Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 29.06.2020, Az. 2 B 37/19

2. Senat | REWIS RS 2020, 3969

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Gegenstand

Verfahrensfehlerhafte Entscheidung gemäß § 130a VwGO bei tatsächlich komplexer Sachlage


Tenor

Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs [X.] vom 2. Juli 2019 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

1

Auf die zulässige [X.]eschwerde der Klägerin ist der Rechtsstreit nach § 133 Abs. 6 [X.] unter Aufhebung der [X.]erufungsentscheidung zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den [X.]hof zurückzuverweisen. Die [X.]erufungsentscheidung beruht auf einem Verfahrensmangel i.S.v. § 132 Abs. 2 Nr. 3 [X.], weil der [X.]hof über die [X.]erufung der Klägerin ohne mündliche Verhandlung durch [X.]eschluss nach § 130a Satz 1 [X.] entschieden hat. Damit hat er den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt.

2

1. Die 1963 geborene Klägerin stand bis zu ihrer vorzeitigen Zurruhesetzung wegen Dienstunfähigkeit mit Wirkung vom 1. Juli 2017 als Stadtoberinspektorin ([X.]esoldungsgruppe [X.]) im Dienst der [X.]. Die Klägerin war zuvor seit September 2015 krankheitsbedingt dienstunfähig; von Januar bis Mai 2016 war sie in einer psychiatrischen Klinik stationär behandelt worden. Für die Klägerin war 2014 ein Grad der [X.]ehinderung von 30 und 2016 ein solcher von 40 festgestellt worden. Mit Wirkung ab dem 11. Juli 2017 wurde sie einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt.

3

Das auf Veranlassung der [X.] eingeholte amtsärztliche Gutachten samt fachpsychiatrischem Zusatzgutachten kam im Februar 2017 zu dem Ergebnis, dass mit der Wiederherstellung der Dienstfähigkeit der [X.]eamtin bezogen auf deren bisherige Funktion innerhalb der nächsten sechs Monate nicht zu rechnen sei. Es bestehe derzeit auch keine Restdienstfähigkeit. Unter der Voraussetzung, dass die im Januar 2017 begonnene intensivierte kombinierte Pharmako- und Psychotherapie konsequent, evtl. auch im stationären Setting durchgeführt werde, könnte die [X.]eamtin in einer anderweitigen Verwendung mit folgenden Funktionseinschränkungen tätig sein: kein Publikumsverkehr, Arbeitszeitreduzierung und Arbeiten ohne Zeitdruck.

4

Nach vorheriger Anhörung versetzte die [X.]eklagte die Klägerin in den vorzeitigen Ruhestand. Der dagegen gerichtete Widerspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den Zurruhesetzungsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Juli 2017 mit der [X.]egründung aufgehoben, die [X.]eklagte habe es rechtsfehlerhaft unterlassen, eine anderweitige Verwendung der Klägerin substanziiert zu prüfen. Auf die dagegen gerichtete [X.]erufung der [X.] hat der [X.]hof zunächst weiter [X.]eweis erhoben und sodann nach vorangegangener Anhörung der Klägerin durch [X.]eschluss das Urteil des [X.] abgeändert und die Klage abgewiesen. Die auf die eingeholten medizinischen Gutachten gestützte Versetzung der Klägerin in den vorzeitigen Ruhestand sei rechtmäßig. Zum Zeitpunkt der Zustellung des Widerspruchsbescheids im Juli 2017 sei bei der Klägerin von einer dauernden Dienst- und Verwendungsunfähigkeit auszugehen gewesen, u.a. da die Klägerin ihre im Januar 2017 begonnene Langzeittherapie zuvor bereits nach neun Sitzungen abgebrochen habe. Diese Einschätzung werde durch die im [X.]erufungsverfahren eingeholten weiteren fachmedizinischen und amtsärztlichen Stellungnahmen bestätigt.

