Bundesgerichtshof, Beschluss vom 13.06.2012, Az. 2 StR 112/12

2. Strafsenat | REWIS RS 2012, 5645

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Gegenstand

Strafverfahren: Notwendiger Inhalt der Verfahrensrüge unstatthafter Verlesung des Vernehmungsprotokolls eines zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen; notwendige Protokollierung eines Verzichts auf das Verwertungsverbot durch den qualifiziert belehrten Zeugen; Wirksamkeit eines Verzichts


Leitsatz

1. Die Zulässigkeit der Verfahrensrüge eines Verstoßes gegen § 252 StPO setzt nicht den Vortrag voraus, der zeugnisverweigerungsberechtigte Zeuge habe nicht nach qualifizierter Belehrung auf das Verwertungsverbot verzichtet.

2. Die qualifizierte Belehrung über Möglichkeit und Rechtsfolgen eines Verzichts auf das Verwertungsverbot gemäß § 252 StPO sowie die daraufhin abgegebene Verzichtserklärung eines zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen sind als wesentliche Förmlichkeiten des Verfahrens in das Hauptverhandlungsprotokoll aufzunehmen (§ 273 Abs. 1 StPO).

3. Ist auf das Verwertungsverbot aus § 252 StPO wirksam verzichtet worden, ist die frühere Aussage des zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen nach allgemeinen Regeln verwertbar; dies schließt eine Verlesung gemäß § 251 Abs. 2 Nr. 3 StPO ein.

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 10. November 2011 aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.

Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer - Jugendschutzkammer - des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 111 Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt und ihn im Übrigen - vom Vorwurf einer Vielzahl weiterer Fälle - freigesprochen. Seine Revision hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg; auf die ebenfalls ausgeführte Sachrüge kommt es nicht an.

2

1. Der Verfahrensrüge einer Verletzung von § 252 [X.] liegt folgender Verfahrenssachverhalt zugrunde:

3

Das [X.] hat am 3. Tag der Hauptverhandlung die Zeuginnen S.    L.   und [X.], die nach den Urteilsfeststellungen geschädigten Töchter des Angeklagten, vernommen. Beide Zeuginnen wurden gemäß § 52 [X.] über ihr Zeugnisverweigerungsrecht belehrt und verweigerten sodann unter Berufung auf dieses Recht die Aussage.

4

Nach Entlassen der Zeuginnen ist im [X.] jeweils vermerkt: "Der Vorsitzende erläutert den Verfahrensbeteiligten die Sach- und Rechtslage sowie den weiteren Verfahrensfortgang." Im [X.] daran erklärten der Angeklagte, sein Verteidiger sowie der [X.] der Staatsanwaltschaft jeweils, sie seien mit der Verlesung der richterlichen Vernehmung der Zeuginnen einverstanden. Dies wurde jeweils durch Beschlüsse des [X.]s angeordnet. Die Verlesung wurde ausgeführt; auf den Inhalt der Vernehmungen ist die Verurteilung des Angeklagten gestützt.

5

In den Urteilsgründen hat das [X.] ausgeführt:

"Die richterlichen Aussagen wurden im Einvernehmen aller Beteiligten verlesen, da die beiden Frauen (…) von ihrem (…) Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht haben. Beiden Zeuginnen war dabei sehr wohl bewusst und bekannt, dass dann gleichwohl ihre Angaben, die sie zuvor vor dem jeweiligen Ermittlungsrichter gemacht hatten, in die Hauptverhandlung eingeführt werden können und auch eingeführt werden."

6

2. Die hiergegen gerichtete Verfahrensrüge einer Verletzung des § 252 [X.] ist entgegen der Ansicht des [X.] nicht unzulässig. Dieser hat ausgeführt, § 344 Abs. 2 Satz 2 [X.] hätte den Vortrag des [X.]s verlangt, dass die Zeuginnen auf das Beweisverwertungsverbot des § 252 [X.] nicht wirksam verzichtet hatten. Der Senat teilt diese Ansicht nicht.

7

Aus § 252 [X.] ergibt sich, wenn ein Zeuge unter Berufung auf sein Zeugnisverweigerungsrecht in der Hauptverhandlung die Aussage verweigert, grundsätzlich ein umfassendes Verwertungsverbot (vgl. BGHSt 29, 230, 232; 32, 25, 29). Eine Ausnahme gilt nach ständiger Rechtsprechung insoweit nur für eine Vernehmung eines Richters als Zeuge über eine frühere Aussage der Auskunftsperson, wenn diese bei jener früheren Vernehmung über ihr Zeugnisverweigerungsrecht ordnungsgemäß belehrt worden war (BGHSt 32, 25, 29; 36, 384, 385; 46, 189, 195; st. Rspr.). Weitergehend erlaubt der [X.] in ständiger Rechtsprechung eine Verwertung früherer Aussagen, wenn der verweigerungsberechtigte Zeuge nach ausdrücklicher, qualifizierter Belehrung hierüber mitteilt, er mache von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, gestatte jedoch die Verwertung jener früheren Aussage (BGHSt 45, 203; [X.], 352; vgl. dazu [X.], [X.], 55. Aufl., § 252 Rn. 16a m.zahlr.Nachw.). Es handelt sich insoweit folglich um eine in der Rechtsprechung entwickelte eng begrenzte Ausnahme von dem gesetzlichen Verwertungsverbot. Nach Ansicht des Senats würde es die Regelung des § 344 Abs. 2 Satz 2 [X.] unzulässig überdehnen, für die Zulässigkeit der Geltendmachung eines Verstoßes gegen § 252 [X.] den Vortrag einer [X.] durch den [X.] zu verlangen, wonach die Voraussetzungen dieser Ausnahme nicht gegeben sind.

