsentwurf eines [X.] zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, BT-Drucks. 19/10047, [X.]; zu § 2 Abs. 14 [X.] aF vgl. [X.], Beschluss vom 19. Juli 2018 - [X.], [X.] 2018, 413 Rn. 18 mwN).
b) Die Annahme einer Fluchtgefahr lässt sich nicht auf andere festgestellte Umstände stützen. Auch sonst tragen die Feststellungen des [X.] nicht die Annahme eines Haftgrundes.
c) Der Senat kann gemäß § 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG in der Sache selbst entscheiden, da der Haftzeitraum abgelaufen ist und etwaige ergänzende Feststellungen zum Vorliegen eines Haftgrundes nicht zu einer rückwirkenden Heilung führen könnten (vgl. [X.], Beschluss vom 24. August 2020 - [X.]/19, juris Rn. 20).
3. [X.] beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des [X.] folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
Meier-Beck |
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Schmidt-Räntsch |
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Roloff |
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Tolkmitt |
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Meta
26.01.2021
Bundesgerichtshof 13. Zivilsenat
Beschluss
Sachgebiet: ZB
vorgehend LG Hamburg, 5. März 2020, Az: 329 T 5/20, Beschluss
§ 62 Abs 3 S 1 Nr 1 AufenthG, § 62 Abs 3a Nr 1 AufenthG
Zitiervorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.01.2021, Az. XIII ZB 20/20 (REWIS RS 2021, 9222)
Papierfundstellen: REWIS RS 2021, 9222
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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.
XIII ZA 3/23 (Bundesgerichtshof)
XIII ZB 47/20 (Bundesgerichtshof)
Abschiebungshaft: Voraussetzungen für Vermutung der Fluchtgefahr
V ZB 223/17 (Bundesgerichtshof)
Beschwerde in Abschiebungshaftverfahren: Pflicht des Beschwerdegerichts zur Beiziehung der Ausländerakte und Gewährung der Einsichtnahme durch …
XIII ZB 133/19 (Bundesgerichtshof)
Zurückweisung von Drittstaatsangehörigen an einer Binnengrenze der Europäischen Union: Voraussetzungen für die Anordnung der Zurückweisungshaft; …
V ZB 70/17 (Bundesgerichtshof)
(Prüfung der Durchführbarkeit der Abschiebung durch das Haftgericht)