Bundesgerichtshof, Beschluss vom 03.09.2019, Az. 3 StR 291/19

3. Strafsenat | REWIS RS 2019, 3944

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Gegenstand

Einführung von Privat-DNA-Gutachten in Gerichtsverhandlung


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 14. Januar 2019 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen zweier [X.] unter Einbeziehung von Vorstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren sowie wegen vier [X.]n, davon in einem Fall versucht, zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Seine auf die [X.] der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision gegen das Urteil, das im Übrigen keinen rechtlichen Bedenken begegnet, hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.

2

I. Der Angeklagte beanstandet zu Recht eine Verletzung des § 250 [X.] durch die Einführung von diversen - von privaten Laboren erstellten - molekulargenetischen Spurengutachten ([X.]) im Wege des [X.]. Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

3

1. Am zweiten Tag der Hauptverhandlung ordnete der Vorsitzende hinsichtlich 30 in einer Liste aufgeführter Urkunden das Selbstleseverfahren gemäß § 249 Abs. 2 [X.] an. Die Liste umfasste acht [X.], die von privaten Laboren stammen. Die für die Erstellung der Gutachten verantwortlichen Sachverständigen waren jeweils nicht im Sinne des § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. [X.] für die Erstellung von Gutachten der betreffenden Art allgemein vereidigt. Die [X.] gab für die Verlesung der [X.] weder einen Grund an, noch fasste sie hierzu einen Beschluss im Sinne von § 251 Abs. 4 Satz 1, 2 [X.].

4

Der Verteidiger des Angeklagten erklärte in der Hauptverhandlung, gegen die Durchführung des [X.] keine Einwände zu erheben, der ([X.]) Angeklagte könne die Schriftstücke selbst lesen. Keiner der Verfahrensbeteiligten erteilte ein ausdrückliches Einverständnis mit der Verlesung der betreffenden Gutachten. Der Angeklagte und sein Verteidiger beanstandeten die Verlesung auch nicht als unzulässig. Die für die Erstellung der Gutachten verantwortlichen Sachverständigen wurden nicht in der Hauptverhandlung vernommen. Ebenso wenig fanden Erörterungen zu den Gutachten statt. An einem der folgenden Hauptverhandlungstage traf der Vorsitzende die Feststellungen über die Kenntnisnahme der Urkunden und die Gelegenheit hierzu.

5

In dem angefochtenen Urteil hat die [X.] ausgeführt, dass sich die Täterschaft des Angeklagten maßgeblich aus Angaben seines Mittäters ergebe, aber auch durch das Ergebnis der Beweisaufnahme im Übrigen belegt sei. Dabei hat das [X.] darauf abgestellt, dass in den Fällen II.A.2. und II.A.6. DNA-Spuren existierten, die ausweislich der im Selbstleseverfahren eingeführten [X.] vom Angeklagten bzw. seinem Mittäter stammten.

6

2. Die zulässig erhobene Verfahrensrüge ist begründet. Das [X.] hat den Grundsatz der persönlichen Vernehmung (§ 250 [X.]) umgangen, indem es die in [X.] gefertigten [X.] im Wege des [X.] eingeführt hat. Die Ersteller der Gutachten hätten vielmehr in der Hauptverhandlung angehört werden müssen. Denn die Voraussetzungen der hier allein in Betracht kommenden Ausnahmetatbestände des § 251 Abs. 1 Nr. 1 [X.] oder des § 256 Abs. 1 Nr. 1 [X.] haben nicht vorgelegen.

7

a) Die Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 Nr. 1 [X.] sind schon deshalb nicht erfüllt gewesen, weil weder der Angeklagte und sein Verteidiger noch die Staatsanwaltschaft ihr Einverständnis mit der Verlesung erteilt haben. Ein solches ist insbesondere nicht darin zu erblicken, dass der Verteidiger erklärt hat, der Durchführung des [X.] nicht entgegenzutreten. Im Hinblick auf die eingeschränkte Sprachkompetenz des Angeklagten hat er hiermit der [X.] nach den konkreten Umständen nur zu verstehen gegeben, dass er gegen das "Wie" der Einführung der Urkunden aus der [X.] keine Einwände hat erheben wollen. Zum "Ob" ihrer Einführung durch Verlesen hat er sich durch seine Erklärung nicht verhalten.