5

2. Die [X.]eschwerde ist zulässig. Die anwaltlich vertretene und bedürftige Klägerin hat innerhalb der [X.]eschwerdefrist des § 133 Abs. 2 Satz 1 [X.] unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse Prozesskostenhilfe beim [X.] beantragt. Damit hat sie das dafür allein zuständige Prozessgericht im Sinn von § 166 [X.] i.V.m. § 117 Abs. 1 Satz 1, § 119 Abs. 1 Satz 1 ZPO angerufen ([X.], [X.]eschlüsse vom 13. August 1965 - 4 [X.] - [X.] 310 § 60 [X.] Nr. 38 S. 42 und vom 19. Oktober 2016 - 3 PKH 7.16 - juris Rn. 3 sowie vom 28. März 2017 - 2 [X.] 4.17 - [X.] 303 § 78b ZPO Nr. 5 Rn. 7; siehe auch [X.]zybulka/[X.], in: [X.]/[X.], [X.], 5. Aufl. 2018, § 133 Rn. 29 f.; [X.]/[X.], in: [X.]/[X.], [X.], 5. Aufl. 2018, § 166 Rn. 32; [X.], in: [X.]/Funke-Kaiser/[X.]/von [X.], [X.], 7. Aufl. 2018, § 133 Rn. 18). Nach [X.]ewilligung der Prozesskostenhilfe durch [X.]eschluss des Senats vom 25. Februar 2020 - 2 PKH 1.19 - hat die Klägerin unter Nachholung der erforderlichen Prozesshandlung - der [X.]eschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision - innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist des § 60 Abs. 2 [X.] Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand beantragt.

6

3. Die Revision ist nicht wegen Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 [X.]) zuzulassen.

7

Eine die Revision eröffnende Divergenz ist nur dann i.S.d. § 133 Abs. 3 Satz 3 [X.] hinreichend bezeichnet, wenn die [X.]eschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des [X.]s aufgestellten ebensolchen die Entscheidung des [X.]s tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (vgl. [X.], [X.]eschluss vom 21. Juni 1995 - 8 [X.] - [X.] 310 § 133 [X.] Nr. 18). Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen, die das [X.] in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt weder den Zulässigkeitsanforderungen einer Divergenz- noch denen einer Grundsatzrüge (vgl. [X.], [X.]eschluss vom 17. Januar 1995 - 6 [X.] - [X.] 421.0 Prüfungswesen Nr. 342 S. 55).

8

[X.]ereits das Merkmal "dieselbe Rechtsvorschrift" ist nicht erfüllt. Denn die von der [X.]eschwerde herangezogenen Urteile des [X.]s vom 26. März 2009 - 2 [X.] 73.08 - und vom 19. März 2015 - 2 [X.] 37.13 - zu den Anforderungen an (amts-)ärztliche Gutachten zur Dienstunfähigkeit und an die Suche nach einer anderweitigen Verwendung des [X.]eamten betreffen § 42 Abs. 1 und Abs. 3 [X.] in der Fassung der [X.]ekanntmachung vom 31. März 1999 ([X.]) und Art. 56 [X.] [X.]eamtengesetz in der Fassung der [X.]ekanntmachung vom 27. August 1998 (GV[X.]l. S. 702), während für das die Klägerin betreffende Zurruhesetzungsverfahren wegen Dienstunfähigkeit § 26 [X.]eamtStG maßgeblich ist.

9

Außerdem mangelt es im Hinblick auf die Fragen, welche Anforderungen an ein amtsärztliches Gutachten im Zurruhesetzungsverfahren und an die Suchpflicht betreffend eine anderweitige Verwendung zu stellen sind, an der geltend gemachten rechtsgrundsätzlichen Abweichung. Denn der [X.]hof hat im angegriffenen [X.]erufungsurteil weder die Anforderungen verkannt, die das [X.] an die Darstellung des medizinischen Sachverhalts und der daraus aus medizinischer Sicht abzuleitenden Schlussfolgerungen an amtsärztliche Gutachten in einem Zurruhesetzungsverfahren stellt, noch hat er die Grundsätze über die Suche nach einer anderweitigen Verwendung für auf ihrem Dienstposten dienstunfähige [X.]eamte verletzt. Vielmehr hat der [X.]hof die beiden von der [X.]eschwerde zitierten Entscheidungen des [X.]s ([X.], Urteile vom 26. März 2009 - 2 [X.] 73.08 - [X.]E 133, 297 und vom 19. März 2015 - 2 [X.] 37.13 - [X.] 232.0 § 44 [X.] 2009 Nr. 7) seiner Maßstabsbildung zugrunde gelegt (vgl. [X.] 10 f.).

