Bundesverfassungsgericht, Einstweilige Anordnung vom 27.10.2022, Az. 1 BvR 1846/22

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2022, 6807

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Erfolgreicher Eilantrag im Verfassungsbeschwerdeverfahren: Verletzung des Anspruchs auf prozessuale Waffengleichheit in einer äußerungsrechtlichen Sache


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 18. August 2022 - 27 O 340/22 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit gemäß Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Seine Wirksamkeit wird bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache oder bis zu einer erneuten Entscheidung des [X.], längstens jedoch für die Dauer von sechs Monaten ausgesetzt.

2. Die [X.] hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen im Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Gründe

I.

1

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen eine durch das [X.] erlassene einstweilige Verfügung, mit der der Beschwerdeführerin die Wort- und Bildberichterstattung über einen Vorfall mit vermeintlich islamistischem Hintergrund auf dem Vorfeld des (…) [X.]s untersagt wurde.

2

1. Die Beschwerdeführerin verlegt die deutschlandweit erscheinende Tageszeitung (…)-Zeitung, deren Internetseite [X.] sie ebenso verantwortet wie deren Kanäle auf [X.], [X.] und [X.]. In allen fünf Medien berichtete die Beschwerdeführerin am 22. Juli 2022 in Wort und Bild über einen Vorfall auf dem Vorfeld des (…) [X.]s, bei dem drei Mitarbeiter der Gepäckabfertigung - darunter die beiden Antragsteller des [X.] - dabei fotografiert wurden, wie sie, in Richtung eines mit Passagieren besetzten Flugzeugs blickend, nebeneinanderstehend jeweils mit einem etwa auf Kopfhöhe neben sich gehaltenen [X.] himmelwärts zeigten.

3

a) Ihren etwa eine dreiviertel Seite füllenden Beitrag in der Ausgabe "(…)" der von ihr verlegten (…)-Zeitung kündigte die Beschwerdeführerin auf der Titelseite mit der Schlagzeile "Direkt an den [X.] in (…)", "[X.] arbeiten am [X.]" an, begleitet von einem eine dritte Person zeigenden Ausschnitt des Fotos und dem Begleittext "Einer der drei Gepäckträger zeigt auf dem Rollfeld den [X.]". In dem auf der dritten Seite der Ausgabe abgedruckten Beitrag füllte sodann das im Bereich der Gesichter mit Augenbalken versehene Foto etwa ein Drittel der Seite, das den links oben angeordneten Begleittext "Mit [X.] auf dem Rollfeld des [X.]s (…): die drei islamistischen Gefährder" enthielt. Unter dem Übertitel "Wegen [X.]: [X.] sperrt Kofferträger am (…) [X.]" und dem Haupttitel "[X.]-ALARM auf dem Rollfeld" berichtete die Beschwerdeführerin darüber, dass drei Mitarbeiter "den [X.] zum Himmel" gereckt und "ihre Sympathie mit islamistischen Terroristen" bekannt hätten, wobei sie mitteilte, dass es sich um die [X.] Staatsangehörigen (…) (19), (…) (20) und (…) (20) handele und diese "ihren Job am [X.]" seien. Einen Sprecher des Polizeipräsidiums (…) zitierte die Beschwerdeführerin mit dem Satz "Wir haben mit zwei Personen Gefährderansprachen durchgeführt.", einen Politiker mit der Äußerung "Ein sicherheitspolitischer Skandal!", es müsse "unverzüglich Konsequenzen" geben. Unter der Abbildung einer bis auf ihre Augen verhüllten Person, die in vergleichbarer Weise mit seitlich vom Körper nach oben abgewinkeltem Arm ihren [X.] himmelwärts richtet, druckte die Beschwerdeführerin die Überschrift "Das ist der [X.]" ab, gefolgt von der Erläuterung "Der nach oben gestreckte [X.] ("Tauhid") ist der Gruß der [X.]. Er leitet sich aus dem Islam ab. [X.] nach oben bedeutet: Es gibt keinen Gott außer Allah.".

4

b) Ihren Bericht veröffentlichte die Beschwerdeführerin in nahezu identischer Weise im Regionalteil (…) ihrer Internetseite [X.]. Anders als in den übrigen Medien veröffentlichte sie dort zudem am 23. Juli 2022 einen weiteren Beitrag mit dem Übertitel "[X.] BILD-BERICHT ÜBER [X.]" und dem Haupttitel "Kriminelle haben am Sicherheitscheck nichts verloren", in dem sie über "Große Aufregung nach dem (…)[X.] über mutmaßliche Islamisten auf dem Rollfeld des (…) [X.]s" berichtete und zwei Politiker, einen Polizei-Gewerkschafter und einen Sprecher des (…) [X.]s zu Wort kommen ließ.

