Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14.07.2011, Az. IX ZR 210/10

9. Zivilsenat | REWIS RS 2011, 4805

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Gegenstand

Insolvenz eines Versicherungsunternehmens: Prozessführungsbefugnis des Insolvenzverwalters zur Geltendmachung eines Staatshaftungsanspruchs aus verspäteter innerstaatlicher Umsetzung einer EG-Richtlinie


Leitsatz

Wird ein Staatshaftungsanspruch aus der verspäteten innerstaatlichen Umsetzung einer EG-Richtlinie hergeleitet, welche die bevorrechtigte Behandlung von Versicherungsforderungen bei Insolvenz eines Versicherungsunternehmens anordnet, handelt es sich um einen von dem jeweiligen Versicherungsnehmer zu verfolgenden Einzelschaden und nicht um einen von dem Insolvenzverwalter geltend zu machenden Gesamtschaden .

Tenor

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des 9. Zivilsenats des [X.] vom 13. Oktober 2010 wird auf Kosten des [X.] zurückgewiesen.

Der Streitwert wird auf 150.000 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Kläger ist Verwalter in dem am 28. Februar 2004 über das Vermögen der A.                                                   (nachfolgend: Schuldnerin) eröffneten Insolvenzverfahren.

2

[X.] des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. März 2001 (nachfolgend: Richtlinie) sieht in Art. 10 Abs. 1 bei Liquidation eines Versicherungsunternehmens die Sicherstellung der bevorrechtigten Behandlung von Versicherungsforderungen im Sinne von Art. 2 lit K der Richtlinie gegenüber anderen gegen das Unternehmen gerichteten Forderungen vor. Die Mitgliedsstaaten waren nach Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie verpflichtet, der gebotenen innerstaatlichen Rechtsangleichung vor dem 20. April 2003 nachzukommen. Die beklagte B.                   hat die Richtlinie erst durch das Gesetz zur Umsetzung aufsichtsrechtlicher Bestimmungen zur Sanierung und Liquidation von Versicherungsunternehmen und Kreditinstituten vom 10. Dezember 2003 ([X.] I S. 2478 ff) mit Wirkung zum 17. Dezember 2003 in innerstaatliches Recht transformiert. Nach der nunmehr maßgeblichen Regelung der §§ 66, 77a Versicherungsaufsichtsgesetz (fortan: [X.]) ist das von den Versicherungsunternehmen zu bildende [X.] dem vorrangigen Zugriff der Inhaber von Versicherungsforderungen vorbehalten.

3

Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der verspäteten Umsetzung der Richtlinie auf Feststellung in Anspruch, den Gläubigern der Schuldnerin, die am 20. April 2003 Versicherungsforderungen im Sinne des Art. 2 lit K der Richtlinie hatten oder später erworben haben, alle wegen der verspäteten Umsetzung der Richtlinie entstandenen und entstehenden Schäden zu ersetzen. Die Vordergerichte haben die Klage als unzulässig abgewiesen. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.

II.

4

Die Beschwerde deckt keinen Zulassungsgrund auf. Die Sache ist im Übrigen richtig entschieden. Aus § 92 [X.] vermag der Kläger eine Prozessführungsbefugnis nicht herzuleiten. Dies ergibt sich aus den zu dieser Vorschrift bereits entwickelten anerkannten Rechtsgrundsätzen.

5

1. Gemäß § 92 [X.] können Ansprüche der Insolvenzgläubiger auf Ersatz eines Schadens, den diese Gläubiger gemeinschaftlich durch eine Verminderung des zur Insolvenzmasse gehörenden Vermögens vor oder nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erlitten haben (Gesamtschaden), während der Dauer des Insolvenzverfahrens nur von dem Verwalter geltend gemacht werden. Eine Verminderung der Insolvenzmasse als Grundvoraussetzung der Bestimmung ist hier nicht eingetreten.

6

a) § 92 [X.] enthält keine Anspruchsgrundlage, sondern regelt die Einziehung einer aus einer anderen Rechtsgrundlage - hier aus [X.] Gemeinschaftsrecht - herrührenden Forderung (MünchKomm-[X.]/[X.], 2. Aufl. § 92 Rn. 4; HK-[X.]/[X.], 5. Aufl. § 92 Rn. 6; [X.]/[X.], [X.], § 92 Rn. 4; [X.]/[X.], [X.], 13. Aufl., § 92 Rn. 5; HmbKomm-[X.]/Pohlmann, 3. Aufl., § 92 Rn. 4). Die Norm erfasst nur solche Schadensersatzansprüche, die auf einer Verkürzung der Insolvenzmasse beruhen; ihr Zweck ist es, eine gleichmäßige Befriedigung der Gläubiger aus dem Vermögen des wegen Masseverkürzung [X.] zu sichern ([X.], Urteil vom 8. Mai 2003 - [X.], [X.], 1178, 1180 f; vom 20. September 2004 - [X.], [X.], 2254, 2256; BT-Drucks. 12/2443 [X.]). Maßgebliche Voraussetzung des [X.] ist folglich eine Verminderung der Insolvenzmasse, die sich in einer Verringerung der Aktiva oder in einer Vermehrung der Passiva manifestieren kann (HK-[X.]/[X.], aaO; [X.]/[X.], aaO).

