Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 16.07.2020, Az. 2 BvR 2211/18

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2020, 2904

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen Untätigkeit der Bundesregierung bzgl Maßnahmen der spanischen Regierung gegen die katalanische Unabhängigkeitsbewegung - Untätigkeit eines Unionsorgans oder der Bundesregierung kein ultra-vires-Handeln - unionsrechtliche Pflicht zum Tätigwerden gem Art 7 Abs 1, Abs 2 EUV (juris: EU) nicht dargelegt - Verfassungsbeschwerde unzureichend begründet


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

1

Die Beschwerdeführer wenden sich dagegen, dass es die Bundesregierung in der [X.] seit Oktober 2017 unterlassen habe, auf eine Beschlussfassung im [X.] nach Art. 7 Abs. 2 [X.] hinzuwirken. Sie sehen darin eine Verletzung der Integrationsverantwortung der Bundesregierung und ihres grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG.

2

Verschiedene Maßnahmen [X.] Hoheitsträger im Kontext der [X.] 2017 verletzten die Werte von Art. 7 Abs. 2 [X.]. Das gelte für die Polizeieinsätze zur Verhinderung des Referendums am 1. Oktober 2017, die Entmachtung der [X.] am 27. Oktober 2017, das Strafverfahren gegen verschiedene Mitglieder der [X.] sowie die Entscheidung des [X.] Verfassungsgerichts vom 27. Januar 2018.

3

Rechtsstaatliche Mindeststandards seien hier in mehrfacher Hinsicht evident und nicht lediglich punktuell verletzt worden. Die Vorschlagsberechtigten nach Art. 7 Abs. 2 [X.] seien daher zum Tätigwerden verpflichtet gewesen; Raum für [X.] habe nicht bestanden. Zur Integrationsverantwortung der Bundesregierung gehöre vielmehr auch, dass sie ihrem durch Art. 7 [X.] anvertrauten Wächteramt gerecht werde. Lägen die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 und Abs. 2 [X.] vor, könne sie ihrer Integrationsverantwortung daher allein dadurch gerecht werden, dass sie von ihrem dort vorgesehenen Vorschlagsrecht Gebrauch mache.

4

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen (§ 93a Abs. 2 [X.]), weil sie unzulässig ist; sie genügt offensichtlich nicht den Anforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 [X.]. Die Verfassungsbeschwerde hat nicht dargelegt, dass die Beschwerdeführer durch das gerügte Unterlassen in ihrem Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt sein könnten.

5

1. So kommt eine Verletzung des Rechts auf [X.] Selbstbestimmung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG und der sich hieraus ergebenden Integrationsverantwortung der Bundesregierung unter dem Gesichtspunkt der [X.] nur bei hinreichend qualifizierten [X.], Einrichtungen und sonstigen Stellen der [X.] in Betracht. Diese müssen offensichtlich und für die Kompetenzverteilung zwischen der [X.] und den Mitgliedstaaten von struktureller Bedeutung sein (vgl. [X.] 142, 123 <172 ff. Rn. 75 ff.>; [X.], Beschluss des [X.] vom 13. Februar 2020 - 2 BvR 739/17 -, Rn. 96; Urteil des [X.] vom 30. Juli 2019 - 2 BvR 1685/14 u.a. -, Rn. 150 ff.; Urteil des [X.] vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15 u.a. -, Rn. 107, 110 ff.).

6

Soweit die Beschwerdeführer in der unterlassenen Beschlussfassung des [X.]es nach Art. 7 Abs. 2 [X.] einen [X.] sehen wollen, legen sie nicht dar, inwiefern ein Unterlassen, selbst im Falle einer Handlungspflicht, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 [X.]) verletzen kann. Wenn Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der [X.] untätig bleiben, nehmen sie typischerweise auch keine Kompetenzen in Anspruch, die nach den [X.] den Mitgliedstaaten zustünden, und handeln deshalb von vornherein nicht ultra vires.

7

2. Soweit die Beschwerdeführer im Unterlassen der Bundesregierung, nach Art. 7 Abs. 2 [X.] tätig zu werden, gleichwohl einen Verstoß gegen ihre Integrationsverantwortung sehen, genügen ihre Darlegungen zu einer möglichen Verletzung von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG den gesetzlichen Anforderungen ebenfalls nicht.

8

a) Die Integrationsverantwortung verpflichtet die Verfassungsorgane, Mitwirkungs- und Umsetzungshandlungen an [X.] von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der [X.] zu unterlassen und aktiv auf die Einhaltung des [X.] hinzuwirken (vgl. [X.] 134, 366 <395 Rn. 49>; 142, 123 <209 f. Rn. 167>; [X.], Beschluss des [X.] vom 13. Februar 2020 - 2 BvR 739/17 -, Rn. 136; Urteil des [X.] vom 30. Juli 2019 - 2 BvR 1685/14 u.a. -, Rn. 94, 141; Urteil des [X.] vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15 u.a. -, Rn. 106). Nur unter diesen Voraussetzungen haben Bürgerinnen und Bürger auch einen aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG folgenden Anspruch auf Wahrnehmung der Integrationsverantwortung durch die Bundesregierung.

