Bundesgerichtshof, Beschluss vom 13.02.2020, Az. 1 StR 613/19

1. Strafsenat | REWIS RS 2020, 1654

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Gegenstand

Jugendstrafverfahren: Voraussetzungen für die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht bei einem Heranwachsenden


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten M.     wird das Urteil des [X.] vom 25. Juli 2019 im Strafausspruch aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision des Angeklagten M.     und die Revision des Angeklagten [X.]     werden als unbegründet verworfen.

4. Der Angeklagte [X.]     hat die Kosten seines Rechtsmittels, die insoweit durch das Adhäsionsverfahren entstandenen besonderen Kosten und die der Neben- und Adhäsionsklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten [X.]     wegen versuchter schwerer Brandstiftung in Tateinheit mit versuchtem Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion und gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen sowie wegen Betruges zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Den Angeklagten M.     hat es wegen versuchter schwerer Brandstiftung in Tateinheit mit versuchtem Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion, gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen und Beihilfe zum Betrug zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Ferner hat die [X.] gegen beide Angeklagte eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Die hiergegen mit der allgemeinen Sachrüge geführte Revision des Angeklagten M.     führt zur Aufhebung des Strafausspruchs; im Übrigen ist seine Revision ebenso wie die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten [X.]     unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

2

1. Die Begründung, mit der die [X.] zur Anwendung von Erwachsenenstrafrecht auf den Angeklagten M.     gelangt ist, der zur Tatzeit 18 Jahre und sieben Monate alt und damit Heranwachsender war, hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

3

a) Nach den Urteilsfeststellungen durchlief der im April 2000 in [X.].      geborene Angeklagte, der im Haushalt seiner Eltern mit einer jüngeren Schwester aufwuchs, neun Jahre die Schule und besuchte anschließend eine „medizinische Schule“, die er aufgrund fehlenden Interesses ohne Schulabschluss abbrach. Eine reguläre Ausbildung hat er nicht begonnen. „Zuletzt“ arbeitete der Angeklagte als Automechaniker in einer Werkstatt in [X.].      und verdiente umgerechnet 350 Euro monatlich. Seit 2017 ist er mit einer minderjährigen Cousine verlobt, die mit ihrer Familie in [X.] lebt. Der Angeklagte reiste im [X.] 2018 und sodann ab Oktober 2018 im Rahmen eines geplanten dreimonatigen Aufenthalts nach [X.] und wohnte im Haushalt der Familie seiner Verlobten. Die Hochzeit war für [X.] 2019 geplant. „Zuletzt“ arbeitete der Angeklagte aushilfsweise und ohne Entlohnung für einen Monat in einem vom Angeklagten [X.]     betriebenen Imbiss. Den Angeklagten [X.]     sieht der Angeklagte M.     innerhalb der „Großfamilie“ als „Quasi-Onkel“ und Respektsperson an. Schulden hat der Angeklagte M.     nicht; er besitzt aber auch kein nennenswertes Vermögen.

4

b) Das [X.] verneinte - entgegen den nicht mitgeteilten Ausführungen der Jugendgerichtshilfe - die Voraussetzungen für die Anwendung von Jugendstrafrecht (§ 105 Abs. 1 JGG). Die zusammen mit dem Angeklagten [X.]     begangene Brandlegung in dessen Imbissräumen, um eine Auszahlung von Versicherungsleistungen zu erlangen, stelle zum einen keine jugendtypische Tat dar. Zum anderen lägen beim Angeklagten M.     keine Reife- und [X.] vor, weil er vor seinem mehrwöchigen Aufenthalt in [X.], den er alleine und ohne seine Eltern bestritten habe, in [X.].      einer geregelten Arbeit mit einem dort durchschnittlichen Arbeitsverdienst nachgegangen sei. Er verfüge mit seiner beabsichtigten Heirat auch über gefestigte Zukunftspläne, die für ein „überlegtes Handeln ohne Reifeverzögerungen“ sprechen würden.

5

2. Die Begründung, mit der das [X.] Reife- und [X.] beim Angeklagten verneint, ist nicht ohne Rechtsfehler.

6

a) Für die Frage, ob der heranwachsende Täter zur [X.] nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, kommt es maßgebend darauf an, ob er sich noch in einer für Jugendliche typischen Entwicklungsphase befand und in ihm noch [X.] in größerem Umfang wirksam waren (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Urteil vom 20. [X.]i 2014 - 1 [X.] Rn. 12 mwN). Dies ist aufgrund einer Gesamtwürdigung seiner Persönlichkeit unter Berücksichtigung der [X.] Lebensbedingungen zu beurteilen. Dem Tatrichter steht insoweit ein erheblicher Beurteilungsspielraum zu. Seine Bewertungen müssen allerdings mit Tatsachen unterlegt und nachvollziehbar sein; sie dürfen keine wesentlichen Gesichtspunkte außer Betracht lassen. Daran fehlt es hier.

7

b) Die [X.] stellt bei ihrer Bewertung der Persönlichkeit und der [X.] Lebensbedingungen des Angeklagten wesentliche Gesichtspunkte nicht in die erforderliche Gesamtwürdigung ein. Unberücksichtigt bleibt, dass er weder eine abgeschlossene Schulausbildung erlangt noch einen Beruf erlernt hat. Auch wenn er „zuletzt“ als Automechaniker in seiner Heimat ein auskömmliches Einkommen erzielt haben mag, so stellt sich diese Tätigkeit mit Blick darauf, dass er sich im [X.] 2018 und ab Oktober 2018 in [X.] aufgehalten hat, nicht mehr als „geregelte“ Arbeit dar. Vor der Tatbegehung lebte er ohne eigenen Haushalt im Familienverband seiner Verlobten. Er ging in [X.] einer nicht entlohnten Aushilfstätigkeit nach. Allein die beabsichtigte Hochzeit mit seiner noch minderjährigen Cousine vermag „gefestigte Zukunftspläne“ nicht zu belegen. Aus diesen Gründen ist es eher naheliegend, dass die Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten noch nicht abgeschlossen war und [X.] noch in größerem Umfang wirksam sind.

8

3. Der Rechtsfehler führt beim Angeklagten M.     zur Aufhebung des Strafausspruchs. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen sind von dem [X.] nicht betroffen; sie bleiben daher aufrechterhalten (§ 353 Abs. 2 StPO). Sie können um weitere Feststellungen ergänzt werden, die den bisherigen nicht widersprechen.

Raum     

        

Bellay     

        

Fischer

        

Bär     

        

Hohoff     

        

Meta

1 StR 613/19

13.02.2020

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Bamberg, 25. Juli 2019, Az: 1105 Js 20586/18 - 63 KLs

§ 105 JGG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 13.02.2020, Az. 1 StR 613/19 (REWIS RS 2020, 1654)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 1654

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Referenzen
Wird zitiert von

5 StR 285/22

Zitiert

1 StR 610/13

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