Bundessozialgericht, Urteil vom 02.12.2010, Az. B 9 SB 4/10 R

9. Senat | REWIS RS 2010, 846

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Schwerbehindertenrecht - Gesamt-GdB - Finalitätsprinzip - Teilhabe am Leben in der Gesellschaft - tatsächliche Feststellung: Gesundheitszustand nach Tumorentfernung während der Heilungsbewährung - anderer Organschaden oder Gliedmaßenschaden - Bemessung des Einzel-GdB gem AHP Nr 26.1 Abs 3 bzw VersMedV Anl 1 Teil B Nr 1 Buchst c - juxtakortikales Chondrosarkom


Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 26. August 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) des [X.] nach dem Schwerbehindertenrecht.

2

Wegen eines juxtakortikalen [X.] (bösartiger Knochentumor) im Bereich des linken Schulterblattes bei familiärer Osteochondromatose wurde am 23.9.2002 bei dem 1960 geborenen Kläger eine subtotale Schulterblattentfernung links durchgeführt.

3

Auf seinen im September 2002 angebrachten Antrag stellte das [X.] durch Bescheid vom 2.6.2003 wegen "Erkrankung des Schulterblattes links (in [X.]), [X.] des Schulterblattes links, Bewegungseinschränkung des Schultergelenkes links" einen GdB von 50 fest. Den Widerspruch des [X.] wies das [X.] (Landesversorgungsamt) durch Widerspruchsbescheid vom [X.] zurück. Nach Überprüfung aufgrund gerichtlichen Vergleichs (Sozialgericht <[X.]> Leipzig - [X.] 277/03) stellte die ehemalige [X.] Versorgungsverwaltung mit Bescheid vom 30.1.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.3.2005 fest, dass der GdB weiter 50 betrage.

4

Nach Beweiserhebung hat das vom Kläger angerufene [X.] die auf Feststellung des GdB mit 80 gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom [X.]). Zur Überzeugung des Gerichts sei das [X.] des Schulterblattes im Frühstadium entfernt worden, so dass nach [X.] 26.1 Abs 3 Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im [X.] Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht ([X.]) ein GdB von 50 angemessen sei. Die beim Kläger verbliebenen Organ- und Gliedmaßenschäden seien nicht mit einem GdB von mehr als 50 zu bewerten, so dass der [X.] ebenfalls 50 betrage.

5

Während des vom Kläger geführten Berufungsverfahrens ist die beklagte [X.] an die Stelle des [X.] getreten. Das [X.] ([X.]) hat den bereits erstinstanzlich als Sachverständigen gehörten Unfallchirurgen Prof. Dr. J. ergänzend befragt sowie ein weiteres Sachverständigengutachten von dem Orthopäden Prof. Dr. W. beigezogen. Prof. Dr. J. ist in seiner Stellungnahme vom 10.11.2008 bei seiner im Gutachten vom 14.10.2006 vertretenen Auffassung verblieben, dass die generalisierten funktionellen Defizite des [X.] die Einschätzung eines GdB von 60 rechtfertigten. Prof. Dr. W. hat in seinem Gutachten vom 2.12.2008 die Zuerkennung eines [X.] von 70 für gerechtfertigt gehalten.

6

           

Durch Urteil vom 26.8.2009 hat das [X.] die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:

Richtiger Klagegegner sei die [X.]. Der [X.] sei aufgrund einer Zuständigkeitsänderung durch sächsische Landesgesetze zum 1.8.2008 kraft Gesetzes aus dem Verfahren ausgeschieden und durch die Beklagte ersetzt worden. Diese landesgesetzlichen Bestimmungen stünden mit höherrangigem Recht in Einklang.