9

Ein Verstoß der Bundesregierung gegen unionsrechtliche Pflichten - deren Existenz einmal unterstellt - kann aber von vornherein keinen [X.] darstellen, weil es sich bei der Bundesregierung um ein [X.] Verfassungsorgan handelt, dessen Kompetenzen sich nicht aus dem in den [X.] niedergelegten Integrationsprogramm ergeben.

b) Auch soweit die Beschwerdeführer die Verfassungsidentität des Grundgesetzes durch das Unterlassen der Bundesregierung nach Art. 7 Abs. 2 [X.] vorzugehen, behaupten, genügt ihr Vortrag nicht den (erhöhten) Anforderungen an eine Identitätskontrolle (vgl. [X.] 140, 317 <341 f. Rn. 50>).

Der Vortrag erschöpft sich in bloßen Behauptungen und legt nicht dar, ob und inwieweit sich aus Art. 7 Abs. 2 [X.] eine Pflicht der Bundesregierung zum Tätigwerden ergeben kann. Ebenso offen bleibt, wie die Bundesregierung, eine solche Pflicht unterstellt, die Unterstützung von mindestens einem Drittel der Mitgliedstaaten für einen solchen Antrag erlangen kann und welches Schutzgut von Art. 79 Abs. 3 GG insoweit berührt wäre. Dass selbst eine unterstellte Verletzung des Unionsrechts nicht notwendigerweise auch einen Verstoß gegen das Grundgesetz bedeuten würde (vgl. [X.], Beschluss des [X.] vom 13. Februar 2020 - 2 BvR 739/17 -, Rn. 114 f.), wird nicht einmal ansatzweise thematisiert.

Im Übrigen ergibt sich aus dem Vorbringen der Beschwerdeführer auch nicht, weshalb der politische Gestaltungsspielraum der Bundesregierung bei der Wahrnehmung ihrer Integrationsverantwortung (vgl. [X.] 142, 123 <210 ff. Rn. 168 ff.>; [X.], Urteil des [X.] vom 30. Juli 2019 - 2 BvR 1685/14 u.a. -, Rn. 148; Urteil des [X.] vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15 u.a. -, Rn. 109) auf einen Verstoß nach Art. 7 Abs. 2 [X.] reduziert sein sollte.

3. Soweit die Beschwerdeführer schließlich die Verletzung des Rechtsstaatsprinzips rügen, stellen sie einen Zusammenhang mit dem Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG nicht her. Das wäre für die Zulässigkeit einer Identitätsrüge jedoch erforderlich gewesen (vgl. [X.] 123, 267 <332 f.>; 129, 124 <169, 177>; 132, 195 <238 Rn. 104>; 134, 366 <397 Rn. 53>; 135, 317 <386 Rn. 125>; 142, 123 <190 Rn. 126>; 146, 216 <249 f. Rn. 44 ff.>; [X.], Beschluss des [X.] vom 13. Februar 2020 - 2 BvR 739/17 -, Rn. 107).

4. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 2211/18

16.07.2020

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

Art 20 Abs 1 GG, Art 20 Abs 2 GG, Art 38 Abs 1 S 1 GG, Art 79 Abs 3 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, Art 7 Abs 1 EU, Art 7 Abs 2 EU

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 16.07.2020, Az. 2 BvR 2211/18 (REWIS RS 2020, 2904)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2904

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

2 BvR 43/16 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Verfassungsbeschwerde gegen Expanded Asset Purchase Programme (EAPP) der Europäischen Zentralbank unzulässig - Handeln des …


2 BvR 71/20, 2 BvR 72/20 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Erfolglose Verfassungsbeschwerden gegen das Programm der EZB zum Ankauf von Vermögenswerten des Unternehmenssektors (Corporate …


2 BvR 882/19 (Bundesverfassungsgericht)

Ablehnung des Erlasses einer eA bzgl des Freihandelsabkommens zwischen der EU und Singapur (EUSFTA) - …


2 BvE 4/16 (Bundesverfassungsgericht)

Erfolglose Organklage gegen das Fehlen einer gesetzförmigen Zustimmung (Mandatsgesetz) zur vorläufigen Anwendung des Freihandelsabkommens zwischen …


2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15 (Bundesverfassungsgericht)

Anträge auf Erlass einer nachträglichen Vollstreckungsanordnung im "PSPP-Verfahren" unstatthaft - Maßnahmen von Bundestag und Bundesregierung …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

2 BvR 739/17

2 BvR 859/15

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.