Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16.12.2021, Az. 2 AZR 356/21

2. Senat | REWIS RS 2021, 244

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Gegenstand

Verhaltensbedingte Kündigung - Auflösungsantrag


Leitsatz

Der Arbeitgeber trägt auch dann die Beweislast für den von ihm behaupteten Kündigungs- bzw. Auflösungsgrund, wenn das betreffende Verhalten des Arbeitnehmers den Tatbestand der üblen Nachrede iSv. § 186 StGB erfüllen würde.

Tenor

1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 10. Juni 2021 - 8 [X.]/20 - aufgehoben.

2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an eine andere Kammer des [X.] zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die [X.]arteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung und einen [X.] der [X.] sowie über die vorläufige Weiterbeschäftigung der Klägerin.

2

Die Beklagte, bei der ein Betriebsrat gebildet ist, erbringt mit regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmern Dienstleistungen für ihre Alleingesellschafterin, ua. im Bereich [X.]/Callcenter. Dort war die Klägerin eingesetzt.

3

Ende März 2019 entschied die Beklagte, die Funktion der Teamleiterin der [X.] von [X.] auf Frau [X.] zu übertragen. Am 8. April 2019 sandte die Klägerin eine mit „Die Mitarbeiter des [X.]“ unterzeichnete E-Mail an den Vorstand der Alleingesellschafterin der [X.]. Darin wurde verlangt, dass [X.] „in der Funktion unserer Teamleitung verbleibt“, unter Frau [X.] gehe es „drunter und drunter“. Nachdem sie von der Geschäftsführung der [X.] mehrfach aufgefordert worden war, die Vorwürfe zu erläutern und die Urheber der E-Mail zu benennen, nahm die Klägerin mit zwei auf den 28. Mai 2019 datierten Schreiben Stellung, die mit „Die Mitarbeiter des Infopoint“ bzw. „Mehrere Mitarbeiter des Infopoint“ unterzeichnet waren. Dort schilderte sie diverse Vorfälle, ihren Ausgang nehmend im Juni 2017 mit einer Durchsuchung des [X.] durch den [X.]. In diesem Zusammenhang habe Frau [X.] die Mitarbeiter wegen angeblicher Verstöße gegen das Datenschutzrecht beschimpft sowie dazu aufgefordert, den Vorfall „unter den Teppich zu kehren“ und „Stillschweigen zu bewahren“. Frau [X.] wehre konsequent Meldungen über Fehlverhalten des [X.]es ab.

4

Die Beklagte kündigte nach Anhörung des Betriebsrats das Arbeitsverhältnis der [X.]arteien mit Schreiben vom 27. Juni 2019 zum 30. November 2019.

5

Dagegen hat sich die Klägerin rechtzeitig mit der vorliegenden Klage gewandt und ua. die fehlende [X.] Rechtfertigung der Kündigung geltend gemacht.

6

Die Klägerin hat sinngemäß beantragt

        

1.    

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der [X.]arteien durch die schriftliche Kündigung vom 27. Juni 2019 nicht aufgelöst worden ist,

        

2.    

die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin bis zur rechtskräftigen Beendigung des vorliegenden Rechtsstreits zu den bisherigen Bedingungen als Mitarbeiterin im Bereich [X.]/Callcenter weiterzubeschäftigen.

7

In zweiter Instanz hat die Beklagte hilfsweise zu ihrem Klageabweisungsantrag beantragt,

        

das Arbeitsverhältnis der [X.]arteien gegen Festsetzung einer Abfindung gemäß §§ 9, 10 [X.] aufzulösen.

