Bundessozialgericht, Urteil vom 03.12.2015, Az. B 4 AS 59/13 R

4. Senat | REWIS RS 2015, 1298

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 20. September 2013 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem [X.] ab 1.2.2013.

2

Der 1955 geborene erwerbsfähige Kläger, [X.] Staatsangehöriger, lebt seit 17.10.2011 ohne weitere Familienangehörige wieder in [X.] und war bei der Firma [X.]/Fahrer sozialversicherungspflichtig vom 20.12.2011 bis 17.2.2012 beschäftigt. Der Beklagte erbrachte dem Kläger zunächst vom [X.] bis 31.1.2013 [X.]-Leistungen (Bescheid vom 3[X.]), lehnte die weitere Bewilligung auf den Antrag des einkommens- und vermögenslosen Klägers vom [X.] jedoch mit der Begründung ab, dass dieser ein alleiniges Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche habe und damit der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 [X.] eingreife (Bescheid vom [X.]; Widerspruchsbescheid vom 18.2.2013).

3

Das [X.] hat den Beklagten verurteilt, "dem Kläger über den 31.01.2013 hinaus weiterhin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem [X.] in gesetzlicher Höhe zu gewähren" (Gerichtsbescheid vom [X.]). In der mündlichen Verhandlung vor dem L[X.] haben sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt, "dass der Senat über den noch offenen Bescheid vom 21. Januar 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. Februar 2013 erstinstanzlich entscheidet". Sodann hat das L[X.] den Bescheid des Beklagten vom [X.] in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.2.2013 aufgehoben und den Gerichtsbescheid des [X.] aufgehoben, "soweit das Sozialgericht dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts über den 31. Juli 2013 hinaus zugesprochen hat". Im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom [X.]). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das L[X.] ua ausgeführt, auf den Kläger, der "zu den leistungsberechtigten Personen nach § 7 Abs 1 S 1 [X.]" gehöre, finde der Ausschluss von der [X.] nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 [X.] keine Anwendung, obgleich er sich nicht (mehr) auf den Arbeitnehmerstatus nach § 2 Abs 3 S 2 [X.]/[X.] berufen könne. § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 [X.] kollidiere mit der [X.] ([X.]) 883/2004, weil das Gleichbehandlungsgebot aus Art 4 iVm Art 70 [X.] ([X.]) 883/2004 eine Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ausschließe. Auf die Berufung des Beklagten sei der Gerichtsbescheid des [X.] aufzuheben, soweit dieses [X.]-Leistungen unbefristet über den [X.] hinaus zugesprochen habe. Nach § 41 Abs 1 S 4 [X.] könnten [X.]-Leistungen - von besonderen, hier weder ersichtlichen noch geltend gemachten Ausnahmefällen abgesehen - jeweils nur für sechs Monate bewilligt werden. Der bereits erstinstanzlich angefochtene Ablehnungsbescheid vom [X.] in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.2.2013 werde aufgehoben. Mit Einverständnis der Beteiligten habe der Senat über "diesen verbliebenen [X.]" im Berufungsverfahren entschieden.

4

Hiergegen wendet sich der Beklagte mit der vom L[X.] zugelassenen Revision. Er macht geltend, der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 [X.] kollidiere nicht mit der [X.] ([X.]) 883/2004. Das [X.] Fürsorgeabkommen vom [X.] ([X.]) sei nach Erklärung des Vorbehalts bezüglich der Leistungen nach dem [X.] durch die Regierung der Bundesrepublik [X.] am 19.12.2011 ab diesem Zeitpunkt nicht mehr anspruchsbegründend.

5

Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des [X.] vom 19. Juni 2013 und das Urteil des [X.] vom 20. September 2013 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

6

Der Kläger beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

7

Er macht geltend, bei den geltend gemachten [X.]-Ansprüchen handele es sich nicht um Sozialhilfeleistungen, sondern nach deren Zielsetzung um Hilfen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt, weshalb Art 24 Abs 2 [X.] 2004/38/[X.] nicht eröffnet sei.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision des Beklagten ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG). Die bisherigen Feststellungen des [X.] lassen keine Entscheidung darüber zu, ob der Kläger im streitgegenständlichen [X.]raum vom [X.] bis [X.] weiterhin einen Anspruch auf [X.] II-Leistungen hatte.