8

Auch eine stillschweigende Zustimmung hat nicht vorgelegen. Eine solche kommt überhaupt nur in Betracht, wenn aufgrund der vorangegangenen Verfahrensgestaltung davon ausgegangen werden darf, dass sich alle Verfahrensbeteiligten der Tragweite ihres Schweigens bewusst gewesen sind ([X.], Beschlüsse vom 9. August 2016 - 1 StR 334/16, [X.], 299 mwN; vom 22. Januar 2015 - 3 [X.], [X.], 476; LR/[X.]/Cirener, [X.], 26. Aufl., § 251 Rn. 22 mwN). Daran fehlt es hier. Nach dem unwidersprochen gebliebenen [X.] ist das Erfordernis eines Einverständnisses für eine auf § 251 Abs. 1 Nr. 1 [X.] gestützte Verlesung der Gutachten (etwa durch eine Frage des Vorsitzenden o.ä.) zu keinem Zeitpunkt in der Hauptverhandlung thematisiert worden. Es ist angesichts der Vielzahl der Urkunden auf der [X.] auch nicht derart offensichtlich gewesen, dass es sich den Prozessbeteiligten aufgedrängt hätte.

9

Hinzu kommt Folgendes: Das Einverständnis - auch das stillschweigende - muss bereits im Zeitpunkt der Anordnung der Verlesung durch das Gericht vorliegen (LR/[X.]/Cirener, aaO Rn. 23). Hier hat der Vorsitzende gleichzeitig mit der Anordnung des [X.] die auf diese Weise einzuführenden Urkunden bezeichnet; die Verfahrensbeteiligten haben also erst mit der Anordnung erfahren, welche Urkunden sie umfasst. Sie haben deshalb ihr Einverständnis gar nicht vorher erklären können. Erst recht scheidet ein stillschweigendes Einverständnis in dieser Verfahrenskonstellation aus.

Wie auch der [X.] zutreffend ausgeführt hat, fehlt es überdies an dem gemäß § 251 Abs. 4 Satz 1, 2 [X.] von dem gesamten Spruchkörper zu erlassenden und mit Gründen zu versehenden Beschluss. Grundsätzlich ist schon dieser Umstand allein geeignet, die Revision zu begründen (vgl. [X.], Beschlüsse vom 25. Oktober 2011 - 3 [X.], [X.], 585 Rn. 9 f.; vom 8. Februar 2011 - 4 StR 583/10, [X.], 356, 357 mwN). Ein Fall, in dem sich der Rechtsfehler ausnahmsweise nicht ausgewirkt hat, weil den Verfahrensbeteiligten Grund und Reichweite der Verlesung bekannt gewesen sind, liegt hier - wie dargelegt - nicht vor.

b) Die [X.] haben auch keine Erklärungen einer öffentlichen Behörde (§ 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a [X.]) oder eines allgemein vereidigten Sachverständigen (§ 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. [X.]) enthalten. Nach dem insoweit unwidersprochenen [X.] sind die vorliegend tätig gewordenen Sachverständigen gerade nicht allgemein vereidigt gewesen.