5

c) Ebenfalls veröffentlichte die Beschwerdeführerin das Foto am 22. Juli 2022, hier ohne Verwendung von Augenbalken, mit dem Übertitel "[X.] mitten auf dem Rollfeld", dem Haupttitel "[X.] am (…) [X.]" und einer Verlinkung "[X.]" auf [X.] sowie in vergleichbarer Weise auf ihren Kanälen bei [X.] sowie, hier ferner ein Video einstellend, bei [X.].

6

2. Am 3. August 2022 forderte zunächst der Antragsteller zu 1), am 5. August 2022 auch der Antragsteller zu 2) die Beschwerdeführerin hinsichtlich ihrer Berichterstattung vom 22. Juli 2022 in der (…)-Zeitung, auf ihrer Internetseite [X.] und in ihren Kanälen auf [X.] und [X.] anwaltlich zur Abgabe strafbewehrter Unterlassungserklärungen bis spätestens 8. August 2022, 18 Uhr, auf. Für den Fall des fruchtlosen Fristablaufs kündigten sie an, ohne weitere Ankündigung gerichtliche Schritte einzuleiten. Ihre Abmahnungen begründeten die Antragsteller damit, dass sie keine Islamisten seien. Die Gesten seien aus einem Spaß heraus entstanden. Weder hätten sie sich als Islamisten "outen" wollen, noch hegten sie ansonsten irgendeine Nähe zu Islamisten. Bei der Geste handele es sich um das sogenannte [X.], das von Muslimen, wie auch Beispiele aus dem Sport zeigten, als Zeichen des Glaubens und der Einheit und zu 99,9 % friedlich verwendet werde, nicht aber als Zeichen für Sympathie mit dem [X.]. Sie seien zudem keine Gefährder und am [X.] weiter beschäftigt. Hierauf Bezug nehmend, begründeten die Antragsteller in gleicher Weise auch ihre Abmahnungen hinsichtlich des auf [X.] eingestellten [X.] durch anwaltliche Schreiben vom 11. August 2022 unter jeweiliger Fristsetzung bis 15. August 2022, sowie hinsichtlich des auf der Internetseite [X.] am 23. Juli 2022 veröffentlichten Beitrags durch anwaltliche Schreiben vom 12. August 2022, ebenfalls unter Fristsetzung bis 15. August 2022.

7

3. Die Beschwerdeführerin äußerte sich zu sämtlichen Schreiben nicht, woraufhin die Antragsteller am 17. August 2022 beim [X.] den Erlass einer mit den zuvor begehrten Unterlassungserklärungen inhaltlich übereinstimmenden einstweiligen Verfügung beantragten und dabei mit Rücksicht auf bevorstehende Urlaube ab dem 27. August 2022 dringlichst um schnellstmögliche Entscheidung baten. In ihrer Begründung beschränkten sie sich gegenüber ihren außergerichtlichen Aufforderungen darauf, dass sie sich gegen unwahre und hochgradig ehrverletzende Tatsachenbehauptungen wehrten. Die in den Berichterstattungen veröffentlichten Vorwürfe entsprächen nicht der Wahrheit. Am 22. Juli 2022 seien in der [X.] allein bei Eingabe der Suchworte "[X.] (…)" Dutzende weitere Berichte anderer Medien erschienen, welche die in höchstem Maße vorverurteilenden Anschuldigungen der Beschwerdeführerin übernommen hätten. Eine Gelegenheit zur Stellungnahme vor Veröffentlichung der Artikel hätten die Antragsteller nicht erhalten.