9

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Urteil des [X.] vom [X.], der Gerichtsbescheid des [X.] vom [X.] sowie der Bescheid des Beklagten vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.2.2013, soweit der Beklagte verurteilt worden ist, dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die [X.] vom [X.] bis [X.] zu erbringen. Insofern ist dem Tenor des angefochtenen Urteils, der unter Heranziehung der Entscheidungsgründe auszulegen ist ([X.] vom [X.] 9b [X.] 5/05 R - juris Rd[X.]4), zu entnehmen, dass das Berufungsgericht den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid aufgehoben und die Klage abgewiesen hat, soweit das SG [X.] II-Leistungen auch für die [X.] [X.] zugesprochen hat. Zwar kann sich, sofern ein Träger der Grundsicherung [X.] II-Leistungen gänzlich ablehnt, der streitige [X.]raum - je nach Klageantrag - bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem [X.] erstrecken ([X.] vom 16.5.2012 - [X.] AS 105/11 R - [X.] 4-4200 § 7 [X.] Rd[X.]3: stRspr seit [X.] B 7b [X.] - [X.], 242 = [X.] 4-4200 § 20 [X.], Rd[X.]). Der Kläger hat sich jedoch nicht im Wege einer Revision gegen die nach dem Tenor der Entscheidung ausdrückliche, seinen geltend gemachten Anspruch (möglicherweise) begrenzende Entscheidung des Berufungsgerichts gewandt. Im Übrigen verfolgt der Kläger sein Begehren in zulässiger Weise mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG).

Mit ausdrücklicher Zustimmung der Beteiligten hat das [X.] auch über den bei sachgerechter Auslegung des Klagebegehrens (§ 123 SGG) bereits erstinstanzlich sinngemäß gestellten Antrag auf Aufhebung des die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ablehnenden Bescheids vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.2.2013 entschieden. Den Gründen des [X.] vom [X.] kann allerdings nicht entnommen werden, dass sich das erstinstanzliche Gericht der Notwendigkeit einer Entscheidung über die Aufhebung des [X.] bewusst war. Das [X.] konnte aber auch ohne Urteilsergänzungsverfahren nach § 140 SGG mit Zustimmung der Beteiligten über diesen noch nicht durch erstinstanzliches Urteil beschiedenen "[X.]" durch "Heraufholen" in die nächste Instanz entscheiden (vgl zB [X.] vom 10.12.2013 - [X.] R 91/11 R - [X.] 4-2600 § 249b [X.] Rd[X.]6).

2. a) Trotz der knappen Feststellungen des [X.] ist davon auszugehen, dass der Kläger in dem streitigen [X.]raum vom [X.] bis [X.] dem Grunde nach die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 [X.] [X.] II erfüllte; insbesondere war auch ein gewöhnlicher Aufenthalt im [X.] (§ 7 [X.] [X.] 4 [X.] II) zu bejahen (vgl zum gewöhnlichen Aufenthalt Urteil des Senats vom [X.] [X.]/12 R - [X.], 60 ff = [X.] 4-4200 § 7 [X.], Rd[X.]7 ff). Zwar kommt dem vom [X.] im Zusammenhang mit der Bejahung eines gewöhnlichen Aufenthalts gewürdigten Umstand, dass die dem Kläger im August 2012 erteilte [X.] nach § 5 Abs 1 [X.]/[X.] (entfallen durch das mit Wirkung zum 29.1.2013 in [X.] getretene Gesetz zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/[X.] und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften <[X.]/[X.]2004uaÄndG> vom [X.] <[X.] 86>) "nicht nachträglich eingeschränkt worden" sei, keine ausschlaggebende Bedeutung zu ([X.] vom [X.] [X.]/12 R - [X.], 60 ff = [X.] 4-4200 § 7 [X.], Rd[X.]0). Das Berufungsgericht hat aber auch festgestellt, dass der Kläger "laut Meldebestätigung" seit dem 17.10.2011 wieder in [X.] lebe, sodass nach den tatsächlichen Umständen der [X.]dauer eines den Feststellungen des [X.] zu entnehmenden durchgehenden Aufenthalts, einer vorangegangenen - wenngleich kurzen - Erwerbstätigkeit im [X.] und der Anmietung einer Wohnung im [X.] ein gewöhnlicher Aufenthalt für den streitigen [X.]raum zu bejahen ist (vgl auch zum gewöhnlichen Aufenthalt nach der Kollisionsnorm des Art 11 Abs 3 Buchst e [X.] ([X.]) 883/2004 die in Art 11 Abs 1 [X.] ([X.]) 987/2009 aufgeführten Kriterien).

