Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24.02.2011, Az. V ZB 202/10

5. Zivilsenat | REWIS RS 2011, 9100

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Gegenstand

Zurückschiebung: Erforderlichkeit des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft; Erteilung des Einvernehmens nur durch Staatsanwälte


Leitsatz

1. Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ist auch bei der Zurückschiebung erforderlich .

2. Das Einvernehmen kann nur durch die Staats- oder Amtsanwälte der Staatsanwaltschaft und ihre Vorgesetzten, nicht durch ihre Ermittlungspersonen erteilt werden .

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Nordhorn vom14. Juni 2010 (11 XIV 4356/ - B -) und der Beschluss der 11. Zivilkammer des [X.] vom 28. Juli 2010 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in sämtlichen Instanzen werden der [X.] auferlegt.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 3.000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene, ein [X.] Staatsangehöriger, reiste am 13. Juni 2010 aus den [X.] kommend in einem Reisebus mit Fahrziel [X.] in das [X.] ein. Er wies sich bei der Kontrolle auf dem grenznahen Parkplatz [X.] mit einem gefälschten [X.] Reiseausweis für Ausländer aus und wurde noch am selben Tag in die [X.] zurückgeschoben. Da die [X.] Behörden den Betroffenen nur unter Vorbehalt zurückgenommen hatten und festgestellt wurde, dass der Betroffene schon zuvor in [X.] einen Asylantrag gestellt hatte, wurde er am Folgetag in das [X.] zurückgeführt. Die Beteiligte zu 2 verfügte daraufhin die Zurückschiebung des Betroffenen nach [X.]. Gegen ihn war ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden; die Zustimmung der Staatsanwaltschaft zu einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme lag nicht vor.

2

Auf den Antrag der Beteiligten zu 2 hat das Amtsgericht am 14. Juni 2010 die Haft zur Sicherung der Zurückschiebung für längstens drei Monate angeordnet. Die gegen die Haftanordnung gerichtete Beschwerde hat das [X.] zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde, mit der er nach der erfolgten Zurückschiebung am 5. August 2010 die Feststellung erreichen möchte, dass die Haftanordnung und die Beschwerdeentscheidung ihn in seinen Rechten verletzt haben.

II.

3

Das Beschwerdegericht meint, der Haftgrund der unerlaubten Einreise nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 [X.] sei gegeben. Der Betroffene habe die sich aus seiner unerlaubten Einreise ergebende Vermutung, er werde seiner Ausreisepflicht nicht nachkommen, nicht widerlegt. Es bestehe ferner der begründete Verdacht, dass sich der Betroffene der Zurückschiebung entziehen werde, so dass auch der Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 [X.] erfüllt sei. Der Betroffene habe [X.] trotz des laufenden Asylverfahrens verlassen und sich illegal in den [X.] aufgehalten. Er habe sich ein gefälschtes Ausweispapier beschafft, um die Behörden über seine Reiseberechtigung zu täuschen und habe keinesfalls nach [X.] zurückkehren wollen. Da die [X.] Behörden den Betroffenen unter Vorbehalt zurückgenommen hätten, sei trotz der Rückführung nach wie vor von einer illegalen Einreise auszugehen. Bei einer Zurückschiebung sei nicht nach § 72 Abs. 4 [X.] das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft einzuholen. Es sei vielmehr sachgerecht, bei einem Ausländer, der unmittelbar nach dem Grenzübertritt aufgegriffen wird und zurückgeschoben werden soll, das Strafverfolgungsinteresse hinter das Interesse an der Aufenthaltsbeendigung zurücktreten zu lassen. Zudem handele es sich bei den Polizeibeamten um Organe der Strafverfolgungsbehörden. Schließlich seien auch das Beschleunigungsgebot beachtet worden und die Haft insgesamt verhältnismäßig. Gründe, die Rechtsbeschwerde zuzulassen, lägen nicht vor.

III.

4

Das Rechtsmittel des Betroffenen hat Erfolg.

5

1. Die nach der Erledigung der Hauptsache auf Feststellung nach § 62 Abs. 1 FamFG gerichtete Rechtsbeschwerde ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG, § 106 Abs. 2 Satz 1 [X.] kraft Gesetzes statthaft (vgl. Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - [X.], [X.] 2010, 150, 151; Beschluss vom 29. April 2010 - [X.], [X.] 2010, 210, 211), ohne dass es auf die Zulassung oder Nichtzulassung durch das Beschwerdegericht ankäme. Sie ist auch im Übrigen zulässig (§ 71 Abs. 1 und 2 FamFG).