7

[X.] und der Bescheid vom 30.1.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.3.2005 seien rechtmäßig. Die vorliegende Osteochondromatose könne nicht mit einem alle betroffenen Körperteile abdeckenden GdB bewertet werden. Sie sei in den [X.] nicht aufgeführt und auch nicht mit einer Gelenkerkrankung des rheumatisch entzündlichen Formenkreises vergleichbar. Die sich daraus ergebenden Funktionsstörungen seien daher einzeln zu bewerten. Es ergäben sich Einzel-GdB von jeweils 10 für die leichte Funktionsstörung im Bereich des linken Hüftgelenks, das leichte Funktionsdefizit in den oberen Sprunggelenken, die mittelschweren Funktionsdefizite beider Handgelenke und Unterarme sowie ein Teil-GdB von 20 für die schwere Funktionsstörung im Bereich des linken Schultergelenks. Der Zustand nach Entfernung des [X.] des Schulterblattes links sei, wie es auch das [X.] zutreffend angenommen habe, mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten, weil die Entfernung im Frühstadium erfolgt sei. Nach [X.] 26.1 Abs 3 [X.] bzw Teil B [X.] 1.c Anlage zu § 2 [X.] vom 10.12.2008 ([X.]) sei der GdB für das [X.] von 50 nicht entsprechend höher zu bewerten, da weder der verbliebene Körperschaden bzw Organ- oder Gliedmaßenschaden noch außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung einen GdB von 50 oder mehr bedingten. Bis zum Ablauf der [X.] - in der Regel bis zum Ablauf des fünften Jahres nach [X.] - sei beim Kläger somit ein GdB von 50 festzustellen. Prof. Dr. J. habe die Einzel-GdB zu einem [X.] von 60 addiert, was unzulässig sei. Prof. Dr. W. habe bei seiner [X.]-Bildung nicht die Maßgabe nach [X.] 26.1 Abs 3 [X.] bzw Teil B [X.] 1.c [X.] beachtet.

8

Mit der - vom [X.] (B[X.]) zugelassenen - Revision macht der Kläger eine Verletzung des § 69 Abs 1 [X.]B IX iVm den [X.] und der [X.] geltend. Das angefochtene Urteil weiche zur Bildung des [X.] insbesondere von dem Urteil des B[X.] vom [X.] - B 9 SB 4/08 R - ab. Zudem habe das [X.] den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Insbesondere zur Frage, ob der Tumor im Frühstadium oder in einem anderen Stadium entfernt worden sei, habe das [X.] seinen Sachvortrag nicht zur Kenntnis genommen. Ebenfalls habe das [X.] den Sachverhalt hinsichtlich der von ihm - dem Kläger - behaupteten Vererblichkeit seiner Erkrankung nicht hinreichend aufgeklärt. Zudem habe das [X.] den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 [X.]G) verletzt, indem es überraschend und ohne eigene Sachkunde keinem der beiden vorinstanzlich gehörten ärztlichen Fachgutachter gefolgt sei. Schließlich habe das [X.] gegen § 62 [X.]G auch dadurch verstoßen, dass es dem Sachverständigen Prof. Dr. Wirth höhere Sachkunde zugesprochen habe als Prof. Dr. J. Hierzu habe er - der Kläger - sich nicht äußern können.

9

Der Kläger beantragt,
das Urteil des [X.] vom 26. August 2009 und das Urteil des [X.] vom 24. Juli 2007 sowie die Bescheide des [X.] vom 2. Juni 2003 und 30. Januar 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamtes vom 30. Mai 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei ihm ab 6. September 2002 einen höheren GdB als 50 festzustellen.

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 [X.]G) einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

Die Revision des [X.] ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das [X.] begründet.