b) Der Senat kann aber nicht abschließend darüber befinden, ob der Kläger dem Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 [X.] II unterfällt. Ausgenommen von Leistungen nach dem [X.] II sind danach ua Ausländer, die weder in der Bundesrepublik [X.] Arbeitnehmer oder Selbstständige noch aufgrund des § 2 Abs 3 [X.]/[X.] freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts ([X.]) und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen ([X.]). Der Ausschlussgrund des § 7 Abs 1 S 2 [X.] [X.] II kommt wegen des durchgehenden Aufenthalts des [X.] im [X.] seit Oktober 2011 von vornherein nicht in Betracht.

Es fehlen aber ausreichende Feststellungen zu den Voraussetzungen der Ausschlussregelung des § 7 Abs 1 S 2 [X.] [X.] II. Diese sind hier auch deshalb erforderlich, weil sich der Kläger - bezogen auf die [X.] II-Leistungen - nach Erklärung des Vorbehalts durch die Bundesregierung am 19.12.2011 nicht mehr auf das Gleichbehandlungsgebot des Art 1 [X.] berufen kann (vgl hierzu Urteil des Senats vom 3.12.2015 - [X.] [X.]/15 R - zur Veröffentlichung in [X.] und [X.] vorgesehen, Rd[X.]8 ff). Nach der Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des [X.] erfordert die Anwendbarkeit der Ausschlussregelung des § 7 Abs 1 S 2 [X.] [X.] II eine Prüfung des Grundes bzw der Gründe für eine im streitigen Leistungszeitraum (weiterhin) bestehende materielle Freizügigkeitsberechtigung nach dem [X.]/[X.] oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht nach den - im Wege eines Günstigkeitsvergleichs - anwendbaren Regelungen des Aufenthaltsgesetzes (§ 11 [X.]1 [X.]/[X.]; vgl hierzu [X.] vom [X.] [X.]/12 R - [X.], 60 ff = [X.] 4-4200 § 7 [X.] Rd[X.] 31 ff mwN). Bereits das Vorliegen der Voraussetzungen für ein mögliches anderes (im Falle des § 11 [X.]1 [X.]/[X.] im Ermessenswege zu erteilendes) bzw bestehendes Aufenthaltsrecht als ein solches aus dem Zweck der Arbeitsuche hindert sozialrechtlich die positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" iS von § 7 Abs 1 S 2 [X.] [X.] II ([X.] vom [X.] [X.]/12 R - [X.], 60 ff = [X.] 4-4200 § 7 [X.], Rd[X.] 31 ff; [X.] vom 19.10.2010 - [X.] AS 23/10 R - [X.] 107, 66 ff = [X.] 4-4200 § 7 [X.]1, Rd[X.]7 ff) bzw lässt den Leistungsausschluss "von vornherein" entfallen ([X.] vom 25.1.2012 - [X.] [X.]/11 R - [X.] 4-4200 § 7 [X.]8 Rd[X.]0 f).