8

Die Beklagte hat die Kündigung ua. damit verteidigt, die Klägerin habe sich mit ihrer Kritik nicht direkt an den Vorstand der Alleingesellschafterin wenden dürfen. Zudem habe sie in den Schreiben vom 28. Mai 2019 bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen ua. über Frau [X.] aufgestellt. Überdies habe sie - wahrheitswidrig - den Eindruck zu erwecken versucht, sämtliche oder doch mehrere Mitarbeiter des [X.] stünden hinter der E-Mail vom 8. April 2019 sowie den Schreiben vom 28. Mai 2019. Die feindselige Einstellung der Klägerin gegenüber Frau [X.] werde durch einen Vorfall am 31. Mai 2019 verdeutlicht. An diesem Tag sei eine Besprechung für Mitarbeiter des [X.] anberaumt gewesen. Die Klägerin und [X.] hätten sich bereits im Seminarraum befunden und die abgesperrte Tür trotz intensiven Klopfens durch Frau [X.] nicht geöffnet. Der [X.] werde ua. darauf gestützt, dass die Klägerin - als solches unstreitig - im ersten Termin zur mündlichen Berufungsverhandlung angegeben habe, Frau K sei weitere Urheberin der E-Mail vom 8. April 2019. Überdies habe die Klägerin - als solches wiederum unstreitig - einem Geschäftsführer der [X.] in einer Verhandlungspause mitgeteilt, sie könne sich zwar nicht mehr an konkrete Daten erinnern, sei jedoch bei Gesprächen dabei gewesen, in denen [X.] - wie von dieser in einem anderen Rechtsstreit behauptet - Frau [X.] über sexuelle Belästigungen ihrer - der [X.] - Tochter durch einen Mitarbeiter des [X.]es unterrichtet habe. Solche Gespräche hätten aber zu keiner Zeit stattgefunden.

9

Das Arbeitsgericht hat dem Kündigungsschutzantrag stattgegeben. Das [X.] hat die Berufung der [X.] zurück- und ihren [X.] abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren [X.] und hilfsweise ihren [X.] weiter.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Mit der gegebenen Begründung durfte das [X.] weder ihre Berufung gegen das der Klage stattgebende erstinstanzliche Urteil zurück- noch den zweitinstanzlich angebrachten [X.] abweisen. Ob das Arbeitsverhältnis der [X.]en durch die Kündigung vom 27. Juni 2019 aufgelöst worden ist, kann der [X.] nicht selbst entscheiden. Das führt zur Aufhebung des gesamten Berufungsurteils (§ 562 Abs. 1 Z[X.]O) und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] (§ 563 Abs. 1 Z[X.]O).

I. Das [X.] hat dem Kündigungsschutzantrag zu Unrecht mit der Begründung entsprochen, die Kündigung sei sozial nicht gerechtfertigt.

1. Eine Kündigung ist iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 [X.] durch Gründe im Verhalten des Arbeitnehmers bedingt und damit nicht sozial ungerechtfertigt, wenn dieser seine vertraglichen Haupt- oder Nebenpflichten erheblich und in der Regel schuldhaft verletzt hat, eine dauerhaft störungsfreie Vertragserfüllung in Zukunft nicht mehr zu erwarten steht und dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers über die Kündigungsfrist hinaus in Abwägung der Interessen beider Vertragsteile nicht zumutbar ist. Auch eine erhebliche Verletzung der den Arbeitnehmer gemäß § 241 Abs. 2 BGB treffenden [X.]flicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers kann eine Kündigung rechtfertigen. Eine Kündigung scheidet dagegen aus, wenn schon mildere Mittel und Reaktionen von Seiten des Arbeitgebers - wie etwa eine Abmahnung - geeignet gewesen wären, beim Arbeitnehmer künftige Vertragstreue zu bewirken. Einer Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 iVm. § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung auch nach Ausspruch einer Abmahnung nicht zu erwarten oder die [X.]flichtverletzung so schwerwiegend ist, dass selbst deren erstmalige Hinnahme durch den Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist ([X.] 5. Dezember 2019 - 2 [X.] - Rn. 75).

