Bundesfinanzhof, Beschluss vom 13.12.2012, Az. X B 221-222/12, X B 221/12, X B 222/12

10. Senat | REWIS RS 2012, 304

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Gegenstand

Ausnahmsweise Anspruch auf Aktenübersendung in die Kanzlei des in seiner Beweglichkeit erheblich eingeschränkten Prozessbevollmächtigten


Leitsatz

1. NV: Auch wenn der Ort der Akteneinsicht gemäß § 78 FGO im Regelfall die Geschäftsstelle des Gerichts ist, kann in Sonderfällen im Rahmen der erforderlichen Abwägung ein Anspruch auf Übersendung der Akten in die Kanzlei des Prozessbevollmächtigten eines Beteiligten bestehen. Ein solcher Sonderfall ist gegeben, wenn ein bereits betagter Prozessbevollmächtigter aufgrund eines Kreuzbandrisses in vergleichbarer Weise wie eine auf Benutzung eines Rollstuhls angewiesene Person in seiner Beweglichkeit beeinträchtigt ist. Auch in einem solchen Fall können jedoch öffentliche Interessen (Gefahr von Beweismittelverlusten, Erforderlichkeit eines jederzeitigen gerichtlichen Aktenzugriffs zur Vorbereitung der kurz bevorstehenden mündlichen Verhandlung, gerichtsbekannte Unzuverlässigkeit des Prozessbevollmächtigten) der Aktenübersendung entgegen stehen; das FG hat dies konkret zu begründen.  

2. NV: Auch im Beschwerdeverfahren kann der BFH die angefochtenen Beschlüsse aufheben und anstelle einer eigenen Sachentscheidung die Sachen in entsprechender Anwendung des § 572 Abs. 3 ZPO zur anderweitigen Entscheidung an das FG zurückverweisen.

Tatbestand

1

I. Vor dem Finanzgericht ([X.]) betreiben die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ein Klageverfahren und ein Verfahren wegen Aussetzung der Vollziehung, deren Gegenstand [X.]teuernachforderungen infolge einer Außenprüfung bei dem vom Kläger betriebenen Gastronomiebetrieb sind.

2

Die Kläger werden durch einen [X.]teuerberater ([X.]) als Prozessbevollmächtigten vertreten. Dieser beantragte am 1. Oktober 2012 für beide Verfahren Akteneinsicht im Wege der Übersendung der Gerichts- und Behördenakten in seine Kanzlei gegen Rückgabe innerhalb einer Woche. Zur Begründung führte er aus, er sei durch einen Krankenhausaufenthalt und die anschließende Nachbehandlung äußerst beeinträchtigt. Am 2. Oktober 2012 übersandte er eine Arztbescheinigung von 25. [X.]eptember 2012. Daraus ergibt sich, dass der 74-jährige [X.] infolge eines Treppensturzes eine Quadrizepssehnenruptur (Kreuzbandriss) erlitten hatte. Er war vom 17. bis zum 26. [X.]eptember 2012 in stationärer Behandlung; die [X.] wurde am 18. [X.]eptember 2012 durchgeführt. Die weitere Therapie sollte in einer "Mobilisation unter schmerzadaptierter Vollbelastung [X.] in [X.]treckstellung an [X.] [[X.]] für 6 Wochen" bestehen. Während dieser [X.] hatte [X.] eine Hypex-Lite-[X.]chiene (großformatige Knieschiene) zu tragen, die sicherstellen sollte, dass das Bein in [X.]treckstellung verblieb. Eine "schmerzadaptierte Vollbelastung" bedeutet, dass das Bein zwar prinzipiell belastet werden darf, bei Belastung aber [X.]chmerzen auftreten, die die Belastbarkeit wiederum begrenzen.

