Bundesgerichtshof, Beschluss vom 11.03.2020, Az. 4 StR 68/20

4. Strafsenat | REWIS RS 2020, 1711

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Gegenstand

Wiedereinsetzung im Strafverfahren: Unzulässigkeit des Wiedereinsetzungsantrags infolge von Versäumnissen des Pflichtverteidigers


Tenor

1. Der Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des [X.] vom 29. August 2019 wird als unzulässig verworfen.

2. Der Antrag auf Entscheidung des [X.] wird als unbegründet verworfen.

Gründe

I.

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen s[X.]hwerer räuberis[X.]her Erpressung in Tateinheit mit vorsätzli[X.]her Körperverletzung und unerlaubter Veräußerung von Betäubungsmitteln, sowie wegen Nötigung in Tateinheit mit vorsätzli[X.]her Körperverletzung, wegen Diebstahls sowie wegen versu[X.]hten Diebstahls mit Waffen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Es hat ferner eine Einziehungsents[X.]heidung getroffen.

2

Dur[X.]h Bes[X.]hluss vom 11. Dezember 2019 hat das [X.] die re[X.]htzeitig eingelegte Revision des Angeklagten gemäß § 346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen, weil weder er selbst zu Protokoll der Ges[X.]häftsstelle no[X.]h seine Verteidigerin einen Revisionsantrag gestellt oder die Revision begründet haben. Gegen diesen ‒ ihr am 17. Dezember 2019 zugestellten ‒ Bes[X.]hluss hat die Verteidigerin des Angeklagten am 24. Dezember 2019 die Ents[X.]heidung des [X.] gemäß § 346 Abs. 2 StPO beantragt. Sie hat ferner zuglei[X.]h Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Revisionsbegründung beantragt.

II.

3

1. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand na[X.]h Versäumung der Frist zur Begründung der Revision ist unzulässig.

4

a) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist auf Antrag demjenigen zu gewähren, der ohne Vers[X.]hulden gehindert war, eine Frist einzuhalten (§ 44 Satz 1 StPO). Innerhalb der Antragsfrist von einer Wo[X.]he ist die versäumte Handlung na[X.]hzuholen (§ 45 Abs. 2 Satz 2 StPO). Letzteres ist ni[X.]ht erfolgt. Weder das S[X.]hreiben des Angeklagten vom 19. Dezember 2019 no[X.]h der Antrag der Verteidigerin vom 24. Dezember 2019 enthält eine Begründung der Revision in der dur[X.]h § 345 Abs. 2 StPO vorges[X.]hriebenen Form. Eine Revisionsbegründung ist au[X.]h zu einem späteren Zeitpunkt ni[X.]ht vorgelegt worden.

5

b) An der Verwerfung des [X.] ist der Senat ni[X.]ht ausnahmsweise aus dem in Art. 6 Abs. 3 Bu[X.]hst. [X.]) [X.] gewährleisteten Re[X.]ht eines Angeklagten auf tatsä[X.]hli[X.]he und wirksame Verteidigung als besonderer Aspekt des na[X.]h Art. 6 Abs. 1 [X.] garantierten Re[X.]hts auf ein faires Verfahren ([X.], Slg. 1999-I Nr. 27 - Van [X.]/[X.], NJW 1999, 2353) gehindert. Die na[X.]h der Re[X.]htspre[X.]hung des Europäis[X.]hen Geri[X.]htshofs für Mens[X.]henre[X.]hte geforderten Maßnahmen zur Kompensierung des hier vorliegenden Verteidigervers[X.]huldens wurden im vorliegenden Fall ergriffen.

6

aa) Die Verteidigerin hat ni[X.]ht, wie es ihre Pfli[X.]ht gewesen wäre (vgl. [X.], NJW 1983, 2762, 2765; [X.], Bes[X.]hluss vom 18. Januar 2018 - 4 [X.] Rn. 2), die Revision des Angeklagten form- und fristgere[X.]ht begründet und au[X.]h beim Stellen des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Na[X.]hholung dieser versäumten Handlung unterlassen. Dieses Unterlassen gründet ersi[X.]htli[X.]h auf einem fehlerhaften Re[X.]htsverständnis der Verteidigerin über die Wirkung einer Pfli[X.]htverteidigerbestellung. Die Beiordnung als Pfli[X.]htverteidiger endet entgegen der im Wiedereinsetzungsgesu[X.]h geäußerten Auffassung der Verteidigerin ni[X.]ht etwa mit Einlegung der Revision, sondern wirkt über die erste Instanz hinaus für das gesamte Verfahren und erfasst damit au[X.]h die Revisionsbegründung (so ausdrü[X.]kli[X.]h nun § 143 Abs. 1 StPO in der Fassung des Gesetzes zur Neuregelung des Re[X.]hts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019, [X.] 2128); ausgenommen war bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung des Re[X.]hts des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung vom 17. Dezember 2018 ([X.] I, 2018; [X.]) ledigli[X.]h die Revisionshauptverhandlung (zur früheren Re[X.]htslage: [X.] in [X.], 8. Aufl., § 141 StPO Rn. 10).