2. Dem Berufungsgericht kommt bei der [X.]rüfung und Interessenabwägung, ob eine Kündigung durch Gründe im Verhalten des Arbeitnehmers iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 [X.] bedingt ist, ein Beurteilungsspielraum zu. Seine Würdigung wird in der Revisionsinstanz lediglich daraufhin geprüft, ob es von den zutreffenden Rechtssätzen ausgegangen ist, bei der Unterordnung des Sachverhalts unter diese keine Denkgesetze oder allgemeinen Erfahrungssätze verletzt und alle vernünftigerweise in Betracht zu ziehenden Umstände widerspruchsfrei berücksichtigt hat ([X.] 5. Dezember 2019 - 2 [X.] - Rn. 78).

3. Auch diesem eingeschränkten [X.]rüfungsmaßstab hält das angefochtene Urteil nicht stand.

a) Zwar hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei gemeint, der Versand der E-Mail vom 8. April 2019 an den Vorstand der Alleingesellschafterin der Beklagten rechtfertige - vorbehaltlich der darin enthaltenen falschen Angaben zur Urheberschaft - die streitbefangene Kündigung ohne vorherige Abmahnung nicht. Das [X.] hat seine Annahme, es habe sich insofern nicht um eine so schwere [X.]flichtverletzung gehandelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme durch die Beklagte nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für die Klägerin erkennbar - ausgeschlossen war, damit begründet, etwaige Tatsachenbehauptungen in der E-Mail seien derart substanzlos, dass eine für die Beklagte bzw. deren Geschäftsführung nachteilige Reaktion ihrer Alleingesellschafterin und Auftraggeberin - objektiv - nicht zu befürchten gewesen und demgemäß auch ausgeblieben sei. Diese auf die Art, das Ausmaß und die (möglichen) Folgen der [X.]flichtverletzung bezogenen Erwägungen sind von Rechts wegen nicht zu beanstanden (vgl. [X.] 20. Mai 2021 - 2 [X.] - Rn. 27).

b) Jedoch ist das Berufungsgericht rechtsfehlerhaft zu der Annahme gelangt, die Klägerin habe durch die von ihr verfassten Schreiben vom 28. Mai 2019 ihre arbeitsvertraglichen [X.]flichten nicht „gravierend“ verletzt. Es hat verkannt, dass hinsichtlich der darin geschilderten Vorgänge nicht bloß die „Wahrnehmung und Bewertung“ durch die [X.]en auseinandergeht. Vielmehr soll die Klägerin nach dem Vorbringen der Beklagten bewusst unwahre, ehrenrührige Tatsachenbehauptungen aufgestellt haben. Das betrifft namentlich - aber nicht allein - ihre Behauptung, [X.] habe im Zusammenhang mit den Vorkommnissen im Juni 2017 Mitarbeiter des [X.] aufgefordert, den Vorfall „unter den Teppich zu kehren“ und „Stillschweigen zu bewahren“.

c) Zudem fehlt es an jeder Begründung durch das [X.], warum in der wahrheitswidrigen Behauptung der Klägerin, es stünden alle oder doch mehrere Mitarbeiter des [X.] hinter der E-Mail vom 8. April 2019 und den Schreiben vom 28. Mai 2019, keine besonders schwere, unmittelbar den Bestand des Arbeitsverhältnisses gefährdende [X.]flichtverletzung lag. Das ist jedenfalls in Bezug auf die Schreiben vom 28. Mai 2019 nicht offenkundig. Denn diese enthalten konkrete, weiteren Verfassern zugeschriebene Tatsachenbehauptungen und wurden erst versandt, nachdem die Beklagte durch die Bitte um Konkretisierung klar gemacht hatte, dass es ihr auch auf die (Zahl der) Urheber ankomme.