Mit den Ausführungen zum Zulassungsgrund der Divergenz wird damit in der Sache geltend gemacht, das [X.]erufungsgericht habe die vom [X.] aufgestellten [X.]emessungskriterien nicht fehlerfrei angewandt. Letztlich beanstandet die Klägerin die tatrichterliche Würdigung der angenommenen medizinischen Gründe und Schlussfolgerungen für ihre dauernde Dienst- und Verwendungsunfähigkeit, legt jedoch nicht dar, dass sich das [X.]erufungsgericht dabei von einem Maßstab habe leiten lassen, der mit dem vom [X.] aufgestellten unvereinbar sei.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass für die von der [X.]eschwerde behauptete Widersprüchlichkeit des amtsärztlichen Gutachtens vom 17. Februar 2017 zur Frage der anderweitigen Verwendung nichts ersichtlich ist. Denn die Möglichkeit einer anderweitigen Verwendung der Klägerin (Restdienstfähigkeit) hat der Amtsarzt von der konsequenten Fortsetzung der erst im Januar 2017 begonnenen intensiven Pharmako- und Psychotherapie anhängig gemacht. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (Widerspruchsbescheid vom 4. Juli 2017) hatte die Klägerin diese Therapie aber bereits im April 2017 nach nur neun von geplanten 45 Einzelsitzungen abgebrochen ([X.]efundbericht des Psychologischen Psychotherapeuten vom 17. März 2019). Deshalb hat - sofern das Restleistungsvermögen der Klägerin damals zutreffend festgestellt worden sein sollte (dazu unter 4. b) - zum Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung mangels anderweitiger Verwendbarkeit der Klägerin keine Suchpflicht der [X.] bestanden.

4. Die Revision ist aber wegen geltend gemachter Verfahrensmängel bei der Anwendung von § 130a [X.] zuzulassen (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 [X.]).

a) [X.], das [X.]erufungsgericht habe dem aus § 130a Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 [X.] folgenden Anhörungserfordernis nach § 130a [X.] und damit dem Gebot rechtlichen Gehörs nicht hinreichend Rechnung getragen, greift zwar nicht durch.

Die [X.] einer Verletzung der Pflicht zur Anhörung nach § 130a Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 [X.] vor Erlass eines [X.]eschlusses nach § 130a [X.] hat Erfolg, wenn diese Anhörung unterblieben ist. In einem solchen Fall beruht die Entscheidung des [X.]erufungsgerichts gemäß § 138 Nr. 3 [X.] stets auf der Verletzung von [X.]undesrecht. Hat das [X.]erufungsgericht hingegen - wie hier - eine (erste) Anhörung durchgeführt, bedarf es nach der ständigen Rechtsprechung des [X.]s einer weiteren Anhörung - mit erneuter angemessener Fristsetzung - nur dann, wenn sich nach der ersten Anhörung die [X.] wesentlich verändert hat. Dies kann etwa der Fall sein, wenn ein [X.]eteiligter nach der ersten Anhörung einen [X.]eweisantrag stellt, der - würde eine mündliche Verhandlung durchgeführt - gemäß § 86 Abs. 2 [X.] beschieden werden müsste. In einem solchen Fall wird das Gericht seiner Anhörungspflicht regelmäßig nur dadurch gerecht, dass es den [X.]eteiligten durch eine erneute Anhörung auf die unverändert beabsichtigte Entscheidung durch [X.]eschluss und damit erneut darauf hinweist, dass es dem [X.]eweisantrag nicht nachgehen werde ([X.], Urteil vom 16. März 1994 - 11 [X.] 48.92 - [X.] 442.151 § 46 StVO Nr. 10 S. 4 und [X.]eschluss vom 3. September 2015 - 2 [X.] - [X.] 449.4 § 53 [X.] Rn. 17 m.w.N.).