6

2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sowohl die Entscheidung des [X.] als auch die Haftanordnung haben den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, weil schon kein zulässiger Haftantrag vorlag.

7

a) Das Fehlen der nach § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] erforderlichen Zustimmung der zuständigen Staatsanwaltschaft führt nicht nur zur Unzulässigkeit der Abschiebungshaft (Senat, Beschlüsse vom 17. Juni 2010 - [X.], NVwZ 2010, 1574 f. Rn. 6 ff., vom 18. August 2010 - [X.], [X.] 2010, 440 Rn. 10, vom 20. Januar 2011 - [X.], juris Rn. 22 und vom 3. Februar 2011 - [X.]/10 z. Veröff. best.), die der Betroffene hier gerügt hat. Dieser Mangel kann vielmehr zur Unzulässigkeit schon des [X.] führen. Das ist der Fall, wenn sich aus dem Antrag der beteiligten Behörde oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne weiteres ergibt, dass gegen den Betroffenen ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig ist und der Antrag zu dem Vorliegen des Einvernehmens keine Angaben enthält (Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - [X.], juris Rn. 9).

8

b) Dieser Fall liegt hier vor.

9

aa) Aus dem Antrag der Beteiligten zu 2 ergibt sich, dass gegen den Betroffenen sowohl bei Anordnung der Zurückschiebungshaft als auch bei Zurückweisung der Beschwerde ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig war. Dem Haftantrag waren der Aufgriffsbericht und eine Sachverhaltsfortschreibung beigefügt. Aus diesen Unterlagen ergibt sich ohne weiteres, dass gegen den Betroffenen ein Strafverfahren wegen des Verdachts der Urkundenfälschung und des Verstoßes gegen Strafbestimmungen des [X.]es eingeleitet worden war. Das hat die Beteiligte zu 2 in ihrer Stellungnahme im Beschwerdeverfahren nicht anders gesehen. Angaben dazu, ob das Einvernehmen vorliegt, enthält der Antrag nicht.

[X.]) Das Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaft war nach § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] erforderlich.

(1) Es ist allerdings nach dem Wortlaut der Vorschrift, von dem das Beschwerdegericht ausgegangen ist, nur bei der Abschiebung (und der Ausweisung), nicht aber bei der Zurückschiebung vorgeschrieben, um die es hier geht. Dieses an dem Wortlaut ausgerichtete Verständnis der Norm liegt auch Nr. 72.4.3 der [X.] zum [X.] vom 26. Oktober 2009 ([X.] S. 878, 1203) zugrunde, wonach das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft bei der Anordnung von Zurückschiebungshaft nicht erforderlich ist. Es hat Zustimmung gefunden (GK-[X.]/[X.], Stand September 2007, § 72 Rn. 34; [X.], Ausländerrecht, Stand August 2008, § 72 [X.] Rn. 17; einschränkend allerdings [X.], [X.], 291: nur bei sehr kurzfristigem Aufenthalt).

(2) Der Senat hat die Frage noch nicht abschließend behandelt. Er hat allerdings in einer Entscheidung über einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz Zweifel an der Überzeugungskraft des Wortlauts und daran geäußert, ob ein dem Wortlaut verhaftetes Verständnis der Norm ihrem Zweck gerecht wird (Beschluss vom 18. August 2010 - [X.], [X.] 2010, 440 mit [X.]. Anmerkung [X.] ibid. 441). Die abschließende Prüfung hat diese vorläufige Einschätzung bestätigt.

(3) § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] ist teleologisch erweiternd auszulegen und auch auf die Zurückschiebungshaft anzuwenden.

(a) Es spricht schon viel dafür, dass die Nichterwähnung der Zurückschiebung in dieser Vorschrift eine unbeabsichtigte Lücke ist.