d) Hinsichtlich des Vorfalls am 31. Mai 2019 geht das Berufungsgericht von einem allenfalls „unkollegialen“ Verhalten der Klägerin aus, das „eine Kündigung - erst recht ohne vorherige Abmahnung - nicht rechtfertigen könnte“. Dem lässt sich schon nicht entnehmen, ob das [X.] das von der Beklagten behauptete Verhalten der Klägerin gar nicht als arbeitsvertragliche [X.]flichtverletzung bewertet oder zwar eine [X.]flichtwidrigkeit annimmt, dieser aber nur ein geringes Gewicht beimisst. Jedenfalls lässt sich nicht ersehen, dass das Berufungsgericht die Behauptung der Beklagten - als unbestritten oder als wahr unterstellt - in seine Würdigung einbezogen hat, die Klägerin und [X.] hätten die Tür zum Seminarraum „abgesperrt“, also wohl von innen verschlossen, was ggf. als gezielte Obstruktion/[X.]rovokation und damit als eine - in ihrer Schwere zu würdigende - gemeinschaftlich begangene [X.]flichtverletzung zu verstehen gewesen sein dürfte.

e) Die vorstehend aufgezeigten Rechtsfehler setzen sich in der vom [X.] abschließend vorgenommenen „Gesamtwürdigung“ fort. Soweit das Berufungsgericht dort auf den zuvor beanstandungsfreien Bestand des Arbeitsverhältnisses und dessen „Restlaufzeit“ (wohl) bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze durch die Klägerin abstellt, handelt es sich um Umstände, die bei der [X.]rüfung der Entbehrlichkeit einer vorherigen Abmahnung unter dem Gesichtspunkt einer besonderen Schwere der betreffenden [X.]flichtverletzung(en) außer Betracht zu bleiben haben (vgl. [X.] 20. Mai 2021 - 2 [X.] - Rn. 27).

II. Nach alledem stellt sich auch die Annahme des [X.]s als rechtsfehlerhaft dar, der [X.] der Beklagten sei zur Entscheidung angefallen. Dessen ungeachtet hätte es ihn mit der gegebenen Begründung nicht abweisen dürfen.

1. Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2 [X.] hat das Gericht das Arbeitsverhältnis auf Antrag des Arbeitgebers aufzulösen und den Arbeitgeber zur Zahlung einer angemessenen Abfindung zu verurteilen, wenn Gründe vorliegen, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht erwarten lassen. Als [X.] kommen Umstände in Betracht, die das persönliche Verhältnis zum Arbeitnehmer, eine Wertung seiner [X.]ersönlichkeit, Leistung oder Eignung für die ihm übertragenen Aufgaben und sein Verhältnis zu den übrigen Mitarbeitern betreffen. Die Gründe, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen den Vertragspartnern nicht erwarten lassen, müssen nicht im Verhalten, insbesondere nicht im schuldhaften Verhalten des Arbeitnehmers liegen. Entscheidend ist, ob die objektive Lage bei Schluss der mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz die Besorgnis rechtfertigt, eine weitere gedeihliche Zusammenarbeit sei gefährdet ([X.] 24. Mai 2018 - 2 [X.] - Rn. 16, [X.]E 163, 36).

2. Bei der Beurteilung des in § 9 Abs. 1 Satz 2 [X.] normierten [X.] geht es um die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs. Die Wertung, ob es im Einzelfall gerechtfertigt ist, das Arbeitsverhältnis auf Antrag des Arbeitgebers aufzulösen, obliegt in erster Linie dem [X.]. Das Revisionsgericht kann nur nachprüfen, ob das Berufungsgericht die Voraussetzungen für den [X.] verkannt und bei der [X.]rüfung der vorgetragenen [X.] alle wesentlichen Umstände vollständig und widerspruchsfrei berücksichtigt hat ([X.] 24. Mai 2018 - 2 [X.] - Rn. 14, [X.]E 163, 36).