Im Laufe des Berufungsverfahrens ist auf Beklagtenseite kraft Gesetzes ein [X.] erfolgt (vgl dazu [X.]-1500 § 57 [X.] Rd[X.] 4; [X.], 9 = [X.]-3250 § 69 [X.], Rd[X.]3 f; [X.], 149 = [X.]-1100 Art 85 [X.], Rd[X.]0). Zum 1.8.2008 ist die [X.] an die Stelle des [X.] getreten, weil von diesem [X.]punkt an die bis dahin von den Ämtern für Familie und Soziales des Landes wahrgenommenen Aufgaben des Schwerbehindertenrechts nach dem [X.] auf die Landkreise und kreisfreien Städte übertragen worden sind. Dies geschah durch Art 44 [X.] der [X.] vom 29.1.2008 ([X.]) und ergänzender landesrechtlicher Regelungen, deren Inhalt als Landesrecht das [X.] für das Revisionsgericht bindend festgestellt hat (§ 202 [X.] iVm § 560 ZPO; s [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.], 9. Aufl 2008, § 162 Rd[X.] 7). Einwendungen gegen diese Feststellungen des Inhalts des [X.] sind nicht erhoben worden.

Diese durch das [X.] erfolgte Zuständigkeitsänderung ist mit revisiblem Recht (vgl § 162 [X.]) vereinbar. Sie ist rechtswirksam erfolgt. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats zu der dem erwähnten [X.] Landesrecht ähnlichen Zuständigkeitsveränderung in [X.] verstößt die Übertragung der Aufgaben des Schwerbehindertenrechts auf die [X.] und kreisfreien Städte nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des Grundgesetzes (Urteile vom [X.] [X.] - juris und - [X.] [X.] 3/08 R - juris, Urteil vom [X.] [X.] 1/10 R - juris; zur Übertragung der Aufgaben des Sozialen Entschädigungsrechts einschließlich der Kriegsopferversorgung, der Soldatenversorgung und der Opferentschädigung auf die Kommunalen Landschaftsverbände in [X.] s Urteile vom 11.12.2008 - [X.] V 3/07 R - [X.] 2009, 95 und - [X.] VS 1/08 R - [X.], 149 = [X.]-1100 Art 85 [X.]). Die für die Verwaltungsreform in [X.] geltende Rechtslage muss in gleicher Weise für die ebenfalls durch formelles Landesgesetz erfolgte Zuständigkeitsänderung in [X.] gelten. Gegenteilige rechtliche Bedenken sind nicht ersichtlich und auch vom Kläger nicht vorgebracht worden.

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des [X.] auf Feststellung eines höheren GdB als 50 ab Antragstellung im September 2002. Darüber ist in den angefochtenen Bescheiden vom [X.] und 30.1.2004 ablehnend entschieden, denn darin ist für den Kläger lediglich ein GdB von 50 festgestellt worden. Weitere Bescheide, insbesondere für die [X.] nach Ablauf der [X.] sind nicht ergangen.

Ob der Kläger, wie das [X.] entschieden hat, nur Anspruch auf die bereits erfolgte Feststellung eines GdB von 50 oder, wie der Kläger geltend macht, Anspruch auf Feststellung eines darüber hinausgehenden GdB hat, kann der Senat auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des [X.] (s § 163 [X.]) noch nicht abschließend entscheiden.

Rechtsgrundlage für einen möglichen Anspruch des [X.] auf Feststellung eines höheren GdB als 50 ist § 69 Abs 1 und Abs 3 [X.] vom 19.6.2001 ([X.] 1046), für die [X.] ab 1.5.2004 idF des [X.] ([X.] 606; aF) sowie - für die [X.] ab 21.12.2007 - idF des [X.] ([X.] 2904; nF). Nach § 69 Abs 1 Satz 1 [X.] (aller Fassungen) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes ([X.]) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs 1 Satz 4 [X.] (aller Fassungen) die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach [X.] abgestuft festgestellt. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, wird der GdB gemäß § 69 Abs 3 Satz 1 [X.] (aller Fassungen) nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.

