Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 20.10.2011, Az. 2 B 61/10

2. Senat | REWIS RS 2011, 2138

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Gegenstand

Schwere des Dienstvergehens; Beweisantrag zur Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage einer krankhaften seelischen Störung


Gründe

1

[X.]ie Beschwerde des [X.]n hat mit der Maßgabe Erfolg, dass die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO und § 67 Satz 1 [X.] NRW an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist. [X.]as Berufungsurteil beruht auf einem vom [X.]n geltend gemachten Verstoß gegen die aus § 57 Abs. 1 Satz 1 [X.] NRW folgende Pflicht zur umfassenden Erforschung des entscheidungserheblichen Sachverhalts.

2

[X.]er 1962 geborene [X.] steht als Brandmeister im [X.]ienst der [X.]n und wird auch als Rettungsassistent eingesetzt. [X.]er [X.] ist wegen Urkundenfälschung in Tateinheit mit Betrug sowie wegen Entziehung elektrischer Energie strafrechtlich vorbelastet. Wegen des Vorfalls, der den Gegenstand des [X.]isziplinarverfahrens bildet, wurde der [X.] wegen [X.]iebstahls zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten verurteilt. [X.]er [X.] hatte im Jahr 2006 einem stark alkoholisierten und bewusstlosen Patienten auf der Fahrt im Rettungswagen 50 € entwendet, um diese für sich zu behalten. Erst nach Aufforderung durch den Fahrer des Rettungswagens, der den [X.]n bei der Tat beobachtet und anschließend zur Rede gestellt hatte, gab der [X.] das Geld zurück. Im [X.]isziplinarverfahren hat das Verwaltungsgericht den [X.]n aus dem [X.]ienst entfernt. [X.]as Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des [X.]n zurückgewiesen.

3

1. [X.]ie Revision ist nicht wegen der vom Beteiligten geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und § 67 Satz 1 [X.] NRW).

4

In der Rechtsprechung ist zum einen anerkannt, dass die Anwendung des Milderungsgrundes der Geringwertigkeit der entwendeten Sache auch voraussetzt, dass durch das [X.]ienstvergehen keine weiteren wichtigen öffentlichen oder privaten Interessen verletzt sind und der Beamte nicht durch sein sonstiges Verhalten oder durch die konkrete Tatausführung zusätzlich belastet ist (Urteil vom 11. Juni 2002 - [X.] 1 [X.] 31.01 - [X.]E 116, 308 <311> = [X.] 232 § 54 Satz 2 [X.] Nr. 28). Zum anderen ist geklärt, dass das Verwaltungsgericht gegen die [X.] nach § 13 Abs. 2 [X.] NRW und auch gegen das verfassungsrechtlich fundierte Schuldprinzip verstößt, wenn es ohne Sachaufklärung zu Gunsten des Beamten davon ausgeht, dessen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit sei im Zeitpunkt der Tat im Sinne des § 21 StGB vermindert gewesen, die Erheblichkeit dieser Annahme jedoch im Hinblick auf die Einsehbarkeit der betreffenden Pflicht verneint. Vielmehr haben die Verwaltungsgerichte für die von ihnen zu treffende Bemessungsentscheidung die Frage einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit des Beamten bei der Tat im Sinne des § 21 StGB aufzuklären, wenn entsprechende Anhaltspunkte vorliegen. [X.]ie Frage, ob der Beamte im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit im Sinne von §§ 20 und 21 StGB gehandelt hat, darf nicht quasi schematisch als unbeachtlich behandelt werden (Urteile vom 29. Mai 2008 - [X.] 2 [X.] 59.07 - [X.] 235.1 § 70 B[X.]G Nr. 3 S. 3 und vom 25. März 2010 - [X.] 2 [X.] 83.08 - [X.]E 136, 173 = [X.] 235.1 § 13 B[X.]G Nr. 11 jeweils Rn. 31 m.w.N.). Einen darüber hinausgehenden Klärungsbedarf zeigt der [X.] in seiner Beschwerde nicht auf.

5

2. [X.]ie Revision ist auch nicht wegen [X.]ivergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO und § 67 Satz 1 [X.] NRW) zuzulassen. Eine die Revision eröffnende [X.]ivergenz ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des [X.] aufgestellten ebensolchen die Entscheidung des [X.] tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (vgl. [X.], Beschluss vom 21. Juni 1995 - [X.] 8 [X.] - [X.] 310 § 133 VwGO Nr. 18). [X.]as Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen, die das [X.] in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt weder den Zulässigkeitsanforderungen einer [X.]ivergenz- noch denen einer Grundsatzrüge (vgl. [X.], Beschluss vom 17. Januar 1995 - [X.] 6 [X.] - [X.] 421.0 Prüfungswesen Nr. 342 ).

6

Nach diesen Grundsätzen ist eine [X.]ivergenz nicht dargelegt. [X.]as Oberverwaltungsgericht hat in seinem Urteil nicht entgegen dem Urteil des [X.] vom 20. Oktober 2005 (- [X.] 2 [X.] 12.04 - [X.]E 124, 252 = [X.] 235.1 § 13 B[X.]G Nr. 1) den Rechtssatz aufgestellt, das für die Bemessungsentscheidung bedeutsame Persönlichkeitsbild des betroffenen Beamten sei allein anhand einer einzelnen strafrechtlichen Verurteilung zu bestimmen und andere Umstände, wie etwa die persönlichen Verhältnisse und das sonstige dienstliche Verhalten des Beamten, seien irrelevant. Auch hat das Oberverwaltungsgericht in seinem Urteil keine allgemeinen Rechtssätze aufgestellt, die denen des Senats in seinem Urteil vom 25. März 2010 (- [X.] 2 [X.] 83.08 - a.a.O.) zur Anwendung des Grundsatzes "in dubio pro reo" und zur Pflicht des Verwaltungsgerichts zur Aufklärung des Sachverhalts hinsichtlich einer möglichen Verminderung der Schuldfähigkeit des Beamten zum Tatzeitpunkt widersprechen. Insbesondere ist das Oberverwaltungsgericht nicht rechtssatzmäßig davon ausgegangen, für die Bemessungsentscheidung stelle sich die Frage nach der Erheblichkeit einer krankhaften Störung von vornherein nicht, weil ihr Vorliegen an sich generell unerheblich sei.