(aa) Mit der Regelung über das Einvernehmen in dem heutigen § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] hat der Gesetzgeber die Regelung in § 64 Abs. 3 [X.] 1990 unverändert übernommen (Entwurf des Zuwanderungsgesetzes von 2004 in [X.]. 15/420 S. 94). Die Vorschrift des § 64 Abs. 3 [X.] wiederum hat die unter Geltung des [X.]es von 1965 anzuwendenden Vorschriften über die Abstimmung der Ausländerbehörden mit den Strafverfolgungsbehörden bei der Abschiebung (und der Ausweisung) in Nr. 18 zu § 10 und Nr. 19 zu § 13 der [X.] [der Bundesregierung] zur Ausführung des [X.]es [von 1965] (vom 7. Juli 1967, [X.]. S. 231 [[X.]Vwv]) erstmals einer gesetzlichen Regelung zugeführt. Danach war vor der Abschiebung eines Ausländers, gegen den eine öffentliche Klage erhoben oder ein Ermittlungsverfahren anhängig war, eine Stellungnahme der Staatsanwaltschaft einzuholen. [X.] diese der Abschiebung, hatte diese zu unterbleiben (Satz 2 der Regelung). Diese Vorschriften sollte § 64 Abs. 3 [X.] unverändert in das [X.] übernehmen (Entwurfsbegründung in [X.]. 11/6321 [X.] f.). Nicht angeführt und in dem unverändert Gesetz gewordenen Entwurfstext nicht berücksichtigt wird die Regelung in Nr. 10 zu § 18 [X.]Vwv, die für die Zurückschiebung auf Nr. 19 zu § 13 verwies und so für diese ebenfalls das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft verlangte. Das ist mit den konzeptionellen Vorstellungen des Gesetzgebers nicht zu erklären.

([X.]) Der Gesetzgeber begreift die Zurückschiebung zwar schon seit ihrer Regelung in § 18 [X.] 1965 als eine Erweiterung der Zurückweisung. Er will sie auch im Grundsatz deren Regeln und nicht den Regeln der Abschiebung unterstellen (Begründung des [X.] 1965 in [X.]. IV/868 S. 16 zu § 17 und Begründung des [X.] 1990 in [X.]. 11/6321 [X.]). Er hat aber auch erkannt, dass die Regeln der Zurückweisung für die Zurückschiebung nicht ausreichen, weil sie gerade für die Fälle gedacht ist, in denen die sofortige Rücküberstellung an den [X.] nicht möglich ist. Das führt dazu, dass sich bei ihr regelmäßig dieselben Regelungsprobleme stellen wie bei der Abschiebung. Deshalb verweisen die Vorschriften über die Zurückschiebung seit jeher auf die zur Ausfüllung notwendigen Vorschriften über die Abschiebung und insbesondere über die Abschiebungshaft. Zu den Einzelfragen, bei denen sich trotz der [X.] als Sonderform der Zurückweisung kein relevanter Unterschied zur Abschiebung ergibt, gehört auch die Abstimmung der Ausländerbehörden mit den Strafverfolgungsbehörden. Das war, wie sich aus Nr. 10 zu § 18 [X.]Vwv ergibt, unter Geltung des § 18 [X.] 1965 unbestritten. Anhaltspunkte dafür, dass und aus welchen Gründen der Gesetzgeber davon mit § 64 Abs. 3 [X.] 1990 inhaltlich hat abrücken wollen, sind nicht erkennbar. Ob das bei der Übernahme der Regelung des § 64 Abs. 3 [X.] 1990 in § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] mit Blick darauf anders war, dass die Zustimmung der Staatsanwaltschaft nach Nr. 64.3.3 der [X.] zum [X.] vom 28. Juni 2000 ([X.]. [X.]) bei der Zurückschiebung nicht einzuholen war, ist zweifelhaft, kann aber offen bleiben.

(b) Der Zweck der Vorschrift des § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] erfordert ihre Anwendung auf den Fall der Zurückschiebung.

(aa) Die Vorschrift hat seit ihren Anfängen in der Regelung in der [X.] zum [X.] von 1965 unverändert den Zweck zu verhindern, dass die Strafverfolgung durch ausländerrechtliche Maßnahmen erschwert oder vereitelt wird. Aus diesem Grund hängen die Ausweisung und die Abschiebung von der Zustimmung der Staatsanwaltschaft ab. Allein ihr obliegt die Abwägung, ob das Strafverfolgungsinteresse das Interesse an der Abschiebung des Ausländers überwiegt. Darüber besteht Einigkeit ([X.], [X.], 291; [X.] in GK-[X.], aaO, § 72 Rn. 29 f.; [X.], Ausländerrecht, aaO, § 72 [X.] Rn. 14).

([X.]) Ein überwiegendes Interesse an der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs gegenüber einem Ausländer, der sich illegal im [X.] aufhält, kann aber nicht nur in den Fällen der Abschiebung und Ausweisung, sondern ebenso bei einer Zurückschiebung bestehen (Senat, Beschluss vom 18. August 2010 - [X.], [X.] 2010, 440; ähnlich [X.], [X.], 291). Zu einer Zurückschiebung kommt es nämlich gewöhnlich nur, wenn der Ausländer, aus welchem Grund auch immer, nicht unmittelbar an der Grenze gemäß § 15 [X.] zurückgewiesen wird, sondern unerlaubt in das [X.] einreist. Seine Zurückschiebung unterscheidet sich im Hinblick auf die Sicherung des öffentlichen Strafverfolgungsinteresses nicht von der Situation bei der Abschiebung.