Über den Wortlaut der genannten Regelung hinaus sind diejenigen Unionsbürger "erst-recht" von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem [X.] II auszunehmen, die über keine materielle Freizügigkeitsberechtigung oder kein Aufenthaltsrecht nach dem [X.] in [X.] verfügen. Die Vorschrift des § 7 Abs 1 S 2 [X.] II ist insoweit planwidrig lückenhaft, als sie nicht ausdrücklich den Ausschluss auch derjenigen normiert, die über keine materielle Freizügigkeitsberechtigung oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht verfügen, weil sie einen Leistungsausschluss schon für solche Ausländer anordnet, die sich auf eine solche materielle Freizügigkeitsberechtigung im Sinne des [X.]/[X.] berufen können (vgl ausführlich Urteil des Senats vom 3.12.2015 - [X.] AS 44/15 R - zur Veröffentlichung in [X.] und [X.] vorgesehen, Rd[X.]9 ff). Diese Auslegung des § 7 Abs 1 S 2 [X.] [X.] II ist nach den Entscheidungen des [X.] in der Rechtssache [X.] (Urteil vom 11.11.2014 - [X.]/13 <[X.]> - NZS 2015, 20 ff) und in der Rechtssache [X.] (Urteil vom 15.9.2015 - [X.]/14 <[X.]> - [X.] 2015, 638 ff) europarechtskonform (vgl auch Urteil des Senats vom 3.12.2015 - [X.] AS 44/15 R - zur Veröffentlichung in [X.] und [X.] vorgesehen, Rd[X.] 35). Nach der Entscheidung in der Rechtssache [X.] ist weiter als geklärt anzusehen, dass der in Ausfüllung von Art 24 Abs 2 [X.] 2004/38/[X.] in § 7 Abs 1 S 2 [X.] II normierte, ausnahmslose Ausschluss von [X.] II-Leistungen auch bereits im [X.] beschäftigt gewesene Unionsbürger erfasst, die weniger als ein Jahr gearbeitet haben. Haben diese - wie hier der Kläger - nach Ablauf der Aufrechterhaltung ihrer Erwerbstätigeneigenschaft für den [X.]raum von sechs Monaten erneut ein Aufenthaltsrecht nur (noch) zur Arbeitsuche, steht der spätere Ausschluss von [X.] II-Leistungen (vgl Frage 2 des Vorlagebeschlusses des Senats vom 12.12.2013 - [X.] [X.]/13 R) ohne eine individuelle Prüfung der Dauer des gewöhnlichen Aufenthalts der erneut [X.] im [X.] sowie anderer Umstände nach dieser Entscheidung des [X.] im Einklang mit Art 4 der [X.] ([X.]) 883/2004 und Art 24 Abs 2 [X.] 2004/38/[X.] ([X.] Urteil vom 15.9.2015 - Rs [X.]/14 <[X.]> - [X.] 2015, 638 ff).

c) Die demnach erforderliche Prüfung der bei dem Kläger - ggf neben einem im streitigen [X.]raum noch vorhandenen Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche (vgl zu den Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts zur Arbeitsuche: [X.] vom [X.] [X.]/12 R - [X.], 60 ff = [X.] 4-4200 § 7 [X.], Rd[X.]9 ff mwN; [X.] vom 3.12.2015 - [X.] AS 44/15 R - zur Veröffentlichung in [X.] und [X.] vorgesehen, Rd[X.]6 ff mwN) - möglichen anderen materiellen Aufenthaltsrechte hat das [X.] nicht durchgeführt. Ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt hat das Berufungsgericht ausgeführt, dass der Kläger sich nicht mehr auf ein (fortwirkendes) Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer nach § 2 [X.]/[X.] berufen könne. Zwar trifft dies zu, weil die Erwerbstätigeneigenschaft des [X.] nach § 2 Abs 3 S 2 [X.]/[X.] iVm Art 7 Abs 3 Buchst c) [X.] 2004/38/[X.] für die [X.] [X.] nicht mehr aufrechterhalten geblieben ist (vgl [X.] Urteil vom 4.6.2009 - [X.]/0 und /C-23/08 - Slg 2009, [X.] = [X.] 4-6035 Art 39 [X.] Rd[X.] 31; [X.] Urteil vom 15.9.2015 - Rs [X.]/14 <[X.]> - [X.] 2015, 638 ff Rd[X.]5 f).

Unabhängig von einer fortbestehenden Freizügigkeitsberechtigung des [X.] als Arbeitsuchender - er hat nach seiner Einreise in das [X.] im Oktober 2011 für einen kurzen [X.]raum vom 20.12.2011 bis 17.2.2012 eine Beschäftigung ausgeübt und war im streitigen [X.]raum schon mehr als ein Jahr arbeitslos - ist jedenfalls nicht von vornherein auszuschließen, dass er über ein anderes Aufenthaltsrecht, etwa als selbstständig Tätiger (§ 2 Abs 1 [X.] [X.]/[X.]) oder ein Daueraufenthaltsrecht verfügte. Ein Daueraufenthaltsrecht setzt nach § 2 Abs 2 [X.] [X.]/[X.] iVm § 4a [X.] [X.]/[X.] voraus, dass sich Unionsbürger seit fünf Jahren rechtmäßig im [X.] aufgehalten haben. Mit dem Begriff des rechtmäßigen Aufenthalts wird auf die materiellen Freizügigkeitsvoraussetzungen abgestellt und somit unionsrechtlich vorausgesetzt, dass der Betreffende während einer Aufenthaltszeit von mindestens fünf Jahren ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Art 7 Abs 1 [X.] 2004/38/[X.] erfüllt hat (BVerwG Urteil vom 31.5.2012 - 10 C 8/12 - [X.] 2012, 348 ff; BVerwG Urteil vom 16.7.2015 - 1 C 22/14 - juris Rd[X.]7).