7

3. Begründet ist jedoch die Verfahrensrüge des Verstoßes gegen die aus § 57 Abs. 1 Satz 1 [X.] NRW folgende Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO und § 67 Satz 1 [X.] NRW). [X.]as Oberverwaltungsgericht durfte den in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag zur Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Erkrankung des [X.]n nicht mit der Begründung ablehnen, der Beweisantrag sei unerheblich.

8

Nach § 57 Abs. 1 Satz 1 [X.] NRW erhebt das Gericht die erforderlichen Beweise. [X.]en [X.] obliegt danach die Pflicht, jede mögliche Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts bis zur Grenze der Zumutbarkeit zu versuchen, sofern dies für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich ist (vgl. Urteile vom 6. Februar 1985 - [X.] 8 [X.] 15.84 - [X.]E 71, 38 <41> und vom 6. Oktober 1987 - [X.] 9 [X.] 12.87 - [X.] 310 § 98 VwGO Nr. 31 S. 1).

9

Bestehen tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass die Schuldfähigkeit des Beamten bei Begehung der Tat gemindert war, so darf das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Bemessungsentscheidung diesen Aspekt nicht offen lassen oder zu Gunsten des Betroffenen unterstellen und sogleich auf die Einsehbarkeit der betreffenden Pflicht abstellen. Vielmehr muss es die Frage einer Minderung der Schuldfähigkeit des Beamten aufklären. Hat der Beamte zum Tatzeitpunkt an einer krankhaften seelischen Störung im Sinne von § 20 StGB gelitten oder sollte eine solche Störung nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" nicht ausgeschlossen werden können und ist die Verminderung der Schuldfähigkeit des Beamten erheblich, so ist dieser Umstand bei der Bewertung der Schwere des [X.]ienstvergehens mit dem ihm zukommenden erheblichen Gewicht heranzuziehen. Bei einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit wird die [X.] regelmäßig nicht mehr ausgesprochen werden können (Urteil vom 25. März 2010 - [X.] 2 [X.] 83.08 - [X.]E 136, 173 = [X.] 235.1 § 13 B[X.]G Nr. 11 jeweils Rn. 29 ff.).

Hierzu muss geklärt werden, ob der Beamte im Tatzeitraum an einer Krankheit gelitten hat, die seine Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, vermindert hat, und welchen Umfang diese Minderung hat. Aufgrund des Vorbringens des [X.]n im Berufungsverfahren bestand für das Oberverwaltungsgericht auch hinreichender Anlass, der entscheidungserheblichen Frage der Verminderung der Schuldfähigkeit des [X.]n zum Tatzeitpunkt nachzugehen. [X.]er [X.] hatte das Attest des ihn behandelnden Arztes vom 4. Mai 2010 vorgelegt. In diesem wurde auf ein bisher nicht erkanntes schweres Schlafapnoesyndrom sowie auf die beim [X.]n diagnostizierte depressive Grunderkrankung hingewiesen, die auch zu kognitiven [X.]efiziten führt. Zugleich wurde eine weitere Aufklärung für erforderlich gehalten. Zudem hat der [X.] in der Berufungsverhandlung den unbedingten Beweisantrag gestellt, ein Sachverständigengutachten zur Frage einzuholen, ob bei ihm eine schwere chronische Schlafstörung vorliegt und ob diese zu Störungen des Bewusstseins in Form von Verhaltensaussetzern und Kontrollverlusten führt.

Von einem Eingehen auf die weitere Verfahrensrüge des [X.]n kann abgesehen werden (§ 133 Abs. 5 Satz 2 VwGO).

Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des [X.] die Lösung von Tatsachenfeststellungen des rechtskräftigen Strafurteils auch dann in Betracht kommt, wenn neue Beweismittel vorgelegt werden, die dem Strafgericht nicht zur Verfügung standen, und nach denen die Tatsachenfeststellungen jedenfalls auf erhebliche Zweifel stoßen (Urteile vom 29. November 2000 - [X.] 1 [X.] 13.99 - [X.]E 112, 243 <245> und vom 16. März 2004 - [X.] 1 [X.] 15.03 - [X.] 232 § 54 Satz 3 [X.] Nr. 36; Beschluss vom 24. Juli 2007 - [X.] 2 [X.] - [X.] 235.2 L[X.]isziplinarG Nr. 4 Rn. 11).

Meta

2 B 61/10

20.10.2011

Bundesverwaltungsgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 5. Mai 2010, Az: 3d A 2363/09.O, Urteil

§ 57 Abs 1 S 1 DG NW 2004, § 20 StGB, § 21 StGB, § 13 Abs 2 DG NW 2004

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 20.10.2011, Az. 2 B 61/10 (REWIS RS 2011, 2138)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 2138

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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16b D 14.2351

16b D 13.993

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