3. Auch diesem eingeschränkten [X.]rüfungsmaßstab genügt das Urteil des [X.]s in mehreren [X.]unkten nicht.

a) Zwar ist seine Annahme frei von [X.], aus einem am 21. Juni 2019 geführten Telefonat der Klägerin mit einem Geschäftsführer der Beklagten ergebe sich kein [X.]. Diese Würdigung wird auch von der Revision nicht angegriffen.

b) Doch hat das Berufungsgericht rechtsfehlerhaft gemeint, die Behauptung der Klägerin im Rechtsstreit, (einzige) Miturheberin der E-Mail vom 8. April 2019 sei [X.], vermöge die Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht zu rechtfertigen, weil sie den möglichen Unrechtsgehalt der [X.]flichtverletzung nicht ausreichend erhöhe.

aa) Es ist schon nicht ersichtlich, dass das [X.] bei dieser Bewertung von der Rechtsprechung des [X.]s ausgegangen ist, wonach bewusst wahrheitswidriger [X.]rozessvortrag des Arbeitnehmers in einem Kündigungsrechtsstreit, den dieser hält, weil er befürchtet, mit wahrheitsgemäßen Angaben den [X.]rozess zu verlieren, geeignet ist, eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen (vgl. [X.] 24. Mai 2018 - 2 [X.] - Rn. 25, [X.]E 163, 36), und mögliche vorgerichtliche Lügen ihn nicht von der ihm im Rechtsstreit gemäß § 241 Abs. 2 BGB, § 138 Abs. 1 Z[X.]O obliegenden [X.]flicht entbinden, wahrheitsgemäß vorzutragen (vgl. [X.] 24. Mai 2018 - 2 [X.] - Rn. 27, aaO).

bb) Jedenfalls hat das Berufungsgericht verkannt, dass die Klägerin im [X.]rozess nicht „nur“ ihre unwahre vorgerichtliche Behauptung wiederholt hat, es hätten sämtliche Mitarbeiter des [X.] hinter der E-Mail vom 8. April 2019 gestanden, sondern dass sie erstmals gezielt [X.] als weitere Urheberin angeführt hat. Damit hat die Klägerin nicht „bloß“ eine „pauschale Verfasserlüge“ aufrechterhalten, sondern sie an die Vorhalte der Beklagten im Rechtsstreit angepasst und auf [X.] konkretisiert (vgl. [X.] 24. Mai 2018 - 2 [X.] - Rn. 34, [X.]E 163, 36), die damit in den Fokus der Beklagten gerückt wurde. Zumindest darin läge ein [X.] iSv. § 9 Abs. 1 Satz 2 [X.], wenn davon auszugehen sein sollte, [X.] sei an der E-Mail nicht beteiligt gewesen.

c) Außerdem hat das [X.] rechtsfehlerhaft gemeint, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin wahrheitswidrig behauptet habe, bei mehreren Gesprächen zugegen gewesen zu sein, in denen [X.] die [X.] über (vermeintliche) sexuelle Belästigungen ihrer - der Frau R - Tochter durch einen Mitarbeiter des [X.] unterrichtet habe.

aa) Allerdings hat das Berufungsgericht im Ausgangspunkt zutreffend angenommen, die Beklagte trage die primäre Darlegungs- und die Beweislast dafür, dass eine entsprechende Information der Zeugin [X.] nicht erfolgt ist.

(1) An dem Grundsatz, dass den Arbeitgeber nicht nur die primäre Darlegungs-, sondern ggf. auch die Beweislast für den von ihm behaupteten Kündigungs- bzw. [X.] trifft, ändert es zum einen nichts, dass das fragliche Verhalten des Arbeitnehmers zugleich den Tatbestand der üblen Nachrede iSv. § 186 StGB erfüllen könnte (vgl. [X.] 27. September 2012 - 2 [X.] - Rn. 28 und 43; [X.]/[X.] 22. Aufl. BGB § 626 Rn. 236; [X.] Beweislastfragen im Kündigungsschutzprozess S. 140 ff.; [X.]/Oetker [X.] § 1 Rn. 208). Das gilt schon deshalb, weil die strafrechtliche Beurteilung des inkriminierten Verhaltens für die [X.] bzw. auflösungsrechtliche Bewertung nach § 1 Abs. 2, § 9 Abs. 1 [X.] ohne Belang ist (vgl. [X.] 31. Januar 2019 - 2 [X.] - Rn. 75, [X.]E 165, 255; 23. August 2018 - 2 [X.] - Rn. 44).