8

3. Die Rüge ist auch begründet. Da die früheren richterlichen Aussagen der beiden Zeuginnen nicht durch Vernehmung des Richters, sondern durch Verlesung eingeführt wurden, wäre hierzu ein ausdrücklicher Verzicht der Zeuginnen auf das Verwertungsverbot gemäß § 252 [X.] erforderlich gewesen. Hieran fehlt es. Durch den Inhalt des [X.]s ist bewiesen, dass eine qualifizierte Belehrung der Zeuginnen S.    und [X.]nicht erfolgte und dass diese auch nicht ausdrücklich ihr Einverständnis mit der Verwertung ihrer Aussagen erklärt haben. Hierbei handelt es sich um wesentliche Förmlichkeiten des Verfahrens (§ 273 Abs. 1 [X.]); das Schweigen des Protokolls beweist, dass sie nicht stattgefunden haben.

9

Diese Verfahrenstatsachen werden auch nicht dadurch ersetzt, dass das [X.] in den Urteilsgründen ausgeführt hat, den Zeuginnen sei "bewusst und bekannt" gewesen, dass ihre frühere Vernehmung verwertet werden würde ([X.]). Im Hinblick auf den Ausnahmecharakter der Zulässigkeit einer Verwertung früherer Aussagen trotz gegenwärtiger Zeugnisverweigerung wäre es nicht angezeigt, die für diesen Fall von der Rechtsprechung entwickelten strengen Förmlichkeiten aufzuweichen und schon ein allgemeines, vom Tatrichter in den Urteilsgründen dargelegtes "Bewusstsein" des Zeugen von einer Verwertungsmöglichkeit ausreichen zu lassen.

4. Auch die Erklärung des "Einvernehmens" aller Beteiligten ([X.]) mit der Verlesung der Niederschriften der richterlichen Aussagen konnte die Verzichtserklärungen nach qualifizierter Belehrung nicht ersetzen. Eine solche Erklärung gemäß § 251 Abs. 2 Nr. 3 [X.] ist zwar grundsätzlich möglich, wenn durch eine Verzichtserklärung des zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen die Schwelle des § 252 [X.] überwunden und eine Verwertung daher - nach allgemeinen Regeln - zulässig ist. Die Einverständniserklärung nach § 251 Abs. 2 Nr. 3 [X.] kann aber die Erklärung eines Verzichts auf das Verwertungsverbot nach qualifizierter Belehrung nicht ersetzen. Das ergibt sich schon daraus, dass § 251 Abs. 2 Nr. 3 [X.] ein Einverständnis des betroffenen Zeugen nicht voraussetzt. Daher wurde vorliegend über die Verlesung der Vernehmungsprotokolle folgerichtig erst jeweils nach Entlassung der Zeuginnen beraten und entschieden.

5. Das Urteil war auf die Verfahrensrüge insgesamt aufzuheben, so dass es auf die Sachrüge nicht mehr ankommt. Insoweit weist der Senat darauf hin, dass der [X.] zutreffend das Fehlen einer von Tatsachen getragenen Grundlage für die Feststellung der Taten 52 bis 111 zu Lasten der Geschädigten [X.]bemängelt hat. Den Urteilsgründen ist nicht zu entnehmen, dass die Schätzung des [X.]s, es sei zu insgesamt mindestens 60 Taten gekommen, auf einer hinreichenden Tatsachengrundlage beruht.

VRiBGH Dr. Ernemann ist
in den Ruhestand getreten
und daher an der
Unterschriftsleistung gehindert.

        

Fischer     

        

Appl   

Fischer

                                   
        

     Schmitt     

        

Eschelbach     

        

Meta

2 StR 112/12

13.06.2012

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Gera, 10. November 2011, Az: 450 Js 8946/11 - 2 KLs jug

§ 52 StPO, § 251 Abs 2 Nr 3 StPO, § 252 StPO, § 273 Abs 1 StPO, § 344 Abs 2 S 2 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 13.06.2012, Az. 2 StR 112/12 (REWIS RS 2012, 5645)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 5645

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Referenzen
Wird zitiert von

2 StR 202/20

GSSt 1/16

2 StR 656/13

2 StR 656/13

1 StR 20/15

2 StR 112/12

2 StR 419/19

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