Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.02.2020, Az. 1 StR 612/19

1. Strafsenat | REWIS RS 2020, 1357

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Gegenstand

Anforderungen an die Darlegung der richterlichen Überzeugungsbildung bei Feststellungen zum Tatgeschehen ausschließlich aufgrund einer Belastungszeugin


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 8. August 2019 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von [X.] zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt; von einem weiteren Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von [X.] hat es ihn freigesprochen. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er ein Verfahrenshindernis geltend macht und die Verletzung materiellen Rechts beanstandet, hat Erfolg.

I.

2

Nach den Feststellungen des [X.]s rasierte der Angeklagte seine minderjährige Tochter zu einem nicht genauer bestimmbaren Zeitpunkt nach dem 19. Oktober 2008, an welchem die Geschädigte ihr 14. Lebensjahr vollendet hatte, im [X.] mit einem Handrasierer im Badezimmer der ehelichen Wohnung; seine Ehefrau und die Mutter der [X.]  , die sich vom Angeklagten im Mai 2015 trennte, war nicht zugegen. Der Angeklagte spiegelte seiner Tochter wahrheitswidrig vor, die Mutter sei mit der Rasur einverstanden.

II.

3

1. Die Beweiswürdigung hält der sachlichrechtlichen Nachprüfung nicht stand.

4

a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Überprüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denk- oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn das Tatgericht zu hohe Anforderungen an die Überzeugungsbildung stellt. Allerdings bestehen besondere Anforderungen an die Darlegung der Überzeugungsbildung, wenn das Tatgericht - wie hier - seine Feststellungen zum eigentlichen Tatgeschehen allein auf die Angaben des Geschädigten stützt. In einer solchen Konstellation, in der die Entscheidung im Wesentlichen davon abhängt, ob das Gericht den Angaben des einzigen [X.]n folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die seine Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Dies gilt in besonderem Maße dann, wenn der [X.] weitere erzwungene [X.] behauptet, von denen sich der Tatrichter nicht zu überzeugen vermag (st. Rspr.; [X.], Urteile vom 20. Februar 2014 - 3 [X.] Rn. 14; vom 12. Dezember 2012 - 5 StR 544/12 Rn. 5 und vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98 Rn. 14 f., [X.]St 44, 153, 158 f.; Beschlüsse vom 24. Januar 2018 - 5 [X.] Rn. 3 f.; vom 18. September 2013 - 1 [X.] Rn. 10 und vom 22. April 1997 - 4 StR 140/97 Rn. 5, [X.]R StPO § 261 Beweiswürdigung 13).

5

b) Diesen Anforderungen wird das Urteil des [X.]s nicht gerecht.

6

aa) Bedenken begegnet die Beweiswürdigung bereits deswegen, weil sie nicht frei von Unklarheiten und Widersprüchen ist. So hat das [X.] die Glaubhaftigkeit der Aussage der Tochter maßgeblich auf die Erwägung gestützt ([X.]), sie habe Einzelheiten zum Geschehen ergänzen können, ohne sich im Vergleich zu vorherigen Aussagen zu widersprechen. Um welche Einzelheiten es sich bei dem vom Umfang her leicht fasslichen Geschehen gehandelt haben soll, wird bereits nicht mitgeteilt. Die als "markant" bezeichneten Details (Beschreibung des [X.]s durch den Angeklagten, Durchführen einer [X.] und Einverständnis der Mutter) hatte die Nebenklägerin bereits u.a. in ihrer polizeilichen Vernehmung und gegenüber der Sachverständigen benannt. Zudem widerspricht diese Begründung der Einschätzung der Sachverständigen, derer sich das [X.] angeschlossen hat ([X.]). Nach den Angaben der Psychologin soll die knappe Schilderung des Vorfalls gegen eine Falschaussage sprechen. Von ihren kognitiven Fähigkeiten her hätte die Geschädigte den Sachverhalt weiter ausschmücken können, um den Angeklagten zu belasten. Dieser Widerspruch bleibt ungeklärt.

7

bb) Jedenfalls ist die Beweisführung aber deswegen durchgreifend rechtsfehlerhaft, weil das [X.] die Beweiswürdigung, die dem Teilfreispruch zugrunde liegt, nicht erkennbar in seine Beweiswürdigung zum [X.] einbezogen hat. In dem dem Freispruch zugrundeliegenden Fall ist dem Angeklagten vorgeworfen worden, seiner Tochter im Kindesalter in die Schlafanzugshose gegriffen und [X.] [X.] manipuliert" zu haben. Insoweit wertet das Gericht die Aussage der Tochter als "wenig plastisch"; wegen des langen Zeitablaufs und des Alters der Nebenklägerin könne insoweit nicht ausgeschlossen werden, dass ihre Aussage "unter suggestiven Einflüssen" entstanden sei. Angesichts der besonderen Anforderungen an die ʺAussage-gegen-Aussage Konstellation" hätte dieser Fall vom [X.] abgegrenzt und genau dargelegt werden müssen, warum im [X.] eine suggestive Beeinflussung auszuschließen ist. Denn das Tatgericht hat eine solche offensichtlich für möglich gehalten. Dann hätte es einer Auseinandersetzung damit im [X.] bedurft, zumal es nach Einschätzung des [X.]s angesichts des Alters der Nebenklägerin (20 Jahre alt) zum Zeitpunkt der [X.] gegenüber ihrer Mutter einer "massiven Beeinflussung" bedurft hätte. Dieser Gesichtspunkt gilt indes gleichermaßen für beide Vorwürfe.

8

2. Die Sache bedarf daher insgesamt der neuen Verhandlung und Entscheidung.

Raum     

        

Cirener     

        

Bär     

        

Leplow     

        

Pernice     

        

Meta

1 StR 612/19

12.02.2020

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Offenburg, 8. August 2019, Az: 204 Js 17891/15 - 2 KLs

§ 261 StPO, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.02.2020, Az. 1 StR 612/19 (REWIS RS 2020, 1357)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 1357

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