(2) Zum anderen verschiebt sich die Beweislast nicht deshalb, weil es um den Beweis einer negativen Tatsache geht. Eine solche Beweisführung unterliegt zwar für die [X.] im Allgemeinen besonderen Anforderungen. Doch ist den Schwierigkeiten, denen sich die [X.] gegenübersieht, die das [X.] (das Nichtvorliegen einer Tatsache) beweisen muss, im Rahmen des Zumutbaren regelmäßig dadurch zu begegnen, dass sich der [X.]rozessgegner auf die bloße Behauptung des Negativen durch den primär Darlegungs- und [X.] seinerseits nicht mit einem einfachen Bestreiten begnügen darf, sondern im Rahmen einer sekundären Darlegungslast vortragen muss, welche tatsächlichen Umstände für das Vorliegen des [X.]ositiven sprechen. Dem [X.] obliegt sodann (nur) der Nachweis, dass diese Darstellung nicht zutrifft (vgl. [X.] 26. Juni 2019 - 5 [X.] - Rn. 15, [X.]E 167, 144; [X.] 15. August 2019 - III [X.]/17 - Rn. 19; 7. März 2019 - [X.]/18 - Rn. 31; 4. Oktober 2018 - III ZR 213/17 - Rn. 15; 24. Juli 2018 - II [X.]/16 - Rn. 11). Dieser Nachweis kann von der beweisbelasteten [X.] auch mithilfe von Indizien erbracht werden (vgl. [X.] 14. Januar 2010 - 10 [X.]/09 -; allgemein zum Indizienbeweis [X.] 11. Juni 2020 - 2 [X.] - Rn. 63, [X.]E 171, 66).

bb) Das [X.] hat danach rechtsfehlerhaft angenommen, die Klägerin sei der sie treffenden sekundären Darlegungslast in ausreichendem Maß nachgekommen.

(1) Bei der sekundären Darlegungslast der [X.], die eine negative Tatsache bestreitet, handelt es sich um eine eigenständige prozessuale Rechtsfigur. Dem [X.]rozessgegner ist es schlechterdings nur erlaubt, das Vorliegen einer negativen Tatsache zu bestreiten, wenn er aus eigener Kenntnis oder aufgrund von Nachforschungen das von ihm behauptete Geschehen in räumlicher, zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht substantiiert darlegen kann. Ist er dazu nicht in der Lage, trifft ihn die gleiche prozessuale Folge, die sonst einen Anspruchsteller trifft, der nicht alle Tatbestandsmerkmale einer einschlägigen Anspruchsgrundlage dartun kann: Zu seinem Nachteil ist dann davon auszugehen, dass die im Rahmen der sekundären Darlegungslast zu schildernde (positive) Tatsache nicht vorliegt (vgl. [X.] 8. Januar 2019 - II ZR 139/17 - Rn. 34; 10. Februar 2011 - [X.]/08 - Rn. 2; [X.] 22. September 2016 - 11 [X.] - zu II 1 c dd (2) der Gründe; [X.] 13. Juli 2009 - 24 [X.]/08 - zu II A 1 g der Gründe).

(2) Im Streitfall hat die Klägerin die angeblich in ihrem Beisein erfolgten Unterrichtungen der Zeugin [X.] über Vorwürfe der sexuellen Belästigung nicht in räumlicher, zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht und damit nicht ausreichend iSv. § 138 Abs. 2 und Abs. 3 Z[X.]O substantiiert. Keiner Entscheidung bedarf es, ob das betreffende Vorbringen von [X.] in einem zwischen ihr und der Beklagten geführten Rechtsstreit ausreichend konkret war. Das [X.] hat diesen Vortrag verfahrensfehlerhaft zum Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits gemacht. Die Klägerin hat sich den Vortrag von [X.] in „ihrem“ Verfahren gerade nicht zu eigen gemacht, sondern vielmehr bis zuletzt daran festgehalten, sie könne keine Einzelheiten angeben. In der Folge hätte das [X.] nicht in eine Beweisaufnahme eintreten dürfen, sondern vielmehr das Vorbringen der Beklagten nach § 138 Abs. 2 und Abs. 3 Z[X.]O als zugestanden ansehen müssen, die Zeugin [X.] sei nie über die streitgegenständlichen Vorwürfe der sexuellen Belästigung informiert worden.

