Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 09.12.2014, Az. 2 BvR 429/11

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2014, 631

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung effektiven Rechtsschutzes durch Versagung der Rehabilitierung gem § 2 Abs 1 StrRehaG wegen Unterbringung in Jugendhilfeeinrichtungen der ehemaligen DDR - hier: unzureichende gerichtliche Sachaufklärung trotz Amtsermittlungspflicht gem § 10 StrRehaG


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 10. Januar 2011 - 1 Reha Ws 134/10 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben, soweit das [X.] die Beschwerde gegen die Ablehnung der Rehabilitierung wegen der Unterbringung der Beschwerdeführerin in dem [X.] im Zeitraum vom 9. September 1985 bis 15. Februar 1987 als unbegründet verworfen hat. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache an das [X.] zurückverwiesen.

2. Das [X.] hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung eines Antrags auf Rehabilitierung wegen der Unterbringung in einem [X.] in der ehemaligen [X.] Republik.

2

1. Die am 9. Februar 1970 geborene Beschwerdeführerin verbrachte ihre Kindheit und Jugend überwiegend in Kinderheimen und Jugendwerkhöfen der ehemaligen [X.]. In ihrem Antrag auf Rehabilitierung, der sich zunächst auf alle Heimaufenthalte im Zeitraum von 1974 bis 1988 bezog, machte sie unter anderem geltend, vom [X.] aus sei sie am 9. September 1985 in den [X.] überstellt worden. Sie sei an diesem Tag aus dem Unterricht abgeführt worden, ohne dass ihre Erzieher informiert gewesen seien. Sie vermute, dass der [X.] für die Verbringung in den [X.] verantwortlich sei, weil sie ihn kurz zuvor "bei der Nachtwache einer Erzieherin bei einem Techtelmechtel" gesehen habe.

3

In den Archivbeständen des [X.] konnten zwei die Beschwerdeführerin betreffende Beschlüsse des [X.] des [X.] über die Anordnung der Heimerziehung vom 23. März 1983 und vom 8. Juli 1987 aufgefunden werden. Anfragen bei dem [X.] und weitere Recherchen im [X.] blieben ergebnislos.

4

Aus dem Beschluss vom 23. März 1983 ergibt sich, dass für die Beschwerdeführerin am 13. Juni 1974 die Heimerziehung angeordnet worden war, weil ihre Mutter nicht mehr in der Lage gewesen sei, sie zu versorgen. Nach der Entlassung aus dem [X.] habe die Beschwerdeführerin seit Ende Dezember 1982 trotz wiederholter Hausbesuche durch die Klassenlehrerin die Schule nicht mehr besucht. Die Mutter sei nicht in der Lage, erzieherisch auf die Beschwerdeführerin einzuwirken und bitte um die Unterbringung ihrer Tochter in einem Heim der Jugendhilfe. In der Folge wurde die Beschwerdeführerin nach ihrem Vorbringen im [X.] untergebracht. Aus dem Beschluss des [X.] vom 8. Juli 1987 geht hervor, dass die Beschwerdeführerin im Februar 1987 aus dem [X.] entlassen wurde.

5

2. Das [X.] wies den Antrag auf Rehabilitierung zurück. Zur Begründung führte es aus, es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Einweisung der Beschwerdeführerin der politischen Verfolgung gedient habe. Die Heimeinweisung sei auch nicht mit wesentlichen Grundsätzen der freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar. Anhaltspunkte dafür, dass sachfremde Erwägungen entscheidend gewesen sein könnten, ergäben sich aus den Unterlagen nicht. Soweit nicht bezüglich des gesamten Zeitraums der Heimeinweisung Unterlagen vorlägen, sei die erforderliche Prüfung der Rechtmäßigkeit des Vollzugs nicht möglich. Der Nachweis allein, dass die Beschwerdeführerin sich in einem Heim befunden habe, reiche für eine Entscheidung ohnehin nicht aus. Maßgeblich sei der [X.], der aber für den gesamten Zeitraum nicht mehr ermittelt werden könne. Allerdings sei davon auszugehen, dass auch der Aufenthalt in den nicht belegbaren Zeiträumen aufgrund der insgesamt vorliegenden Erkenntnisse über das Elternhaus der Beschwerdeführerin als rechtsstaatlich nicht bedenklich angesehen werden müsse. Das könne aber dahinstehen.