3

Mit Beschlüssen vom 5. Oktober 2012 lehnte das [X.] die Anträge ab. Es führte aus, den von [X.] vorgelegten Unterlagen sei nicht zu entnehmen, dass vorliegend einer der eng begrenzten [X.]onderfälle gegeben sei, in denen die Akteneinsicht in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten erfolgen könne. Die Beweglichkeit des [X.] sei nicht derart eingeschränkt, dass er gehindert sei, eine in der Nähe seiner Kanzlei gelegene Landes- oder Bundesbehörde aufzusuchen. Wie der [X.]chriftverkehr zeige, habe [X.] seine Berufstätigkeit in seinen Kanzleiräumen wieder aufgenommen.

4

Mit ihrer hiergegen gerichteten Beschwerde tragen die Kläger vor, [X.] benötige bis zur vollen Wiederherstellung der Beweglichkeit eine [X.]spanne von drei Monaten. Die Wiederaufnahme der Berufstätigkeit habe sich auf ein bis zwei [X.]tunden pro Tag beschränkt. [X.] sei von [X.] zu seiner Kanzlei gefahren worden. Jeder Weg verursache ihm [X.]chmerzen und sei nur mit "Krücken" zurückzulegen. Den [X.]chriftverkehr habe die Büroleiterin vorbereitet; [X.] habe nur die Unterschriften geleistet.

5

Die Kläger beantragen sinngemäß, die angefochtenen Beschlüsse aufzuheben und das [X.] zu verpflichten, die Gerichts- und Behördenakten für eine Woche zur Akteneinsicht in die Kanzleiräume des [X.] zu übersenden.

6

Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt) hat sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert.

Entscheidungsgründe

7

II. Die Beschwerden sind begründet. [X.]ie führen zur Aufhebung der angefochtenen Beschlüsse und --in entsprechender Anwendung des § 572 Abs. 3 der Zivilprozessordnung-- zur Zurückverweisung der [X.]achen zur anderweitigen Entscheidung an das [X.].

8

Das [X.] hätte die Anträge auf Aktenübersendung im Zeitpunkt seiner Entscheidungen nicht mit der von ihm gegebenen Begründung ablehnen dürfen (unten 1.). Da für die abschließende Beurteilung der Begründetheit der Beschwerden jedoch die [X.]achlage im Zeitpunkt der Entscheidung über sie maßgebend ist, gehen die [X.]achen zur Ermittlung der gegenwärtigen Tatsachenlage an das insoweit orts- und sachnähere [X.] zurück (unten 2.).

9

1. Die vorinstanzlichen Entscheidungen können mit den vom [X.] gegebenen Begründungen nicht bestehen bleiben, weil sie ermessensfehlerhaft ergangen sind.

a) Im Ausgangspunkt zutreffend hat das [X.] allerdings erkannt, dass sich aus dem in § 78 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) verwendeten Begriff "einsehen" und der in § 78 Abs. 2 [X.]atz 1 [X.]O enthaltenen Regelung über die Erteilung von Ausfertigungen, Auszügen, Ausdrucken und Abschriften durch die Geschäftsstelle ergibt, dass die Einsichtnahme der Akten bei Gericht die Regel sein soll. Darüber hinaus ist es im Regelfall sachgerecht, die Akten an dasjenige Finanzamt oder Gericht zu versenden, das dem Wohnsitz oder Büro des zur Akteneinsicht Berechtigten am nächsten liegt, wenn dieser Berechtigte seinen Wohnsitz oder sein Büro nicht am Ort des [X.] hat (zum Ganzen [X.]enatsbeschlüsse vom 2. Oktober 2007 X B 96/07, [X.], 93, unter II.3., und vom 15. Juli 2008 X B 5/08, [X.], 1695, unter II.4.). Allein der Umstand, dass mit einer Akteneinsicht außerhalb der eigenen Kanzlei stets ein gewisser Zeitaufwand sowie Unbequemlichkeiten verbunden sind, reicht nicht aus, um einen Anspruch auf Aktenübersendung in die Kanzlei zu begründen (Beschluss des [X.] vom 29. April 1987 VIII B 4/87, [X.] 1987, 796, m.w.N.).

Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat allerdings schon früh betont, dass im Rahmen des Anspruchs des Antragstellers auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über sein Akteneinsichtsgesuch Ausnahmen von dem dargestellten Grundsatz möglich seien, wenngleich sie sich auf [X.]onderfälle beschränken müssten. Gegen eine Aktenübersendung spricht die Gefahr von Aktenverlusten, die Wahrung des [X.]teuergeheimnisses und das Interesse des [X.] an einer jederzeitigen Verfügbarkeit der Akten (ausführlich [X.] vom 31. August 1993 XI B 31/93, [X.] 1994, 187). Mit diesen Gesichtspunkten sind die Interessen des die Aktenübersendung [X.] abzuwägen. Als Beispiel für ein Überwiegen von dessen Interessen wird eine körperliche Behinderung des Beteiligten oder seines Prozessbevollmächtigten genannt (vgl. zum Ganzen [X.] in [X.] 1987, 796). [X.]o hat der [X.] einem Prozessbevollmächtigten, der auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen war, einen Anspruch auf Aktenübersendung in seine Kanzlei zuerkannt (Beschluss vom 29. Oktober 2008 III B 176/07, [X.] 2009, 192).

b) Im [X.]treitfall hat das [X.] sein Ermessen nicht zutreffend ausgeübt. Die von ihm gegebene Begründung lässt nicht erkennen, dass es die erheblichen krankheitsbedingten Einschränkungen des [X.] gebührend in seine Abwägung einbezogen hätte. Zudem hat das [X.] sich nicht auf konkrete öffentliche Interessen berufen, die einer Aktenübersendung im vorliegenden Fall entgegenstehen könnten.

Nach der vorgelegten, detaillierten und substantiierten Arztbescheinigung war die Mobilität des 74-jährigen [X.] für einen nennenswerten Zeitraum in erheblicher Weise eingeschränkt. Das betroffene Bein wurde zwangsweise in [X.]treckstellung gehalten; mit jeder Belastung waren [X.]chmerzen verbunden. Für den Zeitraum, in dem diese Einschränkungen bestanden --jedenfalls im Zeitpunkt der angegriffenen Entscheidung des [X.]-- waren diese Einschränkungen der Beweglichkeit in gewisser Weise mit denen zu vergleichen, denen ein Rollstuhlfahrer unterliegt; ein Rollstuhlfahrer hat nach den vorstehend dargestellten Grundsätzen aber im Regelfall einen Anspruch auf Aktenübersendung. Auch ist nicht erkennbar, dass das [X.] das hohe Alter des [X.] --das einer zügigen Wiedergewinnung der Beweglichkeit zumindest nicht zuträglich ist-- in seine Abwägung einbezogen hätte.

Das [X.] hat die Betroffenheit des [X.] durch dessen eingeschränkte Beweglichkeit allein deshalb als nicht allzu gewichtig eingeschätzt, weil es davon ausgegangen ist, [X.] habe seine Berufstätigkeit aus seinen Kanzleiräumen heraus wieder aufgenommen. Diese Einschätzung ist in doppelter Weise fehlerhaft: Zum einen übersteigt die Belastung einer Person, die in ihrer Mobilität erheblich eingeschränkt ist, durch eine auswärtige Akteneinsicht erheblich diejenigen Belastungen, die mit einer Bürotätigkeit in den eigenen, vertrauten Kanzleiräumen verbunden sind. Die Argumentation des [X.] ist schon aus diesem Grund nicht geeignet, die Interessen des [X.] in der Abwägung mit den öffentlichen Interessen als von geringerem Gewicht erscheinen zu lassen. Zum anderen hat [X.] substantiiert dargelegt, dass er sich zwar sofort nach seiner Entlassung aus der stationären Behandlung unter großen [X.]chmerzen wieder in seine Kanzlei habe fahren lassen, die Tätigkeit sich aber in zeitlicher Hinsicht auf eine Anwesenheit von ein bis zwei [X.]tunden täglich und in inhaltlicher Hinsicht auf das bloße Unterschreiben vorbereiteter [X.]chriftsätze beschränkt habe. Der [X.]enat hat --auch angesichts des Alters des [X.]-- keinen Anlass, an der [X.]chlüssigkeit und Plausibilität von dessen Darstellung zu zweifeln.

