Bundessozialgericht, Beschluss vom 25.10.2012, Az. B 9 SB 70/11 B

9. Senat | REWIS RS 2012, 1936

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Auslegung rechtlicher und tatsächlicher Behauptung als Erledigungserklärung - Schwerbehindertenrecht - Zurückverweisung


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 20. Juli 2011 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Der 1932 geborene Kläger wendet sich gegen die bisherige Feststellung seiner Behinderung nach dem Schwerbehindertenrecht für die [X.] ab dem [X.] (Bescheide vom [X.], [X.], [X.] und Widerspruchsbescheid vom 2.6.2006 sowie Änderungsbescheid vom [X.]). Daneben begehrt der Kläger auch höhere Versorgungsleistungen nach dem [X.] ([X.]). Hierzu hat er am 30.8.2005 beim [X.] ([X.]) Klage erhoben (Az: [X.]/05).

2

Das von dem Kläger in seiner [X.] am [X.] angerufene [X.] hat eine Verbindung dieses Verfahrens mit dem Klageverfahren aus dem Bereich der Kriegsopferversorgung abgelehnt und nach durchgeführter Beweisaufnahme (orthopädisches Gutachten des [X.] vom [X.] nach Lage der Akten) die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom [X.]). Im anschließenden Berufungsverfahren vor dem [X.] (L[X.]) hat der Kläger die Entscheidung des [X.] durch Gerichtsbescheid beanstandet und eine Begutachtung seiner "Schädigungsfolgen" verlangt. Mit Telefax vom 6.10.2010 hat der Kläger unter Beifügung seines den Bescheid vom [X.] betreffenden [X.]s vom [X.] an den Beklagten erklärt:

        

"Ein Klageverfahren nach dem Schwerbehindertenrecht wurde zu keinem [X.]punkt beantragt".

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem L[X.] hat der Kläger dann am [X.] beantragt,

        

"1.     

über die in der Berufungsschrift vom [X.] gestellten Anträge zu entscheiden,

        

 2.     

die [X.], vertreten durch die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, beizuladen,

        

 3.     

dem Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen,

        

 4.     

die Revision zuzulassen,

        

 5.     

Festzustellen, dass der Kläger schwerkriegsbeschädigt und versorgungsberechtigt nach dem [X.] ist."

3

Durch Urteil vom [X.] hat das L[X.] festgestellt, dass der Rechtsstreit durch Rücknahme der Klage erledigt ist. Diese Entscheidung hat es damit begründet, dass der vorliegende Rechtsstreit durch die vom Kläger am 6.10.2010 auch gegenüber dem Senat abgegebene Erledigungserklärung im [X.] vom [X.] und im [X.] vom [X.], welches der Kläger dem Senat mit Fax vom 6.10.2010 zugeleitet habe, in vollem Umfange erledigt sei. Die Erklärung des [X.], dass er zu keinem [X.]punkt ein Klageverfahren nach dem Schwerbehindertenrecht beantragt habe, erledige den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 101 Abs 2, § 102 [X.] [X.]G). Diese Erledigungserklärung binde das Gericht und die Beteiligten als Prozesshandlung, auch wenn der Rechtsstreit materiell-rechtlich nicht erledigt sei.

4

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des L[X.] macht der Kläger Verfahrensmängel geltend. Er rügt die Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs nach § 62 [X.]G und Art 103 Abs 1 GG in Form des Erlasses einer Überraschungsentscheidung, weil das L[X.] trotz seiner Antragstellung in der mündlichen Verhandlung seine Erklärung im Schriftsatz vom [X.] sowie im Schreiben vom [X.] - entgegen dem von ihm wirklich Gewollten - als Erledigung des Rechtsstreits durch Klagerücknahme gewertet und keine Sachentscheidung getroffen habe.

5

II. Die Beschwerde des [X.] ist zulässig, weil ihrer Begründung sinngemäß die Verfahrensrüge entnommen werden kann (vgl § 160 Abs 2 [X.], § 160a Abs 2 S 3 [X.]G), das L[X.] habe zu Unrecht durch Prozessurteil entschieden. Diesbezüglich hat der Kläger den Verfahrensgang nachgezeichnet und geltend gemacht, dass er - entgegen der Auslegung durch das L[X.] - zu keinem [X.]punkt eine Erledigungserklärung hinsichtlich seines Klageverfahrens nach dem Schwerbehindertenrecht habe abgeben wollen oder tatsächlich abgegeben habe. Tatsächlich habe er in der mündlichen Verhandlung vom [X.] die im L[X.]-Urteil aufgeführten Anträge gestellt, über die dieses in unzulässiger Weise nicht in Form eines [X.] entschieden habe. Die den behaupteten Verfahrensmangel ergebenden Tatsachen sind damit hinreichend iS des § 160a Abs 2 S 3 [X.]G bezeichnet.

6

Die Beschwerde ist auch begründet, weil der behauptete Verfahrensmangel vorliegt. Das L[X.] hätte im [X.]punkt seiner Entscheidung nicht in Form eines Prozessurteils feststellen dürfen, dass der Rechtsstreit durch Rücknahme der Klage erledigt ist. Vielmehr hätte es die betreffenden Erklärungen des [X.] entweder zu dessen Gunsten dahin auslegen müssen, dass keine Erledigung eingetreten ist. Dann hätte sich das L[X.] mit den vom Kläger gestellten Anträgen befassen müssen. Oder es hätte bei diesem zur Klärung des Inhalts der abgegebenen Erklärungen nachfragen müssen.