III. Aufgrund der bisher vom [X.] nur unzureichend getroffenen tatsächlichen Feststellungen kann der [X.] nicht abschließend über den vorrangigen Kündigungsschutzantrag entscheiden. Das führt zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung auch in Bezug auf den [X.] der Beklagten und den Weiterbeschäftigungsantrag der Klägerin. Dabei hat der [X.] von der Möglichkeit des § 563 Abs. 1 Satz 2 Z[X.]O Gebrauch gemacht.

IV. Für das fortgesetzte Berufungsverfahren sind folgende weitere Hinweise veranlasst:

1. Die streitbefangene Kündigung könnte vor allem dann aus Gründen im Verhalten der Klägerin iSv. § 1 Abs. 2 [X.] sozial gerechtfertigt sein, wenn die Schreiben vom 28. Mai 2019 bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen ua. zulasten von [X.] enthielten und die Klägerin wahrheitswidrig vorgespiegelt haben sollte, alle oder doch mehrere Mitarbeiter des [X.] stünden hinter diesen Behauptungen. Dabei könnte es auch bedeutsam sein, ob die Klägerin auf die Mitteilung der Beklagten mit Anwaltsschreiben vom 6. Juni 2019, man sehe in der E-Mail vom 8. April 2019 einen „kündigungsrelevanten Sachverhalt“, das Schreiben vom 28. Mai 2019 nochmals mit der (einzigen) Änderung versandt hat, dass sie es statt mit „Die Mitarbeiter des Infopoint“ mit „Mehrere Mitarbeiter des Infopoint“ unterzeichnet hat. In diesem Fall dürfte die Klägerin ihr Bewusstsein offenbart haben, dass in einer - gleichwohl „abgeschwächt“ fortgesetzten - „[X.]“ eine erhebliche [X.]flichtverletzung liegt.

2. Die Frage, ob eine unmittelbar kündigungsbegründende [X.]flichtverletzung vorlag, weil die Klägerin sich am 31. Mai 2019 gemeinsam mit [X.] im Seminarraum eingeschlossen und die Tür (selbst) auf ein Klopfen der Zeugin [X.] nicht geöffnet hat, könnte dahinstehen, wenn die Beklagte diesen Sachverhalt gegenüber dem bei ihr gebildeten Betriebsrat nicht als „eigenen“ Grund für die beabsichtigte Kündigung iSv. § 102 Abs. 1 Satz 2 [X.] angeführt haben sollte. Dann könnte sie sich hierauf auch im vorliegenden Rechtsstreit nicht als solchen berufen.

3. Sollte die Kündigung sich aufgrund eines betriebsverfassungsrechtlich verwertbaren Sachverhalts als sozial gerechtfertigt erweisen, wird das [X.] prüfen müssen, ob sie gleichwohl wegen nicht ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrats gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 [X.] unwirksam ist (zur Unterscheidung vgl. [X.] 24. Mai 2018 - 2 [X.] - Rn. 37, [X.]E 163, 36).

4. Der [X.] der Beklagten nach § 9 Abs. 1 Satz 2 [X.] fällt nur zur Entscheidung an, wenn das Berufungsgericht die Kündigung allein wegen ihrer mangelnden [X.] Rechtfertigung - und nicht auch gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 [X.] - für rechtsunwirksam befinden sollte. Andernfalls wäre der [X.] schon „unstatthaft“ (vgl. [X.] 29. August 2013 - 2 [X.] - Rn. 25; 24. November 2011 - 2 [X.] - Rn. 19, [X.]E 140, 47).