Gemäß § 69 Abs 1 Satz 5 [X.] in den bis zum 20.12.2007 maßgeblichen Fassungen (aF) gelten bei der Feststellung der Behinderung (des GdB) die Maßstäbe des § 30 Abs 1 [X.] entsprechend ([X.]-3250 § 69 [X.]0 Rd[X.]6 bis 21 mwN). Durch diesen Verweis stellt § 69 [X.] auf das versorgungsrechtliche Bewertungssystem ab, dessen Ausgangspunkt die "Mindestvomhundertsätze" für eine größere Zahl erheblicher äußerer Körperschäden iS der [X.] Verwaltungsvorschriften zu § 30 [X.] sind. Von diesen Mindestvomhundertsätzen leiten sich die aus den Erfahrungen der Versorgungsverwaltung und den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft gewonnenen Tabellenwerte der [X.] ab. In § 69 Abs 1 Satz 5 [X.] in der ab 21.12.2007 geltenden Fassung (nF) wird zusätzlich auf die auf Grund des § 30 Abs 17 [X.] mit Wirkung ab 1.1.2009 erlassene Rechtsverordnung Bezug genommen. Anzuwenden sind vorliegend für die [X.] ab Antragstellung im September 2002 bis zum Ende des Jahres 2008 die [X.] 1996, 2004, 2005 und 2008. Für die [X.] ab 1.1.2009 ist die [X.] für die Feststellung des GdB. Aus diesem Wechsel ergeben sich hier keine inhaltlichen Abweichungen, da der Wortlaut der maßgebenden Abschnitte der [X.] und der [X.] ("[X.] Grundsätze") identisch ist.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist davon auszugehen, dass die [X.] grundsätzlich den Maßstab angeben, nach dem der GdB einzuschätzen ist ([X.], 205 = [X.]-3250 § 69 [X.]; [X.]-3250 § 69 [X.] 9). Bei den [X.] handelt es sich um antizipierte Sachverständigengutachten, die im konkreten Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu beachten sind (zum Ganzen s [X.]-3250 § 69 [X.] 9 Rd[X.]5 mwN). Entsprechendes gilt für die seit dem 1.1.2009 in [X.] befindliche [X.] als verbindliche Rechtsquelle. Zweifel am Inhalt der [X.] oder der [X.], der durch besondere, vor allem medizinische Sachkunde bestimmt ist, sind vorzugsweise durch Nachfrage bei dem verantwortlichen Urheber, hier also beim Ärztlichen Sachverständigenbeirat [X.] bzw bei dem für diesen geschäftsführend tätigen [X.] (§ 3 [X.]) zu klären (vgl dazu [X.] [X.]/9a [X.] 6/06 R - juris Rd[X.]1). Im Übrigen sind [X.] und [X.] auf inhaltliche Verstöße gegen höherrangige Rechtsnormen - insbesondere § 69 [X.] - zu überprüfen ([X.] vom [X.] [X.] 3/08 R -, [X.] 2009, 59, 62 mwN). Dabei sind sie im Lichte des § 69 [X.] auszulegen. Bei nach entsprechender Auslegung verbleibenden Verstößen gegen § 69 [X.] sind diese Rechtsquellen nicht anzuwenden ([X.] vom [X.], aaO).