7

b) Im Streitfall fehlt es bereits an einer Verminderung der Insolvenzmasse; ihr Umfang ist durch die verspätete Umsetzung der Richtlinie nicht berührt worden. Der in Ausführung der Richtlinie eingefügte § 77a [X.] sieht die Sicherstellung von Versicherungsforderungen durch den bevorrechtigten Zugriff auf das [X.] (§ 66 [X.]) vor. Dadurch wird das [X.] als Teil der Insolvenzmasse des Versicherungsunternehmens der Befriedigung insbesondere der Versicherten und der Versicherungsnehmer (vgl. § 77a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.]) vorbehalten. Die verspätete Einführung dieser Regelung durch die Beklagte hat die auch zur Befriedigung der Versicherten und Versicherungsnehmer dienende Insolvenzmasse nicht verringert. Diesem Personenkreis wurde lediglich im Hinblick auf seine Befriedigung aus der unveränderten Insolvenzmasse ein insolvenzrechtlicher Vorrang verwehrt. Die rechtzeitige Einführung des § 77a [X.] hätte demgegenüber die zur Befriedigung der Gesamtheit der Insolvenzgläubiger zur Verfügung stehende Masse infolge des dem Verwalter versagten Zugriffs auf das [X.] verringert. Demnach ist jedenfalls eine Verkürzung der Insolvenzmasse nicht eingetreten.

8

2. Die hier geltend gemachte Vorenthaltung eines insolvenzrechtlichen Vorrechts bildet überdies keinen von § 92 [X.] vorausgesetzten Gesamtschaden, sondern einen von dem jeweils betroffenen Gläubiger zu verfolgenden Einzelschaden.

9

a) Ein Gesamtschaden bezieht sich auf einen solchen Schaden, den der einzelne Gläubiger ausschließlich aufgrund seiner Gläubigerstellung und damit als Teil der Gesamtheit der Gläubiger erlitten hat (HmbKomm-[X.]/Pohlmann, aaO § 92 Rn. 14). Die Verkürzung der Masse muss also die Gesamtheit der Gläubiger treffen (BT-Drucks., aaO; MünchKomm-[X.]/[X.], aaO § 92 Rn. 11). Dagegen handelt es sich um einen nicht von § 92 [X.] erfassten Einzelschaden, wenn der Gläubiger nicht als Teil der Gläubigergesamtheit, sondern individuell geschädigt wird (HmbKomm-[X.]/Pohlmann, aaO § 92 Rn. 17). Ein [X.] verwirklicht sich bei der Verletzung eines Aussonderungsrechts (§ 47 [X.]), weil der betroffene Gegenstand nicht dem [X.] unterliegt (MünchKomm-[X.]/[X.], aaO § 92 Rn. 12; HK-[X.]/[X.], aaO § 92 Rn. 19; [X.]/[X.], aaO § 92 Rn. 11). Wird ein Absonderungsrecht (§§ 50 ff [X.]) beeinträchtigt, kann neben den [X.] des Absonderungsberechtigten insoweit ein Gesamtschaden treten, als ein in die Insolvenzmasse fallender Übererlös sowie Kostenpauschalen (§§ 170, 171 [X.]) verloren gehen (MünchKomm-[X.]/[X.], aaO; HK-[X.]/[X.], aaO; HmbKomm-[X.]/Pohlmann, aaO § 92 Rn. 18). Ein Einzelschaden ist auch gegeben, sofern unpfändbare Vermögensbestandteile des Schuldners beeinträchtigt werden ([X.], Beschluss vom 10. Juli 2008 - [X.], [X.], 1691 Rn. 13).

b) § 77a [X.] statuiert ein absolutes Vorrecht der privilegierten im Verhältnis zu den anderen Insolvenzforderungen ([X.]/[X.], [X.], 12. Aufl., § 77a Rn. 1; Männle, [X.] über die Sanierung und Liquidation von Versicherungsunternehmen und ihre Umsetzung ins [X.] Recht, 2007, [X.]; [X.]/[X.] in [X.], 2004, [X.], 510). Dabei handelt es sich nicht um ein Aus- oder Absonderungsrecht, sondern um ein Insolvenzvorrecht eigener Art (Männle, aaO; [X.]/[X.], aaO; [X.]/[X.], [X.], § 77 Rn. 11; [X.]/[X.], aaO Rn. 15 vor §§ 49 bis 52). Das [X.] dient zunächst ausschließlich der Befriedigung der insoweit bevorrechtigten Ansprüche; nur ein etwaiger verbleibender Restbetrag steht der Gesamtheit der Gläubiger zur Verfügung ([X.]/[X.], [X.], 4. Aufl. § 77a, Rn. 1; [X.]/[X.], aaO S. 511). [X.] die Gläubigergesamtheit in keiner Weise - also nicht einmal über Kostenpauschalen - an dem [X.], kann seine unterbliebene Bildung keinen Gesamtschaden ausgelöst haben (vgl. [X.], Beschluss vom 10. Juli 2008, aaO).

[X.]                                     Gehrlein                                         Fischer

                     Grupp                                         [X.]

Meta

IX ZR 210/10

14.07.2011

Bundesgerichtshof 9. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend KG Berlin, 13. Oktober 2010, Az: 9 U 24/10, Urteil

§ 92 InsO, Art 10 Abs 1 EGRL 17/2001, § 77a VAG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14.07.2011, Az. IX ZR 210/10 (REWIS RS 2011, 4805)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 4805

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