Von einer erneuten Anhörung kann das [X.]erufungsgericht indes fehlerfrei absehen, wenn das Vorbringen des [X.]eteiligten unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt für seine Entscheidung erheblich ist. Maßgeblich für die [X.]eurteilung der Entscheidungserheblichkeit ist allein die materiell-rechtliche Auffassung des [X.]erufungsgerichts. Entsprechendes gilt für die [X.]ehandlung von [X.]eweisanträgen, sodass das Gericht etwa von einer neuen Anhörung absehen darf, wenn das unter [X.]eweis gestellte Vorbringen als wahr unterstellt wird oder es nicht entscheidungserheblich ist und es deshalb auf das angebotene [X.]eweismittel nicht ankommt ([X.], [X.]eschlüsse vom 1. Dezember 1999 - 9 [X.] - [X.] 310 § 130a [X.] Nr. 45 S. 26, vom 4. April 2003 - 1 [X.] - [X.] 310 § 130a [X.] Nr. 62 S. 49 und vom 2. März 2010 - 6 [X.] - [X.] 310 § 130a [X.] Nr. 80 Rn. 8). Hält das [X.]erufungsgericht an einer Entscheidung durch [X.]eschlussfassung fest, muss sich aus den Entscheidungsgründen des [X.]eschlusses ergeben, dass es die Ausführungen des [X.]eteiligten zur Kenntnis genommen und dessen Vortrag und [X.]eweisanträge vorher auf Rechtserheblichkeit geprüft hat ([X.], [X.]eschlüsse vom 22. Juni 2007 - 10 [X.] 56.07 - juris Rn. 9 f. und vom 15. Mai 2008 - 2 [X.] 77.07 - NVwZ 2008, 1025 Rn. 17). Damit korrespondierend muss im Gegenzug die von dem [X.]eteiligten erhobene [X.] einer Gehörsverletzung wegen Unterlassens einer erneuten Anhörung in mündlicher Verhandlung erkennen lassen, welcher erhebliche Vortrag noch angebracht worden wäre und durch die unterbliebene Anhörung abgeschnitten worden sein soll ([X.], [X.]eschluss vom 28. April 1997 - 6 [X.] 6.97 - [X.] 421.0 Prüfungswesen Nr. 380 S. 179).

Ausgehend von diesen Maßstäben ist gegen den angefochtenen [X.]eschluss nichts zu erinnern. Die [X.]eteiligten sind durch Verfügung der [X.]erichterstatterin vom 8. April 2019 auf die Absicht des Senats zur Entscheidung nach § 130a [X.] unter Setzung einer angemessenen Äußerungsfrist (10. Mai 2019) schriftlich angehört worden. Der [X.]evollmächtigten der Klägerin ist das [X.] am 10. April 2019 zugegangen, ohne dass sie einen [X.]eweisantrag gestellt oder neuen - aus Sicht des [X.]erufungsgerichts - entscheidungserheblichen Sachvortrag geleistet hat. Das [X.]erufungsgericht hat sich mit dem neuen Vortrag der Klägerin zur Aufnahme als Mitarbeiterin Support Verkauf bei einer GmbH auseinandergesetzt und diesen aus zwei Gründen - Tätigkeitsaufnahme nach der Widerspruchsentscheidung und allenfalls halbschichtige anderweitige und geringerwertige Verwendung ([X.] 17) - plausibel als nicht entscheidungserheblich beurteilt. Soweit die [X.]eschwerde rügt, in der Anhörung selbst sei über das Rechtsmittel gegen eine mögliche Entscheidung nach § 130a [X.] nicht belehrt worden, geht die [X.] ins Leere. Die [X.]elehrungspflicht über das Rechtsmittel gemäß § 130a Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 5 [X.] bezieht sich nicht auf das [X.], sondern auf den darauf ergehenden [X.]eschluss nach § 130a Satz 1 [X.]. Dort ist diese [X.]elehrung erfolgt.

b) Das [X.]erufungsgericht hat § 130a Satz 1 [X.] und damit den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör aber dadurch verletzt, dass es über die von ihm aufgrund ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils zugelassene [X.]erufung - in abweichender Würdigung der Sach- und Rechtslage durch die Vorinstanz - in einem in tatsächlicher Hinsicht komplexen Fall durch [X.]eschluss über die [X.]erufung entschieden hat.

