Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10.06.2021, Az. 2 ARs 131/21

2. Strafsenat | REWIS RS 2021, 5101

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Gegenstand

Gerichtsstandsbestimmung in Jugendstrafsachen: Ablehnung der Verfahrensabgabe an das neu zuständige Gericht nach Aufenthaltswechsel des Angeklagten zur Vermeidung einer Verfahrensverzögerung


Tenor

Der Abgabebeschluss des Amtsgerichts - [X.] - [X.] vom 29. Dezember 2020 wird aufgehoben.

Dieses Gericht ist für die Untersuchung und Entscheidung der Sache weiter zuständig.

Gründe

I.

1

Die Staatsanwaltschaft [X.] hat gegen den heute 22-jährigen Angeklagten sowie zwei Mitangeklagte unter dem 25. September 2019 Anklage vor dem [X.] - [X.] - wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Raub, erhoben. Die ihm zur Last gelegten Straftaten soll der (damals 20-jährige) Angeklagte als Heranwachsender am 22. April 2019 in [X.]    begangen haben. In der Anklageschrift werden insgesamt elf Zeugen benannt, von denen zehn in [X.]    wohnhaft oder - als Polizeibeamte - über das dortige Polizeikommissariat zu laden sind; ein weiterer als Zeuge benannter Polizeibeamter ist beim Polizeikommissariat im rund zehn Kilometer entfernten S.      tätig. Der Angeklagte, der die Tatvorwürfe in seiner polizeilichen Beschuldigtenvernehmung im Wesentlichen bestritten hat, war bei Anklageerhebung ebenfalls in [X.]     wohnhaft und im nahegelegenen G.               berufstätig.

2

Nach Zustellung der Anklageschrift wurde dem Angeklagten ein in [X.]      kanzleiansässiger Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger beigeordnet. Durch Beschluss des [X.] vom 24. Februar 2020 wurde das Hauptverfahren vor dem [X.] eröffnet.

3

Auf den 15. April und den 20. Oktober 2020 anberaumte [X.] mussten [X.] aufgehoben werden. Am 20. Oktober 2020 teilte der Angeklagte mit, nunmehr in [X.].    wohnhaft zu sein, woraufhin das [X.] das Verfahren gegen diesen Angeklagten abtrennte und gemäß § 42 Abs. 3 Satz 1 JGG am 29. Dezember 2020 an das Amtsgericht - [X.] - [X.] abgab. Dieses hat die Übernahme abgelehnt, weil sie zu einer erheblichen Verzögerung führe und [X.] nicht vertretbar sei.

II.

4

Der [X.] ist als gemeinschaftliches oberes [X.]richt des Amtsgerichts [X.] ([X.]) und des [X.] (Oberlandesgerichtsbezirk [X.]) aufgrund der zulässigen Vorlage des letztgenannten [X.]richts gemäß § 42 Abs. 3 Satz 2 JGG zur Entscheidung des [X.] berufen.

5

Der [X.]neralbundesanwalt hat dazu ausgeführt:

„Der Beschluss des [X.] vom 29. Dezember 2020, mit dem die Sache an das Amtsgericht [X.] abgegeben wurde, ist aufzuheben. Zwar liegen die Voraussetzungen für eine Abgabe nach § 42 Abs. 3 Satz 1 JGG vor, nachdem der Angeklagte seinen tatsächlichen Aufenthaltsort nach Anklageerhebung gewechselt hat (vgl. dazu [X.], Beschluss vom 18. März 2014 - 2 ARs 7/14 -, juris Rn. 1 m. w. Nachw.). Die Abgabe, die im richterlichen Ermessen steht („kann“), erweist sich im vorliegenden Fall aber als unzweckmäßig. Der Grundsatz, dass sich Jugendliche vor dem für ihren Aufenthaltsort zuständigen [X.]richt verantworten sollen, das regelmäßig über die größte Sachnähe verfügt, kann zur Vermeidung erheblicher Verfahrenserschwernisse durchbrochen werden (vgl. [X.], Beschluss vom 16. April 2003 - 2 [X.]/03 -, juris, Rn. 2; Beschluss vom 11. Februar 2014 - 2 [X.] -, juris, Rn. 1; Beschluss vom 8. September 2015 - 2 [X.] -, juris Rn. 1). Dies ist hier geboten. Eine Abgabe des Verfahrens an das für den neuen Wohnsitz des Angeklagten zuständige Amtsgericht [X.] ist aus [X.]er Sicht nicht vertretbar. Der Vorsitzende des [X.]s des [X.] hat über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden und ist damit bereits in die Sache eingearbeitet, während sich der Vorsitzende des [X.]s des Amtsgerichts [X.] zunächst noch einarbeiten müsste. Dies würde zu einer weiteren, nicht mehr hinnehmbaren Verzögerung des Verfahrens führen, das wegen der [X.] ohnehin schon nicht mit der in Jugendstrafsachen gebotenen Beschleunigung geführt werden konnte. Im Falle einer Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht [X.] müssten überdies der Verteidiger des Angeklagten und sämtliche Zeugen aus [X.]     anreisen (einfache Fahrtstrecke: 286 km), was für den Angeklagten mit einem entsprechenden Kostenrisiko verbunden wäre (vgl. §§ 74, 109 Abs. 2 JGG). Eine Hauptverhandlung vor dem [X.] hätte demgegenüber nur für den Angeklagten selbst einen erhöhten [X.] zur Folge, der ihm ohne Weiteres zugemutet werden kann. ... Hinzu kommt, dass der Angeklagte bereits im Tatzeitpunkt volljährig war und mittlerweile nicht mehr Heranwachsender, sondern Erwachsener ist. Bei dieser Sachlage tritt der erzieherisch relevante [X.]sichtspunkt der Entscheidungsnähe des für den Wohnsitz zuständigen [X.]richts zurück (vgl. [X.], Beschluss vom 28. April 2020 - 2 [X.] -, juris, Rn. 3 m. w. Nachw.).“

6

Dem schließt sich der Senat an, zumal noch hinzukommt, dass das [X.] das Verfahren gegen einen der beiden Mitangeklagten bereits rechtskräftig abgeschlossen hat.

Franke     

        

Appl     

        

Zeng   

        

Grube     

        

Schmidt     

        

Meta

2 ARs 131/21

10.06.2021

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: ARs

vorgehend AG Helmstedt, 29. Dezember 2020, Az: 16 Ls 653 Js 63184/20

§ 42 Abs 3 S 1 JGG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10.06.2021, Az. 2 ARs 131/21 (REWIS RS 2021, 5101)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 5101

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