6

3. Dagegen wendete sich die Beschwerdeführerin hinsichtlich der Heimaufenthalte in den Jahren von 1983 bis 1988 mit der Beschwerde und machte unter anderem geltend, sie sei im Alter von 15 Jahren zu Unrecht in dem [X.] untergebracht worden. Unterlagen zu der Verlegung in den [X.] fehlten in den Akten. Der [X.] sei ein Spezialheim für die Unterbringung schwererziehbarer Jugendlicher ab 14 Jahre gewesen, deren Umerziehung im Rahmen der Erziehungshilfe und anderer Möglichkeiten nicht mehr habe gewährleistet werden können. In der öffentlichen Wahrnehmung habe der [X.] den Stellenwert einer Strafanstalt gehabt. Die Beschwerdeführerin sei durch ihre Unterbringung dort zu Unrecht kriminalisiert worden. Die Beschwerdeführerin habe keine Kenntnis der Gründe für die Einweisung. Es sei ihr kein Fehlverhalten genannt und nicht erklärt worden, weshalb sie in den [X.] verbracht worden sei. Sie sei aus dem Schulunterricht von zwei Männern abgeholt worden, habe ihre Sachen einpacken müssen und sei mit unbekanntem Ziel weggebracht worden.

7

4. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 10. Januar 2011 verwarf das [X.] die Beschwerde als unbegründet. Es sei nicht feststellbar, dass die Einweisungen aus sachfremden Motiven erfolgt seien. Dass der Übergang in den [X.] am 9. September 1985 aus anderen als aus Altersgründen - die Beschwerdeführerin habe das 15. Lebensjahr abgeschlossen gehabt und sei nicht mehr schulpflichtig gewesen - erfolgt sei, sei nicht mit Tatsachen unterlegt.

8

5. Mit der [X.] machte die Beschwerdeführerin geltend, das [X.] habe ihre Ausführungen zu der Einweisung in den [X.] übergangen. Ihre Vermutung, dass der Leiter des [X.] diese aus sachfremden Gründen veranlasst habe, sei für das Verfahren von zentraler Bedeutung gewesen. Das [X.] habe nicht erkennen lassen, dass es sich mit diesem Vorbringen auseinandergesetzt habe. Sie sei entgegen der Annahme des [X.]s noch schulpflichtig gewesen. Außerdem hätten ihr Alter und der vermeintliche Wegfall der Schulpflicht ihre Unterbringung im [X.] nach dem Recht der [X.] nicht rechtfertigen können. Voraussetzung für eine Verlegung in einen [X.] sei ein Beschluss des [X.] gewesen, dem die Feststellung einer Schwererziehbarkeit habe zugrunde liegen müssen. Sie sei aber weder schwererziehbar gewesen noch straffällig geworden. Sie könne den Willkürakt des [X.]s nicht mit Tatsachen unterlegen, sondern nur Indizien benennen. Solche seien, dass sie den verheirateten [X.] beim Liebesspiel mit einer jungen Erzieherin beobachtet habe. [X.] später sei sie von zwei Männern aus dem Unterricht geholt und entgegen der üblichen Praxis von dem [X.] persönlich in seinem Privatwagen in den [X.] verbracht worden. Keiner habe von der Maßnahme zuvor gewusst, weder ihr Gruppenerzieher und [X.] im Heim noch ihre Mutter oder sie selbst. Weder ihre Lehrer noch ihre Erzieher hätten ein Fehlverhalten ihrerseits bestätigt.

