Bundesgerichtshof, Beschluss vom 04.03.2021, Az. 2 StR 423/20

2. Strafsenat | REWIS RS 2021, 8187

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Gegenstand

Strafverurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.: Prozessuale Tat bei einer Vielzahl sexueller Übergriffe; Veränderung oder Erweiterung des Tatzeitraums bei einer Vielzahl sexueller Übergriffe gegenüber Kindern über einen längeren Zeitraum)


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 23. Juli 2020 wird

a) das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte wegen dreier Taten des sexuellen Missbrauchs von [X.] im August 2019 und wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes im Hinblick auf eine Tat in der Wohnung der Mutter der Nebenklägerin unter II.2.c) der Urteilsgründe verurteilt worden ist; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last,

b) das vorgenannte Urteil im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 578 Fällen, davon in 310 Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von [X.], des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 48 Fällen sowie des sexuellen Missbrauchs von [X.] in 116 Fällen schuldig ist.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Der Beschwerdeführer hat die verbleibenden Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 49 Fällen, schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 268 Fällen, schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellen Missbrauchs von [X.] in 310 Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von [X.] in 119 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der [X.] ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

2

Soweit der Angeklagte wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in dem unter II.2.c) der Urteilsgründe abgeurteilten Übergriff in der Wohnung der Mutter der Nebenklägerin sowie wegen dreier Taten des sexuellen Missbrauchs von [X.] im August 2019 verurteilt worden ist, fehlt es an der Verfahrensvoraussetzung der Anklageerhebung.

3

1. Gegenstand der zugelassenen Anklage war zunächst eine Serie von Taten des (schweren) sexuellen Missbrauchs von Kindern, zum Teil einhergehend mit sexuellem Missbrauch von [X.], die der Angeklagte zum Nachteil der Nebenklägerin im [X.]raum von Mitte August 2010 bis zu ihrem 14. Geburtstag am 14. August 2017 begangen haben soll. [X.] war nach der Anklage in allen Fällen die Wohnung des Angeklagten. Weiterer Gegenstand der Anklage waren ferner Taten des sexuellen Missbrauchs von [X.], die der Angeklagte nach dem 14. Geburtstag der Nebenklägerin „bis etwa Juli 2019“ begangen haben soll.

4

2. Weder die in der Wohnung der Mutter der Nebenklägerin im [X.]raum von Mitte August 2010 bis Anfang September 2011 begangene Tat des sexuellen Missbrauchs von Kindern noch die drei Taten des sexuellen Missbrauchs von [X.] im August 2019 waren von der zugelassenen Anklage erfasst.

5

a) Gemäß § 264 Abs.1 StPO ist Gegenstand der Urteilsfindung die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt. Tat im Sinne dieser Vorschrift ist ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll (st. Rspr.; vgl. etwa [X.], Beschluss vom 1. Dezember 2015 - 1 [X.], NJW 2016, 1747). Bei einer Vielzahl sexueller Übergriffe gegenüber Kindern, die häufig erst nach längerer [X.] angezeigt werden, ist eine Individualisierung nach Tatzeit und exaktem Geschehensablauf oftmals nicht möglich. Die Taten als Verfahrensgegenstand werden in diesen Fällen durch die Festlegung des zeitlichen Rahmens der Tatserie, die Nennung der Höchstzahl der nach dem [X.] innerhalb dieses Rahmens begangenen Taten, die Person des [X.] und die wesentlichen Grundzüge des Tatgeschehens bestimmt (vgl. [X.], Urteile vom 22. Oktober 2013 - 5 [X.], [X.], 49; vom 11. Januar 1994 - 5 [X.], [X.]St 40, 44, 46 f.; vom 29. Juli 1998 - [X.]St 44, 153, 154 f.). Verändert sich im Laufe eines Verfahrens das Bild des Geschehens, auf das die Anklage hinweist, so kommt es darauf an, ob die „[X.]“ trotz der Abweichung noch gewahrt ist. Dies ist - ungeachtet gewisser Unterschiede - weiterhin dann der Fall, wenn bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als einmaliges, unverwechselbares Geschehen kennzeichnen ([X.], Urteile vom 20. November 2014 - 4 [X.], [X.], 68, 69, und vom 22. Juni 2006 - 3 StR 79/06, [X.], 316). Beim sexuellen Missbrauch von Kindern im häuslich-familiären Bereich ist für die Frage, ob festgestellte einzelne Taten von der Anklage umfasst sind, die zeitliche Einordnung des Geschehens vor allem dann von besonderer Bedeutung, wenn ein gleichförmiges Handlungsmuster vorliegt (vgl. [X.]St 46, 130, 133; [X.] NStZ 1999, 520).