Der erforderliche fünfjährige rechtmäßige Aufenthalt im [X.] war - ausgehend von einer erneuten Einreise in das [X.] seit Oktober 2011 im streitigen [X.]raum des Jahres 2013 - allerdings noch nicht gegeben. Da das [X.] jedoch festgestellt hat, dass der Kläger "wieder" in [X.] lebe, könnte gleichwohl ein Daueraufenthaltsrecht unter Berücksichtigung früherer Aufenthaltszeiten bestehen. Insofern regelt § 4a Abs 6 [X.]/[X.] in Konkretisierung des Begriffs des ständigen Aufenthalts in § 4a [X.] [X.]/[X.] ua, dass der ständige Aufenthalt nicht durch Abwesenheitszeiten von bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr berührt wird. Diese Abwesenheitszeiten werden für den Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts für unschädlich erklärt (Dienelt in [X.]/[X.]/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl 2013, § 4a [X.]/[X.] Rd[X.]8; [X.] in [X.], [X.], 2010, § 4a [X.]/[X.] Rd[X.]3).

3. a) Der Rechtsstreit ist demnach schon wegen der fehlenden Feststellungen des [X.] zum Vorliegen der Voraussetzungen der Ausschlussregelung des § 7 Abs 1 S 2 [X.] II an das [X.] zurückzuverweisen. Kommt es im wiedereröffneten Berufungsverfahren zu dem Ergebnis, dass der Kläger von Leistungen nach dem [X.] II ausgeschlossen war, wird es - nach Beiladung des Sozialhilfeträgers - über einen Anspruch des [X.] auf existenzsichernde Leistungen nach dem Dritten Kapitel des [X.] XII entscheiden müssen (zur Notwendigkeit der Beiladung des Sozialhilfeträgers bereits bei "ernsthafter Möglichkeit" eines anderen Leistungsverpflichteten: [X.] B 7b [X.] - [X.], 242, 244 f = [X.] 4-4200 § 20 [X.], Rd[X.]1; [X.] vom [X.] [X.] 16/11 R - Rd[X.]0). Insofern ist der Senat gehindert, über den vorliegenden Rechtsstreit bindend für das [X.] zu entscheiden (§ 170 Abs 5 SGG), weil anderenfalls das rechtliche Gehör (§ 62 SGG) des [X.] verletzt würde ([X.] vom [X.] - [X.] [X.] 20/08 R - FEVS 61, 534 ff mwN).

Das [X.] wird gleichwohl davon ausgehen können, dass der Sozialhilfeträger die nach § 18 Abs 1 [X.] XII (in der seither unverändert gebliebenen Fassung des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das [X.], [X.] 3022) für einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach den §§ 27 ff [X.] XII erforderliche Kenntnis von der Bedürftigkeit und den Bedarf des [X.] bereits mit seinem Antrag auf [X.] II-Leistungen bei dem Beklagten vom [X.] erlangt hat (vgl Urteil des Senats vom 3.12.2015 - [X.] AS 44/15 R - zur Veröffentlichung in [X.] und [X.] vorgesehen, Rd[X.] 39 mwN). Auch steht § 21 S 1 [X.] XII, der bestimmt, dass Personen, die nach dem [X.] II als Erwerbsfähige oder Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt erhalten, einer Leistungsberechtigung des [X.] nicht entgegen (vgl hierzu ausführlich Urteil des Senats vom 3.12.2015 - [X.] AS 44/15 R - zur Veröffentlichung in [X.] und [X.] vorgesehen, Rd[X.] 40 ff mwN).

b) Da die Bundesregierung bezogen auf die Vorschriften der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem [X.] XII keinen Vorbehalt erklärt hat, sind Sozialhilfeleistungen in Form der Hilfe zum Lebensunterhalt im Wege einer Gleichbehandlung mit inländischen Staatsangehörigen weiterhin zu erbringen, soweit die Anwendungsvoraussetzungen nach dem [X.] vorliegen. Die Ausschlussregelung des § 23 Abs 3 S 1 [X.] XII findet dann keine Anwendung auf den Kläger (vgl zum [X.] II: [X.] vom 19.10.2010 - [X.] AS 23/10 R - [X.] 107, 66 ff = [X.] 4-4200 § 7 [X.]1, Rd[X.]3 ff; vgl zum Gleichbehandlungsanspruch: BVerwG Urteil vom [X.] - 5 C 29/98 - BVerwGE 111, 200 ff, 201; BVerwG Urteil vom 14.3.1985 - 5 [X.]/83 - BVerwGE 71, 139 ff, 142; vgl zur Anwendbarkeit des Art 1 [X.] im [X.] XII und zur Reichweite des erklärten Vorbehalts: Urteil des Senats vom 3.12.2015 - [X.] [X.]/15 R - zur Veröffentlichung in [X.] und [X.] vorgesehen, Rd[X.]4 mwN).