9

6. Das [X.] wies die [X.] der Beschwerdeführerin zurück. Zur Begründung führte es aus, der Anspruch auf rechtliches Gehör sei nicht verletzt. Im [X.] enthielten die Ausführungen der Beschwerdeführerin den Vorwurf, der Senat habe hinsichtlich der Einweisung in den [X.] fehlerhaft entschieden. Damit könne sie nicht gehört werden. Eine Rehabilitierung sei nur dann möglich, wenn die Gründe der Einweisung politischer Natur gewesen oder von anderen sachfremden Erwägungen geleitet worden seien. Letzteres werde zwar vorgetragen, sei aber nicht bewiesen. Zweifel hinsichtlich des Vorliegens der für eine Rehabilitierung erforderlichen Anspruchsvoraussetzungen gingen zu Lasten der Beschwerdeführerin.

7. Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des [X.]s vom 10. Januar 2011, soweit ihre Beschwerde gegen die Ablehnung des Antrags auf Rehabilitierung wegen der Unterbringung im [X.] im Zeitraum vom 9. September 1985 bis 15. Februar 1987 zurückgewiesen worden ist. Sie rügt die Verletzung von Art. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG.

8. Das [X.] hat von einer Stellungnahme zu der Verfassungsbeschwerde abgesehen. Die Akten des [X.] waren beigezogen.

[X.] nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.] zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c [X.]). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das [X.] bereits entschieden.

Soweit das [X.] annimmt, es sei nicht feststellbar, dass die am 9. September 1985 erfolgte Einweisung der Beschwerdeführerin in den [X.] aus sachfremden Gründen im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. Dezember 1999 ([X.]; [X.] - [X.]; geändert durch das Vierte Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen [X.] vom 2. Dezember 2010, [X.]) erfolgt sei, verstößt der Beschluss gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes.

1. Das Rechtsstaatsprinzip enthält das Gebot, wirksamen Rechtsschutz zu gewähren, der grundsätzlich zu einer umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Prüfung des Verfahrensgegenstandes führen muss. Art. 2 Abs. 1 GG verleiht dem Einzelnen ein Recht auf effektiven Rechtsschutz. Dieses Recht ist verletzt, wenn die Gerichte die prozessrechtlichen Möglichkeiten etwa zur Sachverhaltsfeststellung so eng auslegen, dass ihnen eine sachliche Prüfung der ihnen vorgelegten Fragen nicht möglich ist und das vom Gesetzgeber verfolgte [X.] deshalb nicht erreicht werden kann (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 3. Mai 1995 - 2 BvR 1023/94 -, juris, Rn. 19).

§ 10 Abs. 1 Satz 1 [X.] verpflichtet die Gerichte zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen. Dies erschien dem Gesetzgeber nicht nur wegen der Nähe zum Strafverfahren notwendig, sondern auch im Hinblick auf die besondere Fürsorgepflicht des Gerichts gegenüber den Antragstellern und wegen der Schwierigkeit erforderlich, die häufig in ferner Vergangenheit liegenden Sachverhalte zu ermitteln. Das Gericht muss deshalb die für seine Entscheidung erheblichen Tatsachen selbst prüfen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 3. Mai 1995 - 2 BvR 1023/94 -, juris, Rn. 20). Es muss Hinweisen auf eine mögliche politische Verfolgung oder sonstige sachfremde Gründe unter Ausnutzung aller ihm im [X.] zur Verfügung stehenden Mittel nachgehen. Da es hierzu von Amts wegen verpflichtet ist, sind an die Darlegung durch den Antragsteller keine allzu hohen Anforderungen zu stellen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 3. Mai 1995 - 2 BvR 1023/94 -, juris, Rn. 20; [X.], in: [X.]/[X.]/[X.]/Schwarze/Wende, Rehabilitierung, 2. Aufl. 1997, § 10 [X.] Rn. 5, Rn. 8 a.E.). Das Gericht hat von sich aus - im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens - die zur Aufklärung des Sachverhalts notwendigen Maßnahmen zu treffen. Es hat - unterstützt von der Staatsanwaltschaft und durch die in § 10 Abs. 2 [X.] normierte Mitwirkungspflicht des Antragstellers - sämtliche Erkenntnisquellen zu verwenden, die erfahrungsgemäß dazu führen können, die Angaben eines Betroffenen zu bestätigen (vgl. [X.]K 4, 119 <129> zu einer Rehabilitierung wegen einer Einweisung in die Psychiatrie; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 24. September 2014 - 2 BvR 2782/10 -, juris, Rn. 53).