8

Ihrer Antragsschrift beigefügt waren eidesstattliche Versicherungen der Antragsteller jeweils vom 16. August 2022, in denen diese übereinstimmend schilderten, sie hätten nach dem Beladen eines Urlaubsflugzeugs angefangen, auf dem Rollfeld genau neben der [X.] zu rangeln, und dies auch fortgesetzt, nachdem sie bemerkt hätten, dass ein Passagier sie hierbei filmte. Das Foto, auf dem sie die [X.] einer Hand gen Himmel ausstreckten, sei entstanden, als der Fluggast mit einer Geste aus dem Flugzeug heraus mitgeteilt habe, dass er ein Foto von ihnen machen wolle. Hierzu hätten sie sich nebeneinandergestellt und begonnen, für den Fluggast und die anderen Fluggäste zu "posieren", ganz sicher jedoch keine Sympathie für den [X.] ausdrücken wollen. Ergänzend versicherte der Antragsteller zu 1) darüber hinaus an Eides statt, er habe auch nicht gewusst, dass Anhänger des [X.] ihre Sympathie für diesen ausdrücken wollten, wenn sie die Geste mit der rechten Hand machten. Ihm sei später erklärt worden, dass er hierzu die rechte anstatt die linke Hand hätte nutzen müssen.

9

4. Durch Beschluss vom Folgetag, 18. August 2022, erließ das [X.] "wegen Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung" die einstweilige Verfügung antragsgemäß. Zur Begründung führte es aus, das "glaubhaft gemachte tatsächliche und rechtliche Vorbringen in der verbundenen Antragsschrift nebst Anlagen" rechtfertige den geltend gemachten Unterlassungsanspruch. Eine Anhörung der Beschwerdeführerin sei entbehrlich gewesen, weil die Antragsschrift der Abmahnung inhaltlich entspreche.

5. Der Beschluss des [X.]s wurde der Beschwerdeführerin im Parteibetrieb am 5. September 2022 zugestellt. Nach Zugang und Prüfung der Antragsunterlagen legte sie durch Schriftsatz vom 22. September 2022 Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung ein und beantragte, den Beschluss aufzuheben und den Antrag zurückzuweisen. Ein Termin zur mündlichen Verhandlung, wurde für den 1. November 2022 bestimmt.

6. Durch am 26. September 2022 eingegangenen und begründenden Schriftsatz hat die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde erhoben und einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt.

a) Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 sowie Art. 103 Abs. 1 GG, insbesondere ihres grundrechtsgleichen Rechts auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Das [X.] habe auf eine Anhörung der Beschwerdeführerin schon insoweit nicht verzichten dürfen, als der [X.] erst am 17. August 2022 angebracht worden sei und damit eineinhalb Wochen nach Ablauf der ihr in der Abmahnung vom 3. August 2022 bis zum 8. August 2022, 18 Uhr, gesetzten Frist. Das zeige, dass die Antragsteller das Abwarten einer gerichtlich ermöglichten Stellungnahme der Beschwerdeführerin binnen kurzer Frist noch verkraftet hätten. Darüber hinaus fehle es an der Identität von Antragsschrift und Abmahnungen. Nicht nur gehe die Antragsschrift im Umfang erheblich über den der Abmahnungen hinaus, sondern hätten die Antragsteller erstmals mit ihr auch eidesstattliche Versicherungen vorgelegt. Die Annahme ihrer Verfassungsbeschwerde sei daher gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b) [X.] zur Durchsetzung ihrer in § 90 Abs. 1 [X.] genannten Rechte angezeigt. Insbesondere bestehe auch ein hinreichend gewichtiges Feststellungsinteresse. Die Beschwerdeführerin müsse jederzeit mit einer Wiederholung in künftigen Verfügungsverfahren rechnen, zudem deute die wiederholte Missachtung der Vorgaben des [X.] durch die [X.] Pressekammer in besonderem Maße auf eine generelle Vernachlässigung des grundrechtsgleichen Rechts der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG durch das [X.] hin.

b) Auch ihr zulässiger Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sei begründet. Ihre Verfassungsbeschwerde sei offensichtlich zulässig und begründet und der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile gemäß § 32 Abs. 1 [X.] dringend geboten, da im Rahmen der Folgeabwägung die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe deutlich überwögen. Die [X.] Pressekammer habe die Vorgaben des [X.] zum wiederholten Male offensichtlich missachtet. Die Beschwerdeführerin werde dadurch wegen drohender Ordnungsgelder schwerwiegend in ihrer [X.] eingeschränkt, insbesondere soweit es ihr durch die Reichweite der enthaltenen Verbote faktisch verboten sei, zukünftig über den Sachverhalt auf dem (…) Rollfeld zu berichten und die ihr verbotenen Bilder als Belege zu verwenden. Die Beschwerdeführerin habe zügig nach Zugang und Prüfung der Antragsunterlagen Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung einlegen lassen. Ihre Berichterstattung sei, wie sich im Widerspruchsverfahren, spätestens aber im Hauptsacheverfahren zeigen werde, rechtmäßig. Sie werde die Textberichterstattung und die streitgegenständlichen Bilder daher als Beleg ihrer Textberichterstattung über ein Thema von großem öffentlichen Interesse - Terroristengruß durch [X.]mitarbeiter - erneut auf ihrer Webseite einstellen, sobald die Wirksamkeit der Verbotsverfügung beseitigt sei.