Eine Gleichstellung mit [X.] Staatsangehörigen nach Art 1 [X.] erfordert allerdings einen erlaubten Aufenthalt des Staatsangehörigen aus dem Vertragsstaat im [X.], dessen Vorliegen hier im Falle des [X.] noch zu prüfen ist. Nach Art 11 Abs a S 1 [X.] gilt der Aufenthalt eines Ausländers im Gebiet eines der Vertragschließenden solange als erlaubt, als der Beteiligte im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis oder einer anderen in den Rechtsvorschriften des betreffenden Staates vorgesehenen Erlaubnis ist, aufgrund welcher ihm der Aufenthalt in diesem Gebiet gestattet ist. Nach der historischen Konzeption des [X.] kommt den im [X.] (nach Art 19 [X.] Bestandteil des Abkommens) verzeichneten Urkunden, die als Nachweis eines erlaubten Aufenthalts iS des Art 11 [X.] anerkannt werden, grundsätzlich ein rechtsbegründender Charakter zu (BVerwG Urteil vom 14.3.1985 - 5 [X.]/83 - BVerwGE 71, 139 ff, 144; BVerwG Urteil vom [X.] - 5 C 29/98 - BVerwGE 111, 200 ff, 203; [X.] Urteil vom [X.] - 12 ZE 01.425; [X.] Beschluss vom 14.9.1998 - 7 S 1874/98 - [X.]/[X.] 1998, 747 ff; [X.] Urteil vom 18.12.2013 - [X.] A 205/12 - juris Rd[X.]4; offengelassen [X.] vom 19.10.2010 - [X.] AS 23/10 R - [X.] 107, 66 ff = [X.] 4-4200 § 7 [X.]1, Rd[X.] 36).

Die im [X.] (weiterhin) erfassten Urkunden ("Aufenthaltsgenehmigung nach § 5 des Ausländergesetzes vom 9. Juli 1990, auf besonderem Blatt erteilt oder im Ausweis eingetragen. Aufenthaltserlaubnis für Angehörige eines Mitgliedstaats der [X.]. Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis, nachgewiesen durch eine entsprechende Bescheinigung oder durch Eintragung in Ausweis: "[X.] erfasst" ) geben allerdings die seit längerer [X.] nicht mehr geltende Rechtslage nach § 1 Abs 4 des Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der [X.] ([X.]/[X.]) in der Fassung des [X.] ([X.] 1354, 1379), aufgehoben mit Wirkung vom 1.1.2005 durch das [X.] 2004 vom 30.7.2004 ([X.] 1950), wieder. Die Bundesrepublik [X.] hat es bisher versäumt, den Generalsekretär des [X.] über eine Änderung der nationalen Gesetzgebung zu unterrichten und mitzuteilen, welche Urkunden - nach der Umsetzung der [X.] 2004/38/[X.] durch das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von [X.] ([X.]/[X.]) vom 30.7.2004 ([X.] 1950, 1986) - als Nachweis eines erlaubten Aufenthalts im Sinne des [X.] anzusehen sind.

Bei einer derartigen Unterlassung erfolgt grundsätzlich eine Anpassung der Interpretation von völkerrechtlichen Abkommen im Sinne einer Auseinandersetzung mit der Vergleichbarkeit des jeweils im Streit stehenden Aufenthaltsstatus (vgl zB [X.] Urteil vom 18.12.2013 - [X.] A 205/12 - juris Rd[X.]4 ff; BVerwG Urteil vom [X.] - 5 C 29/98 - BVerwGE 111, 200 ff, 204 zur Anpassung bei "redaktionellen [X.]" ohne materielle Änderung des [X.]). Insofern ist der 14. Senat des [X.] im Falle eines Unionsbürgers mit einem von den Vorinstanzen festgestellten Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche (§ 2 Abs 2 [X.]a [X.]/[X.] nF) - auch in Anknüpfung an die Praxis der Ausländerbehörden - davon ausgegangen, dass durch eine [X.] ein erlaubter Aufenthalt im Sinne des [X.] nachgewiesen werden könne. Dies hat er ua damit begründet, dass insoweit an die Stelle der Aufenthaltserlaubnis-[X.] die [X.] nach § 5 [X.]/[X.] getreten sei ([X.] vom 19.10.2010 - [X.] AS 23/10 R - [X.] 107, 66 ff = [X.] 4-4200 § 7 [X.]1, Rd[X.]7, 37 f).