[X.] muss, anders als die Zurückweisung, deren Regeln sie an sich unterstehen soll, nicht in unmittelbarem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Grenzübertritt erfolgen, sondern ist auch noch einige [X.] nach dem Grenzübertritt zulässig. In einem solchen [X.]raum kann ein unerlaubt eingereister Ausländer - etwa, um sich Lebensunterhalt zu verschaffen - Straftaten begehen, an deren Verfolgung ein öffentliches Interesse besteht. Über dessen Durchsetzung kann sinnvoll nur die Strafverfolgungsbehörde entscheiden, nicht die Ausländerbehörde, die dafür nicht zuständig und mit der Strafverfolgung auch nicht weiter befasst ist. Deshalb hatte die Bundesregierung in Nr. 10 zu § 18 [X.]Vwv eine Abstimmungspflicht auch für die Zurückschiebung vorgesehen.

Das sachliche Abstimmungsbedürfnis ist weder mit dem [X.] von 1990 noch mit dem [X.] entfallen. Es ist vielmehr wesentlich drängender geworden. Nach dem damals eingeführten § 61 Abs. 1 Satz 1 [X.] 1990 und nach dem heutigen § 57 Abs. 1 [X.] kann die Zurückschiebung nämlich nicht nur, wie bis dahin vorgesehen, in den ersten sieben Tagen, sondern in den ersten sechs Monaten nach dem Grenzübertritt erfolgen. Mit dieser Verlängerung der [X.] entfernt sich die Zurückschiebung sehr weit von der sofortigen Zurückweisung an der Grenze, die sie eigentlich nur "verlängern" soll. Sie nähert sich damit so stark der Abschiebung an, dass jedenfalls unterschiedliche Anforderungen an die Abstimmung der Ausländerbehörden mit den Strafverfolgungsbehörden sachlich nicht mehr zu rechtfertigen sind. In der jetzt geltenden langen Zurückschiebungsfrist können Ausländer, die zurückgeschoben werden können, genauso wie andere ausreisepflichtige Ausländer Straftaten begehen, an deren Verfolgung ein öffentliches Interesse besteht, das gewichtiger ist als das Interesse an der Durchsetzung der Verlassenspflicht. Ein Sachgrund, weshalb das Strafverfolgungsinteresse auch dann zurücktreten soll, wenn es gewichtiger ist, ist ebenso wenig erkennbar wie dafür, dass darüber die Ausländerbehörden sollen entscheiden können, ohne die Staatsanwaltschaft auch nur zu beteiligen. Es wäre nicht zweckmäßig, zwischen [X.] im unmittelbaren und zeitlichen Zusammenhang mit der unerlaubten Einreise und solchen zu unterscheiden, die danach erfolgen (so aber [X.], [X.], 291). Denn beide Formen der Zurückschiebung lassen sich nicht sicher voneinander abgrenzen. Eine sachgerechte Berücksichtigung des Strafverfolgungsinteresses lässt sich nur durch eine Erstreckung des [X.] nach § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] auf die Zurückschiebung erreichen.

([X.]) Gegen die Anwendung des § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] auf die Zurückschiebung lässt sich entgegen der Auffassung des [X.], auch nicht einwenden, ein berücksichtigungsfähiges Strafverfolgungsinteresse bestehe in solchen Fällen nicht. Seinen Einwand stützt das Beschwerdegericht auf die Vermutung, ein zurückzuschiebender Ausländer werde während seines Aufenthalts im [X.] im Allgemeinen allenfalls Straftaten nach dem [X.] und begleitende Straftaten nach dem Strafgesetzbuch begehen. Ob diese Einschätzung zutrifft, bedarf keiner Entscheidung. Das Argument verfehlt das entscheidende Anliegen der Vorschrift. Die Regelung soll nicht sicherstellen, dass Ausländer, gegen die ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig oder die öffentliche Klage erhoben ist, erst nach Abschluss des Verfahrens ausgewiesen, ab- oder zurückgeschoben werden. Sie soll der Staatsanwaltschaft vielmehr nur die Gelegenheit geben, solche Strafverfahren gegen Ausländer abschließen, an deren Abschluss ein öffentliches Strafverfolgungsinteresse besteht, das das Interesse an der sofortigen Ab- oder Zurückschiebung überwiegt. Die Entscheidung darüber soll nicht die Ausländerbehörde, sondern die Staatsanwaltschaft treffen. Diese hat auch die Möglichkeit, ihr Einvernehmen in allgemeiner Form zu erteilen (Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - [X.], juris Rn. 25). Von dieser Möglichkeit könnte sie Gebrauch machen, wenn das Interesse an der Verfolgung von Straftaten nach dem [X.] tatsächlich immer hinter dem Interesse an der Zurückschiebung zurücktreten sollte.