a) Nach dem bisherigen Vorbringen der Klägerin ist die Behauptung der Beklagten nach § 138 Abs. 2 und Abs. 3 Z[X.]O als unstreitig anzusehen, [X.] habe die Zeugin [X.] nicht über Vorwürfe der sexuellen Belästigung unterrichtet (Rn. 34). Derzeit ist auch nichts dafür ersichtlich, dass der Klägerin die Unwahrheit ihrer gegenteiligen Behauptung nicht bewusst gewesen wäre (vgl. [X.] 24. Mai 2018 - 2 [X.] - Rn. 30, [X.]E 163, 36).

b) Des Weiteren wird das Berufungsgericht prüfen müssen, ob die Klägerin im vorliegenden Rechtsstreit wahrheitswidrig [X.] als weitere Urheberin der E-Mail vom 8. April 2019 benannt hat. Über diese Behauptung der Beklagten wäre - nur - Beweis zu erheben, wenn die Klägerin im Rahmen einer sekundären Darlegungslast den „[X.]“ von [X.] (als [X.]ositivum gegenüber dem von der Beklagten behaupteten [X.]) substantiiert darlegen sollte.

c) Falls die Beklagte den Vorfall am 31. Mai 2019 gegenüber dem Betriebsrat nicht als „eigenständigen“ Kündigungsgrund angeführt haben sollte, hinderte sie dies gleichwohl nicht, diesen Sachverhalt im Rahmen ihres [X.]s zu verwerten (vgl. [X.] 24. Mai 2018 - 2 [X.] - Rn. 37, [X.]E 163, 36; 10. Oktober 2002 - 2 [X.]/01 - zu [X.] 1 b der Gründe, [X.]E 103, 100).

d) Bei der Bemessung einer etwaig nach den Vorgaben von § 10 [X.] festzusetzenden Abfindung wird das [X.] ua. zu berücksichtigen haben, dass die ordentliche Kündigung jedenfalls nicht grob sozialwidrig war und die Klägerin, sollte die Kammer annehmen, sie - die Klägerin - habe bewusst wahrheitswidrige Tatsachenbehauptungen aufgestellt, ein ganz erhebliches „Auflösungsverschulden“ träfe. Dieses wäre ggf. abfindungsmindernd zu berücksichtigen (vgl. [X.] 24. Mai 2018 - 2 [X.] - Rn. 38, [X.]E 163, 36).

e) Sollte das [X.] hingegen nicht nach § 138 bzw. § 286 Z[X.]O vom Vorliegen einer die Auflösung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigenden „Tat“ der Klägerin ausgehen, hätte es auf eine Klarstellung hinzuwirken, inwieweit sich die Beklagte hilfsweise auf den dringenden Verdacht eines die Auflösung rechtfertigenden Verhaltens der Klägerin stützt (zu dieser Möglichkeit und den - hohen - Anforderungen vgl. [X.] 15. Dezember 2008 - 1 BvR 347/08 - zu II 1 a der Gründe).

5. Der Weiterbeschäftigungsantrag fällt als unechter Hilfsantrag nur zur Entscheidung an, wenn dem Kündigungsschutzantrag stattgegeben und der [X.] abgewiesen werden sollte (vgl. [X.] 31. Juli 2014 - 2 [X.] - Rn. 55).

        

    Koch    

        

    Schlünder    

        

    Rachor    

        

        

        

    Niebler    

        

    Alex    

                 

Meta

2 AZR 356/21

16.12.2021

Bundesarbeitsgericht 2. Senat

Urteil

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Hamburg, 12. Dezember 2019, Az: 15 Ca 295/19, Urteil

§ 1 Abs 2 KSchG, § 9 KSchG, § 10 KSchG, § 241 Abs 2 BGB, § 138 ZPO, § 286 ZPO, § 186 StGB, § 102 Abs 1 BetrVG

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16.12.2021, Az. 2 AZR 356/21 (REWIS RS 2021, 244)

Papier­fundstellen: NJW 2022, 1331 MDR 2022, 649 REWIS RS 2021, 244

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4 Sa 559/22

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8 Sa 462/22

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