6

b) Daran gemessen weicht die von der [X.] festgestellte Tat in der Wohnung der Mutter so deutlich von den in der Anklage geschilderten geschichtlichen Vorgängen ab, dass sie sich nicht mehr als eine von der Anklage geschilderte Tat im Sinne von § 264 Abs. 1 StPO darstellt. Die 49 angeklagten Taten für den fraglichen Tatzeitraum waren in der Anklage jeweils durch eine gleichförmige Tatbegehung an einem jeweils identischen [X.] gekennzeichnet und nicht auf andere Weise nach individuellen Merkmalen unverwechselbar charakterisiert. Insofern kommt Tatzeit und [X.] hier eine wesentliche, die Kognitionspflicht bestimmende und vor allem auch begrenzende Funktion zu. Das Geschehen in der Wohnung der Mutter war zwar Teil der über mehrere Jahre dauernden Serie von [X.] zum Nachteil der Nebenklägerin. Das durch die Anklage bezeichnete geschichtliche Vorkommnis findet sein Gepräge aber nicht nur in der gleichförmigen Begehungsweise der eigentlichen, jeweils im Abstand weniger Tage verübten [X.], die auf der Grundlage der Feststellungen des [X.]s im [X.] und in der Art ihrer Ausführung den in der Anklage geschilderten entsprechen, sondern auch darin, dass der Angeklagte die Geschädigte stets in seiner Wohnung missbraucht hat, wenn diese ihn dort aufsuchte. Der gegenüber der Anklage abweichende [X.] macht das Geschehen in der Wohnung der Mutter der Nebenklägerin zu einem anderen geschichtlichen Ereignis, das nicht von der angeklagten Tat im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO erfasst wird.

7

c) Auch die abgeurteilten Fälle des sexuellen Missbrauchs von [X.] mit Tatzeit „August 2019“ beziehen sich auf Geschehnisse, die nicht von den angeklagten Taten erfasst werden. Sie betreffen einen [X.]raum, den die Anklage, die lediglich Taten bis „etwa Juli 2019“ einschließt, nicht in den Blick genommen hat. Zwar braucht eine Veränderung oder Erweiterung des Tatzeitraums die Identität zwischen Anklage und abgeurteilter Tat nicht aufzuheben, wenn die in der Anklage beschriebene Tat unabhängig von der Tatzeit nach anderen Merkmalen individualisiert und dadurch weiterhin als einmaliges, unverwechselbares Geschehen gekennzeichnet ist. Bei wie hier gleichartigen, nicht durch andere individuelle Tatmerkmale als die Tatzeit unterscheidbaren Serientaten heben dagegen Veränderungen und Erweiterungen des [X.] die Identität zwischen angeklagten und abgeurteilten Taten auf. Insofern kommt dem in der Anklageschrift genannten Tatzeitraum im vorliegenden Fall eine wesentliche, die Kognitionspflicht des Gerichts begrenzende Funktion zu ([X.], Urteil vom 20. November 2014 - 4 [X.], [X.], 68, 69 mwN). Im Hinblick auf den vom [X.] festgestellten wöchentlichen Tatrhythmus und das Ende der Übergriffe in der [X.] (12. - 18. August 2019) ergeben sich mithin maximal drei Taten, die aus dem angeklagten Tatzeitraum fallen und nicht von der Anklage umfasst sind.

8

d) Da eine Nachtragsanklage nicht erhoben ist, muss das Verfahren in den genannten Fällen wegen des von Amts wegen zu beachtenden Verfahrenshindernisses einer fehlenden Anklage eingestellt werden. Die Einstellung des Verfahrens bedingt eine entsprechende Änderung des Schuldspruchs.

II.

9

Dies führt zum Wegfall der für diese Fälle verhängten Einzelstrafen von einmal einem Jahr und sechs Monaten und dreimal zwei Jahren Freiheitsstrafe. Der Senat schließt bei einer Einsatzstrafe von vier Jahren und sechs Monaten und mit Blick auf die Vielzahl der abgeurteilten Straftaten mit weiteren Einzelstrafen zwischen einem Jahr und sechs Monaten und vier Jahren und drei Monaten aus, dass das [X.] ohne die nunmehr eingestellten Straftaten zu einer geringeren Gesamtfreiheitsstrafe gelangt wäre.

Franke     

        

Krehl     

        

Eschelbach

        

Grube     

        

[X.]     

        

Meta

2 StR 423/20

04.03.2021

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Gera, 23. Juli 2020, Az: 430 Js 28208/19 - 9 KLs

§ 264 Abs 1 StPO, § 176 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 04.03.2021, Az. 2 StR 423/20 (REWIS RS 2021, 8187)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 8187

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