Kommt es dieser Verpflichtung nicht nach, so verweigert es dem Betroffenen die von Rechtsstaats wegen geforderte Überprüfung erheblicher Tatsachen und verfehlt damit schlechterdings das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel, zur Rehabilitierung politisch (Straf-)Verfolgter die fortdauernde Wirksamkeit von Urteilen der Gerichte (oder Entscheidungen der Behörden) der ehemaligen [X.] zu durchbrechen. Ein solchermaßen ineffektives Rehabilitierungsverfahren steht in Widerspruch zum Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 3. Mai 1995 - 2 BvR 1023/94 -, juris, Rn. 20).

(Erst) wenn das Gericht alle Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft hat, entscheidet es in freier Beweiswürdigung (vgl. [X.], in: [X.]/[X.]/[X.]/ Schwarze/Wende, Rehabilitierung, 2. Aufl. 1997, § 10 [X.] Rn. 7). § 10 Abs. 2 [X.] fordert insoweit nicht den vollen Beweis, sondern lässt die Glaubhaftmachung genügen. Damit wird für das Rehabilitierungsverfahren ausdrücklich klargestellt, dass der [X.] sich für seine Überzeugungsbildung mit einem geringeren Maß an Wahrscheinlichkeit begnügen kann. Es genügt eine überwiegende Wahrscheinlichkeit (vgl. [X.], a.a.[X.], § 10 [X.] Rn. 10). Die Nichterweislichkeit anspruchsbegründender Tatsachen geht allerdings zu Lasten des Antragstellers. Die Rehabilitierungsgerichte sind von Verfassungs wegen nicht gehalten, im Zweifel für den Antragsteller zu entscheiden. Der Grundsatz in dubio pro reo gilt nicht (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 16. Februar 2000 - 2 BvR 1601/94 -, juris, Rn. 2; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 24. September 2014 - 2 BvR 2782/10 -, juris, Rn. 55).

2. Nach diesem Maßstab hat das [X.] seine Aufgabe zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verfehlt, indem es der ihm obliegenden Amtsermittlungspflicht nicht hinreichend nachgekommen ist (vgl. [X.]K 4, 119 <130>).

Die Vorschriften des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes finden auf eine außerhalb eines Strafverfahrens ergangene gerichtliche oder behördliche Entscheidung, mit der eine Freiheitsentziehung angeordnet worden ist, entsprechende Anwendung. Das gilt insbesondere für eine Anordnung einer Unterbringung in einem Heim für Kinder oder Jugendliche, die der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken gedient hat, § 2 Abs. 1 [X.]. Für die Entscheidung über den Rehabilitierungsantrag der Beschwerdeführerin war daher erheblich, aus welchen Gründen es am 9. September 1985 zu ihrer Einweisung in den [X.] gekommen ist.

a) Die Beschwerdeführerin hatte im Verfahren die Vermutung geäußert, dass sie in den [X.] verbracht worden sei, weil sie kurz zuvor den Direktor des [X.] in einer verfänglichen Situation mit einer Erzieherin beobachtet habe. Gründe für die Einweisung in den [X.] oder ein Fehlverhalten seien ihr nicht genannt worden. Auch ihre Erzieher hätten von der Einweisung keine Kenntnis gehabt.