[X.]) Das Einvernehmen muss nach § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] von dem das Verfahren führenden Staats- oder Amtsanwalt der zuständigen Staatsanwaltschaft oder ihren Vorgesetzten erteilt werden. Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft können es nicht erteilen. Das ergibt sich aus dem Konzept der Vorschrift und der Funktion der Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft.

(1) Nach § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] soll nicht die Ausländerbehörde darüber entscheiden, ob das Strafverfolgungsinteresse das Ab- oder Zurückschiebungsinteresse überwiegt, sondern allein die Staatsanwaltschaft. Dieses Konzept würde unterlaufen, wenn Mitarbeiter der Ausländerbehörde, die gleichzeitig Ermittlungspersonen der Staatanwaltschaft sind, der Staatsanwaltschaft diese Entscheidung aus der Hand nehmen könnten.

(2) Das wäre auch mit der Rolle unvereinbar, die § 152 Abs. 1 [X.] den Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft zuweist. Diese sind zwar verpflichtet und befugt, in bestimmten Fällen ein Ermittlungsverfahren (formlos) einzuleiten (vgl. § 12 Abs. 1 und 5 [X.]. § 152 [X.], § 163 [X.]; [X.], Urteil vom 24. Juli 2003 - 3 [X.], NJW 2003, 3142, 3143; [X.], 6. Aufl., § 160 Rn. 14). Sie haben aber nach § 152 Abs. 1 [X.] den Anordnungen der Staatsanwaltschaft Folge zu leisten. Diese allein leitet das Ermittlungsverfahren. Sie trägt die Gesamtverantwortung für eine rechtsstaatliche, faire und ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens, auch soweit es durch die Ermittlungspersonen der (Bundes-) Polizei geführt wird ([X.], Beschluss vom 27. Mai 2009 - 1 StR 99/09, [X.], 2612, 2613). Nach § 154b Abs. 3 [X.] entscheiden die Staats- und Amtsanwälte der Staatsanwaltschaft, nicht ihre Ermittlungspersonen darüber, ob im Fall der Abschiebung oder Zurückschiebung von der Erhebung der Klage abgesehen wird (vgl. [X.], aaO, § 154b Rn. 6; [X.] in Löwe/[X.], [X.], 25. Aufl., § 154b Rn. 7). Die erforderliche Abwägung zwischen dem öffentlichen Strafverfolgungsinteresse und der behördlichen Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen müssen deshalb auch die Staats- und Amtsanwälte der Staatsanwaltschaft treffen (vgl. [X.] in Löwe/[X.], aaO, Rn. 8).

c) Das Fehlen eines zulässigen [X.] kann nicht rückwirkend geheilt werden, weil es sich bei der ordnungsgemäßen Antragstellung durch die Behörde um eine Verfahrensgarantie handelt, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG fordert (Senat, Beschlüsse vom 29. April 2010 - [X.], [X.] 2010, 210, 211, vom 22. Juli 2010 - [X.], NVwZ 2010, 1511, 1512 und vom 21. Oktober 2010 - [X.], juris Rn. 14). Deshalb ist ohne weitere Sachaufklärung festzustellen, dass die Haftanordnung und die Beschwerdeentscheidung den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

IV.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 [X.] entspricht es billigem Ermessen, die [X.], der die beteiligte Behörde angehört (vgl. § 430 FamFG), zur Erstattung der notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 128c Abs. 2, § 30 Abs. 2 KostO.

Krüger                            Lemke                                Schmidt-Räntsch

                Czub                                Weinland

Meta

V ZB 202/10

24.02.2011

Bundesgerichtshof 5. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Osnabrück, 28. Juli 2010, Az: 11 T 440/10, Beschluss

§ 72 Abs 4 S 1 AufenthG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24.02.2011, Az. V ZB 202/10 (REWIS RS 2011, 9100)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 9100

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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