Ferner hat das [X.] keine besonderen öffentlichen Interessen angeführt, die trotz der erheblichen Mobilitätseinschränkung des [X.] dessen Interesse an einer Aktenübersendung überwiegen könnten. Es hat sich weder darauf berufen, dass die Akten demnächst im Gericht benötigt werden könnten, noch darauf, dass in den Akten nicht reproduzierbare Beweismittel enthalten sein könnten.

2. Gleichwohl ist dem [X.]enat eine abschließende Beurteilung verwehrt, weil hierfür die [X.]ach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung über die Beschwerde maßgebend ist ([X.] vom 17. März 2008 IV B 100, 101/07, [X.], 1177, unter [X.]). Da das Datum sowohl der Arztbescheinigung als auch des [X.] bereits etwa zehn Wochen in der Vergangenheit liegt, dürfte sich die körperliche Verfassung des [X.] zwischenzeitlich verbessert haben. Zur Aufklärung dieser Umstände gehen die [X.]achen an das [X.] zurück. Eine solche Zurückverweisung ist auch im Beschwerdeverfahren zulässig; dies gilt insbesondere, wenn die noch erforderlichen Maßnahmen zur Ermittlung des entscheidungserheblichen [X.]achverhalts vom ortsnäheren [X.] besser getroffen werden können als vom Beschwerdegericht ([X.] in [X.], 1177, unter II.2.d).

Im Rahmen seiner erneuten Entscheidung ist das [X.] nicht gehindert, erstmals konkrete Umstände für ein Überwiegen öffentlicher Interessen anzuführen. [X.]o ist darauf hinzuweisen, dass auch im [X.]trafprozess in der Regel nur die --zumeist [X.] Ermittlungsakten in die Kanzlei des [X.]trafverteidigers übersandt werden, nicht aber die Beweismittelordner, die die Originale der maßgebenden Beweismittel enthalten (vgl. [X.], Entscheidungen der Finanzgerichte 2009, 1851). Auch ist es denkbar, die Aktenübersendung zu verweigern, wenn [X.] sich nach den Erfahrungen des insoweit ortsnäheren [X.] in der Vergangenheit als unzuverlässig erwiesen haben sollte, wofür nach dem vorliegenden Akteninhalt allerdings nichts erkennbar ist.

Vorsorglich bemerkt der [X.]enat noch, dass allein aus der Teilnahme des [X.] als Beistand an der am 16. Oktober 2012 vor dem [X.] im [X.]teuerstrafverfahren gegen den Kläger durchgeführten Hauptverhandlung noch nicht abgeleitet werden kann, dass die Mobilitätseinschränkung nicht gravierend war. Denn ebenso wie ein Rollstuhlfahrer kann auch ein von einem Kreuzbandriss Betroffener in der Lage sein, im Wege überobligationsmäßiger Anstrengung auswärtige Termine wahrzunehmen. Gleichwohl wiegen die Interessen dieser Personen an einer Aktenübersendung in ihre Kanzlei deutlich schwerer als bei nicht in ihrer Beweglichkeit eingeschränkten Prozessbevollmächtigten.

3. Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen. Bei den vorliegenden Beschwerdeverfahren handelt es sich um unselbständige Zwischenverfahren, die von den [X.] in den noch abzuschließenden Verfahren vor dem [X.] mit umfasst sind (vgl. zu einer erfolgreichen Beschwerde gegen die Versagung der Aktenübersendung auch [X.] in [X.] 2009, 192, unter II.4., m.w.N.).

Meta

X B 221-222/12, X B 221/12, X B 222/12

13.12.2012

Bundesfinanzhof 10. Senat

Beschluss

vorgehend Hessisches Finanzgericht, 5. Oktober 2012, Az: 9 V 1001/12, Beschluss

§ 78 FGO, § 572 Abs 3 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 13.12.2012, Az. X B 221-222/12, X B 221/12, X B 222/12 (REWIS RS 2012, 304)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 304

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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