Dieses Vorbringen der Beschwerdeführerin wertet das [X.] zwar - wie sich aus seinem die Anhörungsrüge zurückweisenden Beschluss ergibt - als Vortrag einer von sachfremden Zwecken geleiteten Einweisung im Sinne von § 2 Abs. 1 [X.] in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Satz 1 [X.]. Der Vortrag ließ zudem nicht von vornherein ausgeschlossen erscheinen, dass - wie die Beschwerdeführerin in der Anhörungsrüge und in der Verfassungsbeschwerde weiter ausgeführt hat - für die Einweisung in den [X.] sämtliche der dafür nach dem Recht der ehemaligen [X.] geltenden Voraussetzungen fehlten und diese deshalb mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar war (vgl. [X.], Beschluss vom 12. August 1996 - 1 Ws (Reha) 158/95 -, [X.] 1997, 317 <319>).

b) Das [X.] hat aber den Vortrag als nicht bewiesen angesehen und Versuche, den Sachverhalt von sich aus weiter aufzuklären, von vornherein nicht in Betracht gezogen. Damit ist es seiner Aufgabe zur Amtsermittlung nicht hinreichend nachgekommen.

aa) Seine Annahme, die Beschwerdeführerin könne, nachdem sie am 9. Februar 1985 15 Jahre alt geworden sei, im September 1985 allein aus Altersgründen in den [X.] verlegt worden sein, ist mit den Regelungen der ehemaligen [X.] über die Heimerziehung nicht vereinbar.

(1) Das Heimsystem der [X.] differenzierte stark zwischen "normal erziehbaren" und "schwererziehbaren" Kindern, wobei letztere einer repressiven Umerziehung ausgesetzt waren ([X.], Rechtsfragen der Heimerziehung in der [X.], in: Aufarbeitung der Heimerziehung in der [X.] - Expertisen - hrsgg. von dem Beauftragten der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer, März 2012, [X.]; S. 72 ff.).

Gemäß § 1 der Anordnung über die [X.] der Jugendhilfe vom 22. April 1965 ([X.]-GBl II S. 368) waren [X.] Einrichtungen der Jugendhilfe zur Umerziehung von Minderjährigen. In [X.] wurden schwererziehbare und straffällige Jugendliche sowie schwererziehbare Kinder aufgenommen (§ 1 Abs. 2 Satz 1 der Anordnung). Sie gliederten sich in [X.], [X.] für Kinder bis 14 Jahre und Jugendwerkhöfe für Jugendliche von 14 bis 18 Jahren (§ 2 Abs. 1 der Anordnung; vgl. [X.], a.a.[X.], S. 35; Laudien/[X.], [X.] in der Heimerziehung der [X.], in: Aufarbeitung der Heimerziehung in der [X.] - Expertisen - hrsgg. von dem Beauftragten der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer, März 2012, [X.] ff.; [X.], Jugendwerkhöfe in der [X.], 2010, [X.] ff.; [X.], Der [X.] im Jugendhilfesystem der [X.], 1995, [X.] ff.; [X.] ff.; [X.], [X.] in der [X.], in: Materialien der [X.] "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in [X.]", Band [X.], 1995, S. 1812 ff.).

Demgegenüber waren nicht als schwererziehbar eingestufte Kinder in den sogenannten Normalheimen unterzubringen, wobei es [X.] für Drei- bis Sechsjährige, Kinderheime für sechs- bis 16jährige und [X.] für 16- bis 18jährige Kinder und Jugendliche gab, die von den Räten der [X.] verwaltet wurden (vgl. [X.], a.a.[X.], S. 35).

Zuständig für die Anordnung der Heimerziehung war gemäß § 23 Abs. 1 Buchstabe f der Verordnung über die Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Jugendhilfe vom 3. März 1966 ([X.] - [X.], [X.]-GBl II S. 215) der bei dem Rat des [X.]s gebildete Jugendhilfeausschuss, der sich aus drei bis fünf in der Erziehungsarbeit erfahrenen Bürgern zusammensetzten sollte, § 16 JHV[X.] Das von dem Jugendhilfeausschuss zu beachtende Verfahren richtete sich nach §§ 36 ff. JHV[X.] War die Heimerziehung angeordnet, konnte das Kind oder der Jugendliche in ein Heim eingewiesen werden. Für die Einweisung waren die Organe der Jugendhilfe (bestehend aus dem Jugendhilfeausschuss und dem Referat Jugendhilfe des Rates des [X.]s, vgl. § 4 Abs. 1 [X.]) zuständig, wobei die Auswahl des Heims grundsätzlich dem Referat Jugendhilfe des Rates des [X.]s (vgl. § 15 [X.]) oblag (vgl. [X.], a.a.[X.], S. 70 f.).