7

bb) Versäumnisse eines Pfli[X.]htverteidigers können dem Staat allerdings nur ausnahmsweise angelastet werden, da die Führung der Verteidigung Sa[X.]he des Angeklagten und seines Verteidigers ist, einerlei ob er staatli[X.]h bestellt oder vom Mandanten ausgewählt und bezahlt wird. Für Behörden und Geri[X.]hte besteht eine Verpfli[X.]htung zum Eingreifen nur, wenn das Versagen eines Pfli[X.]htverteidigers offenkundig ist oder wenn sie davon unterri[X.]htet werden ([X.], Urteil vom 10. Oktober 2002 - 38830/97 - [X.]/[X.], NJW 2003, 1229; [X.], Urteil vom 22. März 2007 - 59519/00 ‒ Starosz[X.]zyk/[X.], NJW 2008, 2317). So ist das Geri[X.]ht an der Verwerfung eines Re[X.]htsmittels nur gehindert und zum Eingreifen verpfli[X.]htet, wenn die eindeutige Missa[X.]htung einer reinen Formvors[X.]hrift dur[X.]h den Pfli[X.]htverteidiger zur Folge hat, dass dem Betroffenen ein ihm an si[X.]h zustehendes Re[X.]htsmittel genommen wird, ohne dass dies von einem höherrangigen Geri[X.]ht bereinigt wird. Ein derartiges „offenkundiges Versagen“ ma[X.]ht na[X.]h Auffassung des Europäis[X.]hen Geri[X.]htshofs für Mens[X.]henre[X.]hte „positive Maßnahme seitens der zuständigen Behörden“ erforderli[X.]h, wozu beispielsweise die Aufforderung an die Pfli[X.]htverteidigerin gehört, ihren S[X.]hriftsatz zu ergänzen oder zu beri[X.]htigen ([X.], Urteil vom 10. Oktober 2002 - 38830/97 ‒ [X.]/[X.], NJW 2003, 1229, 1230).

8

[X.][X.]) Letzteren Anforderungen genügt der Verfahrensgang. Dabei kann dahinstehen, ob es si[X.]h bei der von § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO ausdrü[X.]kli[X.]h geforderten Na[X.]hholung der Revisionsbegründung als Zulässigkeitsvoraussetzung für die Wiedereinsetzung um eine „reine Formvors[X.]hrift“ im Sinne der Re[X.]htspre[X.]hung des Europäis[X.]hen Geri[X.]htshofs für Mens[X.]henre[X.]hte handelt. Jedenfalls ist dem Erfordernis einer positiven Maßnahme dur[X.]h die zuständige Behörde zur Beseitigung des „Versagens“ vorliegend Genüge getan: Die der Verteidigerin und dem Angeklagten zugestellte Zus[X.]hrift des [X.] vom 7. Februar 2020 weist eindeutig auf das Fehlen der Revisionsbegründung als ‒ einzigem ‒ Hindernis für die Zulässigkeit des [X.] hin. Die erforderli[X.]hen Reaktionen hierauf sind ni[X.]ht erfolgt.

9

dd) Es liegt au[X.]h keine Häufung außerordentli[X.]her Umstände vor, die eine darüber hinaus gehende Flexibilität in der Re[X.]htsgewährung fordert, um si[X.]herzustellen, dass der Zugang zum Geri[X.]ht ni[X.]ht konventionswidrig einges[X.]hränkt wird ([X.], Urteil vom 1. September 2016 - 24062/13 - Mar[X.] Brauer/Deuts[X.]hland, NVwZ 2018, 635, 637). Denn anders als in dem vom Europäis[X.]hen Geri[X.]htshof für Mens[X.]henre[X.]hte ents[X.]hiedenen Fall ist der Angeklagte hier ni[X.]ht psy[X.]his[X.]h krank und au[X.]h ni[X.]ht in einer persönli[X.]h s[X.]hwierigen Lage, die dur[X.]h die Unterbringung in einem psy[X.]hiatris[X.]hen Krankenhaus und Postzustellungsprobleme gekennzei[X.]hnet war. Vorliegend befindet si[X.]h der Angeklagte in Untersu[X.]hungshaft und ist ersi[X.]htli[X.]h zur Kommunikation mit Justizbehörden in der Lage, was sein S[X.]hreiben vom 19. Dezember 2019 als Reaktion auf die Zustellung des Bes[X.]hlusses gemäß § 346 Abs. 1 StPO belegt.

2. Der fristgere[X.]hte Antrag auf Ents[X.]heidung des [X.] gemäß § 346 Abs. 2 StPO ist zwar zulässig, aber ni[X.]ht begründet. Da [X.] ni[X.]ht gestellt worden sind und die Revision entgegen § 344 Abs. 1 StPO ni[X.]ht begründet worden ist, hat sie das [X.] zu Re[X.]ht gemäß § 346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen.

Sost-S[X.]heible     

        

Ri[X.] [X.] ist erkrankt
und daher gehindert zu
unters[X.]hreiben.

        

Quentin

                 

Sost-S[X.]heible

                 
        

Bartel     

        

     Rommel     

        

Meta

4 StR 68/20

11.03.2020

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Bielefeld, 29. August 2019, Az: 20 KLs 8/19

Art 6 Abs 3 Buchst c MRK, § 44 S 1 StPO, § 45 Abs 2 S 2 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 11.03.2020, Az. 4 StR 68/20 (REWIS RS 2020, 1711)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 1711

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

2 StR 299/20

1 StR 33/22

Zitiert

4 StR 610/17

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