7. Den Begünstigten des [X.] sowie der [X.] wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gewährt. Die Akten des [X.] waren beigezogen.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

1. Nach § 32 Abs. 1 [X.] kann das [X.] im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

Die Beschwerdeführerin beruft sich darauf, dass sie durch die vollstreckbare Unterlassungsverfügung schwerwiegend in ihrer [X.] eingeschränkt sei. Insbesondere ist es ihr durch die Verfügung vom 18. August 2022 versagt, den am 22. Juli 2022 in der Printversion erschienenen Artikel über ihre digitalen Verbreitungswege, insbesondere Online-Archiv, für die Öffentlichkeit bereitzuhalten.

Die vom [X.] im Rahmen der Entscheidung nach § 32 Abs. 1 [X.] vorzunehmende Folgenabwägung (vgl. [X.] 71, 158 <161>; 88, 185 <186>; 91, 252 <257 f.>; stRspr) führt zu dem Ergebnis, dass die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe überwiegen. Denn die Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich der gerügten Verletzung der prozessualen Waffengleichheit im einstweiligen Verfügungsverfahren offensichtlich zulässig und begründet (vgl. zu den Anforderungen näher [X.], Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 14 ff. und - 1 BvR 2421/17 -, Rn. 27 ff. sowie Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 15 ff.; vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 14; vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 18 ff.; vom 4. Februar 2021 - 1 BvR 2743/19 -, Rn. 21 ff.; vom 6. Februar 2021 - 1 BvR 249/21 -, Rn. 19 ff.; vom 1. Dezember 2021 - 1 BvR 2708/19 -, Rn. 25 ff.; vom 11. Januar 2022 - 1 BvR 123/21 -, Rn. 34 ff.; vom 21. April 2022 - 1 BvR 812/22 -, Rn. 20 ff.).

2. Die Verfassungsbeschwerde wurde binnen eines Monats und damit gemäß § 93 Abs. 1 [X.] fristgerecht erhoben und ist auch im Übrigen zulässig.

a) Insbesondere ist der Rechtsweg ungeachtet des fortdauernden [X.] erschöpft (§ 90 Abs. 2 Satz 1 [X.]). Die Beschwerdeführerin macht eine Rechtsverletzung unmittelbar durch die Handhabung des Prozessrechts im Verfahren über den Erlass einer äußerungsrechtlichen einstweiligen Verfügung geltend. Sie wendet sich dabei gegen ein bewusstes Übergehen ihrer prozessualen Rechte. Mit dem Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung kann eine Missachtung von [X.] als solche nicht geltend gemacht werden (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 12; vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 12), weil er von den Erfolgsaussichten in der Sache abhängt. Auch sonst gibt es keinen Rechtsbehelf, mit dem eine Verletzung der prozessualen Waffengleichheit eigens als solche vor den Fachgerichten geltend gemacht werden könnte. Die Verfassungsbeschwerde kann daher ausnahmsweise unmittelbar gegen die einstweilige Verfügung erhoben werden (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 10; Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 12; vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 12; vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 16; vom 6. Februar 2021 - 1 BvR 249/21 -, Rn. 16; vom 1. Dezember 2021 - 1 BvR 2708/19 -, Rn. 18; vom 11. Januar 2022 - 1 BvR 123/21 -, Rn. 29; vom 21. April 2022 - 1 BvR 812/22 -, Rn. 16).

b) Zwar kann nicht jede Verletzung prozessualer Rechte unter Berufung auf die prozessuale Waffengleichheit im Wege einer auf Feststellung gerichteten Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden. Vielmehr bedarf es eines hinreichend gewichtigen Feststellungsinteresses (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 11; vom 30. September 2018 - 1 BvR 2421/17 -, Rn. 24; Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 8. Oktober 2019 - 1 BvR 1078/19 u.a. -, Rn. 3; vom 27. Juli 2020 - 1 BvR 1379/20 -, Rn. 9; vom 4. Februar 2021 - 1 BvR 2743/19 -, Rn. 15 ff.). Da die Rechtsbeeinträchtigung der Beschwerdeführerin durch die einstweilige Verfügung in Gestalt eines weiterhin vollstreckbaren Unterlassungstitels fortdauert, muss sie hierzu jedoch kein besonders gewichtiges Feststellungsinteresse geltend machen (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 13; vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 12; vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 16; vom 6. Februar 2021 - 1 BvR 249/21 -, Rn. 17; vom 21. April 2022 - 1 BvR 812/22 -, Rn. 17).