Eine Ausdehnung der eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes gestattenden Ausnahmevorschrift des § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. [X.] kommt nicht in Betracht, mögen die hier konsultierten Institute auch vielfach von Ermittlungsbehörden beauftragt und als zuverlässig bekannt sein. Denn Gutachten von vereidigten Sachverständigen sind im Rahmen des § 256 Abs. 1 Nr. 1 [X.] vor allem deshalb [X.] gleichgestellt, weil im Vereidigungsverfahren die sachliche und persönliche Befähigung des Sachverständigen geprüft wird. Nur der Sachverständige, der das Verfahren durchlaufen hat, ist nach dem Motiv der gesetzlichen Regelung mit einer solchen Sachautorität ausgestattet, dass es gerechtfertigt ist, auf seine persönliche Einvernahme in der Hauptverhandlung zu verzichten (vgl. MüKo[X.]/[X.], § 256 Rn. 17 unter Verweis auf BT-Drucks. 15/1508, S. 26). Diese klare Festlegung des Gesetzgebers kann nicht dadurch unterlaufen werden, dass Kosten- oder Kapazitätsgründe die Landeskriminalämter dazu veranlassen, für forensische DNA-Untersuchungen auf private Institute zurückzugreifen.

c) Einer Beanstandung nach § 238 Abs. 2 [X.] hat es nicht bedurft. Die Verletzung des § 251 Abs. 1 [X.] kann ohne ein Vorgehen nach § 238 Abs. 2 [X.] gerügt werden, weil es gemäß § 251 Abs. 4 Satz 1 [X.] dem gesamten Spruchkörper und nicht dem Vorsitzenden allein obliegt, über die Verlesung zu beschließen. Damit ist der Anwendungsbereich des § 238 [X.] nicht eröffnet.

Soweit der Vorsitzende die Einführung der Gutachten im [X.] auf § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. [X.] gestützt haben sollte, hat er die Zulässigkeit seines Vorgehens unter die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift subsumieren, mithin zwingendes Recht anwenden müssen, ohne dass ihm insoweit ein Ermessensspielraum zur Seite gestanden hat. Die Verletzung zwingenden Rechts durch den Vorsitzenden kann ein Revisionsführer auch dann rügen, wenn er in der tatrichterlichen Hauptverhandlung nicht nach § 238 Abs. 2 [X.] vorgegangen ist (vgl. zum Ganzen [X.], Beschlüsse vom 25. Oktober 2011 - 3 [X.], [X.], 585 Rn. 12; vom 20. September 2016 - 3 StR 84/16, [X.], 372 Rn. 8, jeweils mwN).

II. Das Urteil beruht auf dem Verstoß gegen § 250 [X.]. Das [X.] hat die zu den Spuren aus den Fällen II.A.2. und II.A.6. erstellten [X.] für seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten in allen sechs Taten herangezogen. Das gilt auch für das Gutachten des [X.] vom 22. November 2016. Soweit der [X.] in seinem Antrag ausgeführt hat, dass sich die [X.] auf dieses Gutachten nicht gestützt habe, weil sie nur in Bedacht genommen habe, dass das Gutachtenergebnis nicht im Widerspruch zu den Urteilsfeststellungen stehe ([X.]), ist ihm aus dem Blick geraten, dass das Gutachten aus [X.] neben einer Mischspur, für welche der Angeklagte als Spurenverursacher nicht ausgeschlossen werden kann, auch DNA-Spuren des gesondert verfolgten Mittäters am Tatort belegt (vgl. [X.] f., 27). Ausweislich der Urteilsfeststellungen sind es genau diese "vielfach vorhandenen DNA-Spuren des Zeugen [X.]" ([X.]), welche die [X.] für die Bewertung seiner Zeugenaussage und damit für ihre Überzeugung von der Tatbeteiligung des Angeklagten herangezogen hat.

Gericke     

        

[X.] ist wegen
Urlaubs gehindert zu
unterschreiben.

        

Hoch   

                 

Gericke

                 
        

Anstötz     

        

     Erbguth     

        

Meta

3 StR 291/19

03.09.2019

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Wuppertal, 14. Januar 2019, Az: 23 KLs 7/18

§ 238 Abs 2 StPO, § 250 S 1 StPO, § 251 Abs 1 Nr 1 StPO, § 251 Abs 4 S 1 StPO, § 256 Abs 1 Nr 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 03.09.2019, Az. 3 StR 291/19 (REWIS RS 2019, 3944)

Papier­fundstellen: NJW 2019, 3736 REWIS RS 2019, 3944

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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