aa) Nach § 130a Satz 1 [X.] kann das [X.]erufungsgericht über die [X.]erufung durch [X.]eschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet hält und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Ist das Erfordernis der Einstimmigkeit erfüllt, so liegt die Entscheidung über das Absehen von einer mündlichen Verhandlung im Ermessen des [X.]erufungsgerichts. Ob das [X.]erufungsgericht durch [X.]eschluss nach § 130a [X.] entscheidet, steht also in seinem pflichtgemäßen Ermessen. [X.] ist dieses Ermessen nur daraufhin überprüfbar, ob sachfremde Erwägungen oder grobe Fehleinschätzungen vorgelegen haben ([X.], Urteil vom 9. Dezember 2010 - 10 [X.] 13.09 - [X.]E 138, 289 <296> und [X.]eschluss vom 3. September 2015 - 2 [X.] - [X.] 449.4 § 53 [X.] Rn. 21; [X.], in: [X.]/[X.], [X.], 5. Aufl. 2018, § 130a Rn. 35). [X.]ei der Ermessensentscheidung nach § 130a Satz 1 [X.] dürfen indes die Funktionen der mündlichen Verhandlung und ihre daraus erwachsende [X.]edeutung für den Rechtsschutz nicht aus dem [X.]lick geraten (Art. 6 Abs. 1 [X.]). Jedenfalls dann, wenn - wie hier - ein [X.]eteiligter der beabsichtigten Entscheidung nach § 130a Satz 1 [X.] widerspricht, muss sich die Ausübung des Ermessens daran orientieren, dass die mündliche Verhandlung nach § 101 Abs. 1, § 125 Abs. 1 Satz 1 [X.] auch im [X.]erufungsverfahren die Regel, eine Entscheidung im vereinfachten Verfahren nach § 130a [X.] die Ausnahme bildet. Der Anwendungsbereich des § 130a Satz 1 [X.] ist nach dem Zweck der Norm grundsätzlich auf einfach gelagerte Streitsachen beschränkt. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass die umfassende Erörterung der tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte der Streitsache mit den [X.]eteiligten in einer [X.]erufungsverhandlung regelmäßig geeignet ist, die Richtigkeit und die Akzeptanz der gerichtlichen Entscheidung zu fördern ([X.], Urteil vom 30. Juni 2004 - 6 [X.] 28.03 - [X.]E 121, 211 <213 ff.> und [X.]eschlüsse vom 20. Oktober 2011 - 2 [X.] 63.11 - [X.] 2012, 20 <21> und vom 20. Mai 2015 - 2 [X.] 4.15 - [X.] 310 § 130a [X.] Nr. 86 Rn. 5).

Ein [X.]eschluss nach § 130a [X.] setzt weiter voraus, dass den [X.]eteiligten in erster Instanz eine mündliche Verhandlung gewährleistet war. Ist dies der Fall gewesen, steht ein wirksamer Verzicht der [X.]eteiligten der ersten Instanz auf eine mündliche Verhandlung nach § 101 Abs. 2 [X.] der Anwendung von § 130a [X.] durch das [X.]erufungsgericht grundsätzlich nicht entgegen ([X.], [X.]eschluss vom 22. Dezember 1998 - 9 [X.] 347.98 - [X.] 310 § 130a [X.] Nr. 31 S. 23; [X.], in: [X.]/[X.], [X.], 5. Aufl. 2018, § 130a Rn. 38). Etwas anderes gilt aber, wenn eine neue Verfahrenslage nunmehr die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erfordert.

Die Durchführung einer Verhandlung ist erforderlich, wenn sich die Streitsache nach den Gesamtumständen des Einzelfalls in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht als außergewöhnlich schwierig erweist (stRspr, vgl. [X.], Urteil vom 30. Juni 2004 - 6 [X.] 28.03 - [X.]E 121, 211 <213> und [X.]eschlüsse vom 20. Oktober 2011 - 2 [X.] 63.11 - [X.] 2012, 20 <21> und vom 3. September 2015 - 2 [X.] - [X.] 449.4 § 53 [X.] Rn. 22). Die Notwendigkeit, eine Rechtsnorm nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik oder Sinn und Zweck auszulegen, begründet indes für sich genommen noch keine außergewöhnlich große Schwierigkeit einer Rechtssache, insbesondere wenn das [X.]erufungsgericht sich mit der Auslegung der Norm bereits befasst hat und seine Rechtsprechung lediglich fortführt ([X.], [X.]eschlüsse vom 10. Juni 2008 - 3 [X.] 107.07 - juris Rn. 4 und vom 3. September 2015 - 2 [X.] - [X.] 449.4 § 53 [X.] Rn. 22). Eine mündliche Verhandlung kann danach vor allem zur sachgerechten Aufklärung schwieriger tatsächlicher Fragen geboten sein ([X.], [X.]eschluss vom 12. März 1999 - 4 [X.] 112.98 - [X.] 310 § 130a [X.] Nr. 35 S. 5 f.).

Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung liegt etwa dann nahe, wenn in einer tatsächlich besonders schwierigen Streitsache ein [X.]eteiligter neuen erheblichen Tatsachenvortrag in das [X.]erufungsverfahren eingeführt hat oder das [X.]erufungsgericht die [X.]eteiligten vor der Entscheidung durch [X.]eschluss nach § 130a Satz 1 [X.] im Rahmen der Anhörung nach § 130a Satz 2, § 125 Abs. 2 Satz 3 [X.] auf die tragenden Gründe für seine von derjenigen des [X.] abweichende Sachverhalts- und [X.]eweiswürdigung hinweist. Führt ein [X.]eteiligter daraufhin neuen und aus der Sicht des [X.]erufungsgerichts erheblichen Sachvortrag ein oder kündigt er einen erheblichen [X.]eweisantrag an, muss das [X.]erufungsgericht mitteilen, aus welchem Grund es an seiner Absicht festhält, auf eine mündliche Verhandlung zu verzichten. Es darf nicht ohne weitere Anhörung nach § 130a Satz 2, § 125 Abs. 2 Satz 3 [X.] ohne mündliche Verhandlung durch [X.]eschluss über die [X.]erufung entscheiden (stRspr, vgl. [X.], [X.]eschlüsse vom 2. März 2010 - 6 [X.] - [X.] 310 § 130a [X.] Nr. 80 Rn. 7 f. und vom 20. Oktober 2011 - 2 [X.] 63.11 - [X.] 2012, 20 <21 f.>).

bb) Daran gemessen hätte das [X.]erufungsgericht - trotz des Umstands, dass die Klägerin auf das [X.] nach § 130a Satz 2 [X.] noch keine [X.]eweisanträge angekündigt hat - angesichts der tatsächlich komplexen Sachlage des Falls über die von ihm selbst zugelassene [X.]erufung mündlich verhandeln müssen. Dies folgt für den Senat erstens daraus, dass das [X.]erufungsgericht den in tatsächlicher Hinsicht erstinstanzlich unzureichend aufgeklärten medizinischen Sachverhalt zur Frage der für die Dienstfähigkeit der Klägerin notwendigen körperlichen und psychischen [X.]elastbarkeit und Leistungsfähigkeit durch eigene [X.]eweiserhebung hat "nachermitteln" müssen (sachverständige Zeugenaussage der Fachpsychiaterin [X.] vom 18. Dezember 2018, [X.]ericht der Frau [X.] vom 29. Januar 2019, [X.]efundbericht des Diplom-Psychologen [X.] vom 17. März 2019). Zweitens ergibt sich aus der sachverständigen Zeugenaussage der Psychiaterin [X.] vom 18. Dezember 2018, dass die an einer langjährigen rezidivierenden depressiven Störung erkrankte Klägerin bereits ab dem 21. April 2017 und damit vor dem hier maßgeblichen Zeitpunkt der letzten [X.]ehördenentscheidung (Widerspruchsbescheid vom 4. Juli 2017) - folgend ebenso bei den folgenden [X.]ehandlungsterminen am 19. Mai 2017 und am 28. Juli 2017 - sich vom Antrieb her adäquat, gut schwingungsfähig und allseits orientiert ohne kognitive Defizite und zuletzt auch zugewandt und freundlich präsentiert hat. Dies warf schon zum damaligen Zeitpunkt Fragen im Hinblick auf die von der [X.] angenommenen fortbestehenden Dienstunfähigkeit infolge einer psychischen Dauererkrankung auf. Dass die Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren auf eine mündliche Verhandlung verzichtet hatte, darf ihr dabei schon deshalb nicht entgegengehalten werden, weil sie dieses Einverständnis nach § 101 Abs. 2 [X.] auf einer ganz anderen tatsächlichen und rechtlichen Grundlage getroffen hatte. Das Verwaltungsgericht hatte den [X.]eteiligten nämlich zuvor mitgeteilt, dass die Zurruhesetzung wegen Dienstunfähigkeit unzulässig gewesen sei, und die [X.]eklagte aufgefordert, dem klägerischen [X.]egehren abzuhelfen.

Die tatsächliche körperliche und psychische Leistungsfähigkeit der Klägerin zum maßgeblichen Zeitpunkt der streitgegenständlichen Zurruhesetzung im Juli 2017 aufzuklären, wird Aufgabe des [X.]erufungsgerichts im zurückverwiesenen Verfahren sein.

Meta

2 B 37/19

29.06.2020

Bundesverwaltungsgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 2. Juli 2019, Az: 4 S 2538/18, Beschluss

Art 6 Abs 1 MRK, § 101 Abs 1 VwGO, § 101 Abs 2 VwGO, § 125 Abs 1 S 1 VwGO, § 125 Abs 2 S 3 VwGO, § 130a VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 29.06.2020, Az. 2 B 37/19 (REWIS RS 2020, 3969)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 3969

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