3. Die einstweilige Verfügung des [X.]s verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

a) Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit ist eine Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes im Zivilprozess und sichert verfassungsrechtlich die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor Gericht. Das Gericht muss den Prozessparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einräumen, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen. Die prozessuale Waffengleichheit steht dabei im Zusammenhang mit dem [X.] aus Art. 103 Abs. 1 GG, der eine besondere Ausprägung der Waffengleichheit ist. Als [X.] (vgl. [X.] 70, 180 <188>) gebietet dieser, in einem gerichtlichen Verfahren der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit die Gelegenheit zu gewähren, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen (vgl. [X.] 9, 89 <96 f.>; 57, 346 <359>).

aa) [X.] ist eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen. Voraussetzung der Verweisung auf eine nachträgliche Anhörung ist, dass ansonsten der Zweck des einstweiligen Verfügungsverfahrens vereitelt würde (vgl. näher [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 15). Im Presse- und [X.] kann jedenfalls nicht als Regel von einer Erforderlichkeit der Überraschung des Gegners bei der Geltendmachung von Ansprüchen ausgegangen werden (vgl. auch [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. September 2018 - 1 BvR 2421/17 -, Rn. 31; Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 4. Februar 2021 - 1 BvR 2743/19 -, Rn. 21; vom 21. April 2022 - 1 BvR 812/22 -, Rn. 20). Auch wenn über [X.] in äußerungsrechtlichen Angelegenheiten angesichts der Eilbedürftigkeit nicht selten zunächst ohne mündliche Verhandlung entschieden werden muss, berechtigt dies das Gericht nicht dazu, die Gegenseite bis zur Entscheidung über den [X.] aus dem Verfahren herauszuhalten (vgl. näher [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 21 ff.). Eine stattgebende Entscheidung über den [X.] kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Gegenseite die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag und weiteren an das Gericht gerichteten Schriftsätzen geltend gemachte Vorbringen zu erwidern ([X.], Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 21; vom 4. Februar 2021 - 1 BvR 2743/19 -, Rn. 23; vom 21. April 2022 - 1 BvR 812/22 -, Rn. 22).

bb) Dabei ist von Verfassungs wegen nichts dagegen zu erinnern, wenn das Gericht in Eilverfahren auch die Möglichkeiten einbezieht, die es der Gegenseite vorprozessual erlauben, sich zu dem [X.] zu äußern, wenn sichergestellt ist, dass solche Äußerungen vollständig dem Gericht vorliegen. Hierfür kann auf die Möglichkeit zur Erwiderung gegenüber einer dem Verfügungsverfahren vorangehenden Abmahnung abgestellt werden. Dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit genügen die Erwiderungsmöglichkeiten auf eine Abmahnung allerdings nur dann, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ vorliegen: der [X.] muss im [X.] an die Abmahnung unverzüglich nach Ablauf einer angemessenen Frist für die begehrte Unterlassungserklärung bei Gericht eingereicht werden; die abgemahnte Äußerung sowie die Begründung für die begehrte Unterlassung müssen mit dem bei Gericht geltend gemachten Unterlassungsbegehren identisch sein; der Antragsteller muss ein etwaiges [X.] des Antragsgegners zusammen mit seiner Antragsschrift bei Gericht einreichen. Demgegenüber ist dem Antragsgegner Gehör zu gewähren, wenn er nicht in der gehörigen Form abgemahnt wurde oder der Antrag vor Gericht in anderer Weise als in der Abmahnung oder mit ergänzendem Vortrag begründet wird (vgl. näher [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 22 ff. sowie Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 18 f.; vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 14; vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 22; vom 4. Februar 2021 - 1 BvR 2743/19 -, Rn. 25; vom 1. Dezember 2021 - 1 BvR 2708/19 -, Rn. 28; vom 21. April 2022 - 1 BvR 812/22 -, Rn. 23).