Der Kläger verfügt hier lediglich über eine anlässlich eines früheren Antrags auf [X.] II-Leistungen angeforderte "Aufenthaltsbescheinigung gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz/[X.]" vom [X.], mit der schon mangels Aktualität der Bescheinigung ein im streitigen Leistungszeitraum rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne einer weiterhin bestehenden Freizügigkeitsberechtigung (§ 2 [X.]/[X.]) nicht unterstellt werden kann. Zudem ist die vormals gesetzlich vorgesehene Möglichkeit der Dokumentation eines sich unmittelbar aus Unionsrecht ergebenden Aufenthaltsrechts (vgl Dienelt in [X.]/[X.]/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl 2013, § 5 [X.]/[X.] Rd[X.] 9) mit der Streichung der nach alter Rechtslage unverzüglich von Amts wegen ausgestellten Bescheinigung nach § 5 Abs 1 [X.]/[X.] mit Wirkung ab 29.1.2013 durch das [X.]/[X.]2004uaÄndG ersatzlos entfallen. Zwar hat der Gesetzgeber zur Aufhebung des § 5 Abs 1 [X.]/[X.] auf eine "Senkung des Verwaltungsaufwandes" verwiesen und zutreffend ausgeführt, dass das Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger unmittelbar aus dem Unionsrecht "fließt" (vgl BT-Drucks 17/10746, [X.]). Gleichzeitig fehlt es aber nunmehr an einer für die Sozialbehörden und die Sozialgerichtsbarkeit praktikablen Handhabe zum Nachweis eines (weiterhin) rechtmäßigen Aufenthalts von [X.] im [X.] (vgl hierzu die Hinweise des Generalanwalts [X.] - [X.]/14 - vom 6.10.2015, juris Rd[X.] 80 auf die Regelungen des Art 8 [X.] 2004/38/[X.], "die es erlauben, die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts eines Unionsbürgers, der nicht Angehöriger des Aufnahmemitgliedstaats ist, anhand einer Bescheinigung nachzuweisen, für deren Ausstellung die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats bereits geprüft haben, dass insbesondere die Voraussetzungen von Art 7 [[X.] 2004/38/[X.]] erfüllt sind"; zur Einordnung der vormaligen [X.] als Beweismittel für den Unionsbürger im Rechtsverkehr vgl auch [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 2. Aufl 2008, § 5 [X.]/[X.] Rd[X.] 3).

Der Senat geht davon aus, dass - in Anlehnung an die vormalige Anknüpfung an § 1 Abs 4 [X.]/[X.] - eine (weiterhin bestehende) materielle Freizügigkeitsberechtigung für einen erlaubten Aufenthalt im Sinne des [X.] vorausgesetzt wird (vgl auch zum Grundsatz der "souveränitätsschonenden Auslegung": BVerwG Urteil vom 14.3.1985 - 5 [X.]/83 - BVerwGE 71, 139 ff, 144). Fehlt eine solche im streitigen [X.]raum, wäre dem Kläger jedenfalls Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs 1 [X.] [X.] XII als Ermessensleistung zu erbringen. Im Falle eines verfestigten Aufenthalts des [X.] ist das Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des [X.] in dem Sinne auf Null reduziert, dass regelmäßig Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist (vgl hierzu im Einzelnen Urteil des Senats vom 3.12.2015 - [X.] AS 44/15 R - zur Veröffentlichung in [X.] und [X.] vorgesehen, Rd[X.]3 ff).

Das [X.] wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 4 AS 59/13 R

03.12.2015

Bundessozialgericht 4. Senat

Urteil

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Frankfurt, 19. Juni 2013, Az: S 24 AS 246/13, Gerichtsbescheid

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 03.12.2015, Az. B 4 AS 59/13 R (REWIS RS 2015, 1298)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 1298

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10 C 8/12

1 C 22/14

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