Bei der Feststellung des (Gesamt)-GdB ist das seit jeher im Schwerbehindertenrecht geltende Finalitätsprinzip (zum Rechtszustand nach dem Schwerbehindertengesetz s BSG [X.] 3870 § 57 [X.] S 5; s auch Teil A [X.].a Satz 1 [X.]) zu beachten, das sowohl im Behinderungsbegriff des § 2 Abs 1 [X.] als auch in den Prinzipien zur Feststellung des GdB nach § 69 Abs 1 und Abs 3 [X.] festgeschrieben worden ist. Danach sind alle dauerhaften Gesundheitsstörungen unabhängig von ihrem Entstehungsgrund zu erfassen und ihre Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu berücksichtigen ([X.] vom 11.12.2008 - [X.]/9a [X.] 4/07 R - zum Begriff der sog [X.] unter Hinweis auf Knickrehm, [X.] 2008, 220, 221; s auch [X.]8 Abs 1 [X.]/Teil A [X.].a [X.]). Das BSG (aaO) hat dargelegt, dass möglicherweise durch eine Haupterkrankung (dort: Diabetes Mellitus) hervorgerufene Gesundheitsstörungen (dort: zB Netzhautveränderungen etc) wie von der Haupterkrankung unabhängig entstandene Gesundheitsstörungen zu behandeln sind und in ihren Auswirkungen auf die Teilhabefähigkeit unabhängig von dem für die Haupterkrankung festzustellenden Einzel-GdB separat zu berücksichtigen sind. Entsprechend hat das BSG im Falle der durch die Haupterkrankung (Schilddrüsenentfernung wegen Karzinom) hervorgerufenen Verletzung eines Stimmbandnervs entschieden ([X.] vom [X.] - [X.] [X.] 4/08 R - [X.]-3250 § 69 [X.]0). Danach begegnet es durchgreifenden Bedenken, mit der [X.] eines Zustands nach Tumorentfernung während der [X.] auch abgrenzbare und nennenswerte Schäden an anderen Organen zu erfassen, die nicht immer mit einer derartigen Behandlung verbunden sind.

Gemäß [X.]6.1 Abs 3 [X.] und Teil B [X.].c [X.] ist nach Behandlung bestimmter Krankheiten, die zu Rezidiven neigen, insbesondere bei bösartigen [X.]en, eine [X.] abzuwarten. Der [X.]raum der [X.] beträgt in der Regel fünf Jahre, und zwar ab dem [X.]punkt, an dem die Geschwulst durch [X.] oder andere Primärtherapie als beseitigt angesehen werden kann. Die hinsichtlich der häufigsten und wichtigsten solcher Krankheiten im Folgenden angegebenen GdB/MdE/[X.] sind auf den "Zustand nach operativer oder anderweitiger Beseitigung der Geschwulst bezogen". Sie beziehen den "regelhaft verbleibenden Organ- oder Gliedmaßenschaden ein". "Außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung - zB langdauernde schwere Auswirkungen einer wiederholten Chemotherapie - sind gegebenenfalls zusätzlich zu berücksichtigen". Ferner bestimmt [X.]6.1 Abs 3 [X.]/Teil B [X.].c [X.], dass, sofern bis zum Ablauf der [X.] der GdB während dieser [X.] 50 beträgt, der GdB entsprechend höher zu bewerten ist, wenn der verbliebene Organ- oder Gliedmaßenschaden und/oder außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung einen GdB von 50 oder mehr bedingen.

Wie der Begriff des [X.]s zu verstehen ist, ist in den [X.] und der [X.] nicht näher geregelt. Der erkennende Senat hat dazu mehrere Möglichkeiten aufgezeigt ([X.]-3250 § 69 [X.]0 Rd[X.]8). Jedenfalls aber darf die Einschätzung des [X.] nicht unterschiedlich ausfallen in Fällen, in denen der [X.] schon vor der [X.] vorhanden war, und Fällen, in denen er erst mit oder nach der [X.] aufgetreten ist (BSG aaO, Rd[X.] 30, 31). Soweit [X.]6.1 Abs 3 letzter Satz [X.] und Teil B [X.].c letzter Satz [X.] bestimmen, dass der wegen [X.] anzunehmende GdB erhöht werden muss ("ist … höher zu bewerten"), wenn der verbliebene Organ- oder Gliedmaßenschaden (Körperschaden) - für sich allein - einen GdB von 50 oder mehr bedingt, kann sich diese Regelung mithin nur auf den von der [X.] betroffenen Körperteil und die mit der Tumorentfernung typischerweise verbundenen Schäden beziehen. Ob die festgelegte Grenze eines GdB von 50 für derartige verbliebene Organ- oder Gliedmaßenschäden zu hoch angesetzt ist, muss hier nicht erörtert werden; denn die schwere Funktionsstörung des linken Schultergelenks, die neben dem [X.] des linken [X.] als vom GdB des Zustands nach Tumorentfernung miterfasst angesehen werden könnte, bedingt nach den bisherigen Feststellungen des [X.] nur einen GdB von 20.