7

Entgegen der Ansicht des L[X.] ist weder aus dem [X.] vom [X.] noch aus dem am 6.10.2010 dem L[X.] übermittelten Schreiben des [X.] vom [X.] an den Beklagten eindeutig zu entnehmen, dass der Kläger seine am [X.] beim [X.] erhobene Klage zum Schwerbehindertenrecht zurückgenommen und damit diesen Rechtsstreit in der Hauptsache als erledigt angesehen hat. Mit seinem Verständnis der vom Kläger abgegebenen Erklärungen verletzt das L[X.] den in § 133 BGB enthaltenen Rechtsgedanken, wonach bei der Auslegung von Erklärungen nicht am Wortlaut zu haften, sondern der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen ist. Dies betrifft insbesondere auch Prozesshandlungen wie die Rücknahme eines Rechtsmittels (vgl B[X.] Urteil vom 29.5.1980 - 9 RV 8/80 -; B[X.]E 21, 13, 14 = [X.] zu § 156 [X.]G; B[X.]E 75, 92, 95 = [X.]-4100 § 141b [X.] mwN; B[X.] Urteil vom [X.] - [X.] AL 23/02 R - RdNr 21).

8

Allerdings darf das Revisionsgericht bei materiell-rechtlichen Erklärungen nicht in die auf tatsächlichem Gebiet liegende Würdigung des Tatsachengerichts eingreifen, sondern hat lediglich die Rechtsanwendung zu überprüfen, also festzustellen, ob die Tatsacheninstanz die gesetzlichen Auslegungsregeln (§§ 133, 157 BGB) beachtet und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen hat (vgl B[X.]E 75, 92, 96 = [X.]-4100 § 141b [X.] mwN). Hingegen hat das Revisionsgericht bei [X.] - wie der Rücknahme eines Rechtsmittels - die Auslegung der Erklärung in vollem Umfang zu überprüfen, hat also "das wirklich Gewollte, das in der Äußerung erkennbar ist, zu ermitteln" (vgl B[X.] Urteil vom 29.5.1980 - 9 RV 8/80 -; B[X.]E 21, 13, 14 = [X.] zu § 156 [X.]G; B[X.] Urteil vom [X.] - [X.] AL 23/02 R - aaO). Dementsprechend ist der Senat nicht gehindert, die hier streitigen Erklärungen des [X.] selbst auszulegen.

9

Die vom L[X.] herangezogenen Schriftsätze des nicht rechtskundig vertretenen [X.] vom [X.] und [X.] bedürfen schon deshalb der Auslegung, weil sie keine konkrete Klagerücknahmeerklärung enthalten, sondern lediglich die Mitteilung, dass zu keinem [X.]punkt ein Klageverfahren nach dem Schwerbehindertenrecht beantragt worden sei. Dem Wortlaut nach handelt es sich nicht um prozessuale Willenserklärungen, sondern um die Behauptung von tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die zudem im Widerspruch zu den wirklichen Gegebenheiten und anderen Äußerungen des [X.] steht. Denn entgegen seiner Erklärung im Schreiben vom [X.] hat der Kläger im Schwerbehindertenverfahren am [X.] beim [X.] Klage erhoben und dann in seinem [X.] vom [X.] (Seite 5) ua Anträge auf Feststellung seiner Behinderung nach § 69 Abs 1 bis 5 [X.]B IX angekündigt sowie sich gegen die von dem Beklagten erlassenen Bescheide zum Schwerbehindertenrecht gewandt. Ferner hat der Kläger ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom [X.] zum Sach- und Streitverhältnis verhandelt und die angekündigten Anträge gestellt.

Unter diesen Umständen durfte das L[X.] nicht ohne Weiteres von einer wirksamen Erklärung des [X.] zur Erledigung der Hauptsache ausgehen. Es hätte vielmehr nahe gelegen, die fraglichen Äußerungen des [X.] als irrtümlich abgegeben und damit als unbeachtlich anzusehen. Zumindest hätte das L[X.] die bestehenden Widersprüche in den Angaben des [X.] zum Anlass nehmen müssen, den Kläger nach dem von ihm wirklich Gewollten zu fragen und eine eindeutige Erklärung zu Protokoll zu nehmen (vgl § 106 Abs 1, § 112 Abs 2 [X.]G).

Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G vorliegen, macht der Senat von der ihm durch § 160a Abs 5 [X.]G eröffneten Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückzuverweisen.

Das L[X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden haben.

Meta

B 9 SB 70/11 B

25.10.2012

Bundessozialgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SB

vorgehend SG München, 22. Juni 2010, Az: S 29 SB 682/06, Urteil

§ 101 Abs 2 SGG, § 102 Abs 1 S 1 SGG, § 102 Abs 1 S 2 SGG, § 133 BGB, § 157 BGB, § 69 Abs 1 S 1 SGB 9, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 25.10.2012, Az. B 9 SB 70/11 B (REWIS RS 2012, 1936)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 1936

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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