(2) Dass die Beschwerdeführerin schon vor der Verbringung in den [X.] in einem Spezialkinderheim untergebracht, also durch ein Organ der Jugendhilfe als schwererziehbar eingestuft worden war, hat das [X.] nicht festgestellt. Befand sich die Beschwerdeführerin - wie sie auch geltend macht - zuvor in einem Normalkinderheim, kam eine Verlegung in den [X.] (allein) aus Altersgründen nach dem Recht der ehemaligen [X.] nicht in Betracht. Eine solche hätte zudem nach dem Ausgeführten bereits im Alter von 14 Jahren erfolgen müssen. Selbst wenn dennoch für die Verlegung - wie das [X.] annimmt - allein Altersgründe maßgeblich waren, ist nicht nachvollziehbar, weshalb es dazu nicht spätestens zum Schuljahresende kam, sondern die Beschwerdeführerin (erst) am 9. September 1985 aus dem Unterricht heraus in den [X.] verbracht wurde.

bb) Vor diesem Hintergrund hätte der Vortrag der Beschwerdeführerin das [X.] veranlassen müssen, auf weitere Angaben der Beschwerdeführerin zu den näheren Umständen ihrer Unterbringung im [X.] hinzuwirken. Hätte das [X.] auf die Notwendigkeit der Ergänzung des entsprechenden [X.] hingewiesen, hätte die Beschwerdeführerin auch Anlass gehabt, wie im [X.] und nunmehr im [X.] nachzutragen, welche erhebliche Bedeutung ihre Beobachtung für den verheirateten Leiter des Heims gehabt habe, sowie, dass sie eine "ganz normale 15jährige Schülerin" gewesen sei, weder ihre Erzieher noch ihre Lehrer ein Fehlverhalten ihrerseits bestätigt hätten, weder ihre Klassenleiterin noch ihre Mutter über ihre bevorstehende Einweisung in den [X.] informiert gewesen seien und ihr Gruppenerzieher und [X.] ihr an dem Tag, als sie überraschend aus dem Unterricht zum Einpacken ihrer Sachen in das Kinderheim und sodann in den [X.] verbracht worden sei, "unter Tränen" versichert habe, "dass er nichts von der Sache wusste".

cc) Auf der Grundlage dieses Vortrags hätte die Möglichkeit und Notwendigkeit weiterer Ermittlungen bestanden, von denen das [X.] ohne Begründung abgesehen hat.

(1) Es hätte zunächst durch eine Rückfrage bei dem Archiv des [X.] festgestellt werden können, ob die Art der Archivierung der aufgefundenen Beschlüsse, etwa in einer Sammelakte nach Vernichtung der (übrigen) Aktenbestandteile wegen Ablaufs der Aufbewahrungsfrist, Rückschlüsse darauf zulässt, dass es einen Beschluss des [X.] über die Einweisung in den [X.] nie gegeben hat.

(2) Es hätte weiter nahegelegen, der Beschwerdeführerin gemäß § 10 Abs. 2 [X.] aufzugeben, eine Sachverhaltsdarstellung ihrer Mutter einzureichen und den [X.], ihre damalige Klassenleiterin und ihren Gruppenerzieher im [X.] namentlich zu benennen. Gegebenenfalls hätte sodann der - jedenfalls nicht von vornherein aussichtslos erscheinende - Versuch unternommen werden können, die genannten Personen zu ermitteln und sie als Zeugen zu vernehmen. Ferner können auch die Schulzeugnisse der Beschwerdeführerin aus dem Schuljahr 1984/85 möglicherweise Aufschluss darüber geben, ob schulische Schwierigkeiten oder sonstige Verhaltensauffälligkeiten der Beschwerdeführerin Auslöser für die Verlegung in den [X.] gewesen sein können.