Die Feststellung des GdB ist tatrichterliche Aufgabe ([X.] 4, 147, 149 f; [X.] 62, 209, 212 ff = [X.] 3870 § 3 [X.]6 S 83 f; [X.]-3250 § 69 [X.]0; zur Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in der gesetzlichen Unfallversicherung als Tatsachenfeststellung s zuletzt [X.]-2700 § 56 [X.] Rd[X.]0 mwN) und kann im Revisionsverfahren nur durch entsprechende Verfahrensrügen angegriffen werden (vgl § 163 [X.]). Sie ist jedoch in den dargestellten rechtlichen Rahmen eingebettet, den Verwaltung und [X.]e zwingend zu beachten haben. Entsprechende Rechtsverstöße durch das [X.] sind vom Revisionsgericht zu beanstanden (§ 162 [X.]).

Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen (s § 2 Abs 1 [X.]) und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese - soweit möglich - den in den [X.]/der [X.] genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann - in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (vgl [X.]9 Abs 3 [X.]/Teil A [X.] 3.c [X.]) - in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der [X.] zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der Tabelle der [X.]/[X.] feste GdB/MdE-Werte bzw feste GdS-Werte angegeben sind (vgl [X.]9 Abs 2 [X.]/Teil A [X.] 3.b [X.]).

Ausgehend von diesen rechtlichen Rahmenbedingungen hat das [X.] im ersten Verfahrensschritt Feststellungen über die beim Kläger bestehenden, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen getroffen, die für das Revisionsgericht bindend sind, zumal sie vom Kläger nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden sind (§ 163 [X.]). Danach liegen ein Zustand nach Entfernung eines [X.]s mit Teilentfernung des linken Schulterblattes und schwerer Funktionsstörung im Bereich des linken Schultergelenks sowie - im Wesentlichen auf der Grundlage einer familiären Osteochondromatose - Funktionsstörungen im Bereich des linken Hüftgelenks und der oberen Sprunggelenke, mittelschwere Funktionsdefizite beider Handgelenke und Unterarme vor. Soweit sich der Kläger gegen die Feststellung des [X.] wendet, das [X.] sei im Frühstadium entfernt worden, betrifft sein Vorbringen weniger den gegenwärtigen Gesundheitszustand, sondern vielmehr ein Merkmal, das nach [X.]6.1 Abs 3 [X.] bzw Teil B [X.].c [X.] für die pauschale [X.] während der [X.] von Bedeutung ist.

Der Senat lässt es dahinstehen, inwiefern die vom [X.] im zweiten Verfahrensschritt vorgenommenen Feststellungen über die Zuordnung der Gesundheitsstörungen zu in den [X.] und der [X.] aufgeführten Funktionssystemen und deren Bewertung mit jeweils einem Einzel-GdB bindend sind. Insbesondere bleibt offen, ob die vom [X.] auf [X.]6.1 Abs 3 [X.] und Teil B [X.].c [X.] gestützte Bewertung des Einzel-GdB für den Zustand nach Entfernung des [X.]s insoweit auf einer das BSG bindenden Tatsachenfeststellung beruht, als das [X.] angenommen hat, die Entfernung sei im Frühstadium erfolgt. Denn selbst wenn die Bewertung des Einzel-GdB für den Zustand nach Tumorentfernung mit 50 im Ansatz zutreffend sein sollte, begegnet das weitere Vorgehen des [X.] durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Das [X.] hat die Regelung der [X.]6.1 Abs 3 [X.] bzw Teil B [X.].c [X.] unrichtig angewendet. Es hat bereits verkannt, dass diese Bestimmungen nur die Ermittlung des Einzel-GdB für den Zustand nach Tumorentfernung während der [X.] und nicht die Bemessung des [X.] betreffen. Es hätte zudem nicht alle mit der familiären Osteochondromatose des [X.] zusammenhängenden Funktionsstörungen in die Bemessung des Einzel-GdB für den Zustand nach Tumorentfernung einbeziehen, sondern insoweit nur die unmittelbar damit verbundenen Schäden berücksichtigen dürfen. Wäre danach der Einzel-GdB von 50 nicht zu erhöhen gewesen, so hätten die übrigen Gesundheitsstörungen (insbesondere im Bereich der Hände, Unterarme, Hüft- und Sprunggelenke) in einem dritten Verfahrensabschnitt in die Bildung des [X.] einbezogen werden müssen.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Vorgehensweise zu einem höheren [X.] als 50 hätte führen können. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die betreffenden Funktionsstörungen nach den Feststellungen des [X.] jeweils nur einen GdB von 10 bedingen.