b) Nach diesen Maßstäben verletzt der angegriffene Beschluss die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

aa) Es bestehen bereits Bedenken, ob der am 17. August 2022 angebrachte [X.] unverzüglich gestellt wurde. Denn während die Antragsteller der Beschwerdeführerin in ihren [X.] vom 3. und 5. August 2022 jeweils eine Stellungnahmefrist bis Montag, 8. August 2022, 18 Uhr, einräumten und damit signalisierten, umgehend, nämlich möglicherweise noch am Tag des Fristablaufs selbst gerichtliche Schritte einzuleiten, warteten sie mit ihrer Antragstellung noch bis Mittwoch, 17. August 2022, zu und gaben damit zu erkennen, einer Inanspruchnahme gerichtlichen Eilrechtsschutzes noch nicht notwendig zu bedürfen. Dass der bis zu diesem Tag vergangene Zeitraum gemessen an den erst am 15. August 2022, 18 Uhr, abgelaufenen Fristen zur Stellungnahme auf die weiteren [X.] vom 11. und 12. August 2022 deutlich kürzer bemessen war, könnte möglicherweise nicht ausschlaggebend sein, da die hierin angegriffenen Beiträge der Beschwerdeführerin ebenfalls bereits vom 22. beziehungsweise 23. Juli 2022 stammten, wie auch die Antragsteller sich in ihrer Antragsschrift zur Begründung sowohl im Tatsächlichen wie im Rechtlichen auf ihre ersten [X.] bezogen. Zudem baten die Antragsteller in ihrer Antragsschrift zwar "dringlichst", "schnellstmöglich" zu entscheiden, begründeten dies jedoch gleichzeitig mit bevorstehenden Urlauben ab dem 27. August 2022 und benannten damit einen Zeitraum, innerhalb dessen eine Entscheidung über ihren Antrag einschließlich der Veranlassung ihrer Bekanntgabe im Wege des [X.] gemäß § 936 ZPO in Verbindung mit § 922 Abs. 2 ZPO auch unter Anhörung der Beschwerdeführerin ohne weiteres möglich gewesen wäre. Gaben sie damit aber zu erkennen, auch eine durch ihren Bevollmächtigten bis spätestens am 26. August 2022 veranlasste Bekanntgabe als rechtswahrend zu betrachten, könnte auch dies gegen die Annahme einer Dringlichkeit sprechen, die einer Anhörung der Beschwerdeführerin - gegebenenfalls auch fernmündlich oder per E-Mail (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 25) - entgegengestand.

bb) Indes braucht diese Frage nicht entschieden zu werden, da zwar das in den einzelnen [X.] genannte Unterlassungsbegehren mit dem die [X.] zusammenfassenden Unterlassungsbegehren der Antragsschrift identisch war, nicht jedoch die hierfür in den [X.] einerseits und der Antragsschrift andererseits enthaltene Begründung. Denn die Begründung der Antragsschrift blieb zum einen hinter der Begründung der lediglich als [X.] überreichten [X.] zurück, soweit sie sich darauf beschränkte, die Antragsteller wehrten sich gegen "unwahre und hochgradig ehrverletzende Tatsachenbehauptungen"; die "Vorwürfe" entsprächen "nicht der Wahrheit". Sie reichte zum anderen aber auch über die der Beschwerdeführerin zuvor bekanntgegebenen Begründung hinaus, soweit sie erstmals gegenüber dem [X.] eidesstattliche Versicherungen der Antragsteller jeweils vom 16. August 2022 vorbrachte, in denen diese Hergang und Motivation ihres Verhaltens - in leicht voneinander abweichender Weise - schilderten und durch Versicherung an Eides Statt glaubhaft machten.

4. Die Außervollzugsetzung der verfahrenswidrig zustande gekommenen Entscheidung gibt dem [X.] Gelegenheit, bei einer neuerlichen Entscheidung beide Seiten einzubeziehen und deren Vortrag zu berücksichtigen.

5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung für das einstweilige [X.] folgt aus § 34a Abs. 3 [X.]. Die Erstattung ist wegen des Obsiegens der Beschwerdeführerin aus Billigkeitsgründen geboten.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 1846/22

27.10.2022

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvR

vorgehend LG Berlin, 18. August 2022, Az: 27 O 340/22, Beschluss

Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 90 BVerfGG, § 935 ZPO, § 937 Abs 2 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Einstweilige Anordnung vom 27.10.2022, Az. 1 BvR 1846/22 (REWIS RS 2022, 6807)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 6807

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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