(3) Einen weiteren Ermittlungsanhalt stellte die Möglichkeit dar, dass bei den Unterlagen des ehemaligen [X.]s Bad Köstritz, die sich im [X.] [X.] und im Kreisarchiv des [X.] befinden, die Beschwerdeführerin betreffende Akten ermittelt werden könnten (vgl. Übersicht über den Verbleib von Unterlagen ehemaliger Jugendwerkhöfe in der [X.], Stand 30. Juni 2014, [X.], abrufbar unter [X.]). Die Beschwerdeführerin hatte bereits erstinstanzlich vorgetragen, dass auch bei dem [X.] Akten über sie geführt wurden, die Angaben zu den [X.] enthalten haben sollen. Entsprechende Anfragen sind bisher unterblieben.

(4) Schließlich ist dem Beschluss des [X.] vom 23. März 1983 zu entnehmen, dass die Angestellte beim Rat der Gemeinde [X.] damit beauftragt war, die Durchsetzung des weiteren Erziehungsprogramms im Dezember 1983, Juli 1984 und Januar 1985 zu kontrollieren und im Januar 1985 zu prüfen, ob eine Entlassung der Beschwerdeführerin möglich sei. Es hätte nahegelegen, durch eine - nicht von vornherein aussichtslos erscheinende - Anfrage bei dem [X.] oder der [X.] [X.], in die die damalige Gemeinde [X.] zwischenzeitlich eingemeindet worden ist, zu klären, ob diese Zeugin ermittelt werden kann. Gleiches gilt für die in dem Beschluss als zuständige Jugendfürsorgerin genannte Frau B….

III.

1. Der Beschluss des [X.]s Dresden vom 10. Januar 2011 ist wegen des Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG aufzuheben (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 [X.]), soweit das [X.] die Beschwerde gegen die Ablehnung der Rehabilitierung wegen der Unterbringung der Beschwerdeführerin in dem [X.] im Zeitraum vom 9. September 1985 bis 15. Februar 1987 als unbegründet verworfen hat. Die Sache ist im Umfang der Aufhebung an das [X.] zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 [X.]). Es kann daher dahinstehen, ob die Entscheidung des [X.]s die Beschwerdeführerin auch in ihren Grundrechten aus Art. 1, Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin beruht auf § 34a Abs. 2 [X.].

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 429/11

09.12.2014

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Dresden, 10. Januar 2011, Az: 1 Reha Ws 134/10, Beschluss

Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 2 Abs 1 S 2 StrRehaG, § 10 Abs 1 S 1 StrRehaG, § 10 Abs 2 StrRehaG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 09.12.2014, Az. 2 BvR 429/11 (REWIS RS 2014, 631)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 631

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

2 BvR 2063/11 (Bundesverfassungsgericht)

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung effektiven Rechtsschutzes (Art 2 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs …


2 BvR 2782/10 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Zum Begriff des Lebens unter haftähnlichen Bedingungen gem § 2 Abs 2 StrRehaG …


2 BvR 1014/21 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Willkürverbots durch nicht nachvollziehbare Ablehnung der Vermutungsregelung des § 10 Abs …


2 BvR 1985/16 (Bundesverfassungsgericht)

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Unzureichende fachgerichtliche Sachaufklärung im Verfahren der strafrechtlichen Rehabilitierung wegen Freiheitsentziehung und Heimunterbringung …


4 StR 525/13 (Bundesgerichtshof)

Strafrechtliche Rehabilitierung wegen der Unterbringung in einem Kinderheim der ehemaligen DDR nach Inhaftierung der Eltern …


Referenzen
Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.