Nach [X.]9 Abs 4 [X.] und Teil A [X.] 3.d.ee [X.] führen, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Ein derartiger Ausnahmefall könnte hier vorliegen. Die vom [X.] festgestellten Beweglichkeitseinschränkungen am linken Hüftgelenk, den Handgelenken und Unterarmen sowie den oberen Sprunggelenken sind offenbar einer sog Systemerkrankung - nämlich einer familiären Osteochondromatose - zuzuordnen. Dadurch könnten die Auswirkungen der einzelnen Erscheinungen insgesamt ein stärkeres Gewicht erhalten. Hinzu könnten besondere seelische Begleiterscheinungen kommen, die sich aus der Vererblichkeit dieser Erkrankung ergeben.

Sollte der Kläger - wie seinem Vorbringen entnommen werden könnte - darüber hinaus an einer psychischen Erkrankung leiden, wäre diese mit einem Einzel-GdB zu bewerten und bei der Bildung des [X.] gesondert zu berücksichtigen.

Nach alledem fehlen weitere tatrichterliche Feststellungen, die das BSG im Revisionsverfahren nicht nachholen kann. Das Berufungsurteil ist deshalb aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 [X.]).

Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird das [X.] erneut zu prüfen und festzustellen haben, ob sich das [X.] des linken Schulterblattes bei seiner Entfernung tatsächlich erst im Frühstadium oder - wie der Kläger geltend macht - in einem fortgeschrittenen Stadium befunden hat. Letzteres würde nach [X.]6.1 Abs 3 [X.] bzw Teil B [X.].c [X.] während der [X.] zu einem höheren Einzel-GdB führen.

Das [X.] wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 9 SB 4/10 R

02.12.2010

Bundessozialgericht 9. Senat

Urteil

Sachgebiet: SB

vorgehend SG Leipzig, 24. Juli 2007, Az: S 4 SB 112/05, Urteil

§ 2 Abs 1 S 1 SGB 9, § 69 Abs 1 S 1 SGB 9, § 69 Abs 1 S 3 SGB 9 vom 19.06.2001, § 69 Abs 1 S 4 SGB 9 vom 19.06.2001, § 69 Abs 1 S 4 SGB 9 vom 23.04.2004, § 69 Abs 1 S 4 SGB 9 vom 13.12.2007, § 69 Abs 1 S 5 SGB 9 vom 23.04.2004, § 69 Abs 1 S 5 SGB 9 vom 13.12.2007, § 69 Abs 3 S 1 SGB 9, § 30 Abs 1 BVG, § 30 Abs 17 BVG, Anl 1 Teil B Nr 1 Buchst c VersMedV, Anl 1 Teil A Nr 3 Buchst d DBuchst ee VersMedV

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 02.12.2010, Az. B 9 SB 4/10 R (REWIS RS 2010, 846)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 846

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