Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 10.12.2013, Az. 1 C 1/13

1. Senat | REWIS RS 2013, 464

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Gegenstand

Sprungrevision; Zustimmungserklärung der Beteiligten im Sitzungsprotokoll; eheunabhängiger Aufenthaltstitel; Dauer der ehelichen Lebensgemeinschaft; Rechtsänderung


Leitsatz

1. Bei der Sprungrevision muss der Revisionsschrift eine beglaubigte Niederschrift der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht nicht beigefügt werden, wenn die Zustimmung der Beteiligten zur Einlegung der Sprungrevision in der Sitzung zu Protokoll erklärt worden ist.

2. Für einen nach Inkrafttreten der Neufassung des § 31 Abs. 1 AufenthG (juris: AufenthG 2004) am 1. Juli 2011 gestellten Antrag auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift ist die Neufassung des § 31 AufenthG maßgeblich, auch wenn die eheliche Lebensgemeinschaft nach mehr als zwei-, aber weniger als dreijähriger Dauer vor der Rechtsänderung beendet worden ist.

Tatbestand

1

Der 1979 geborene Kläger ist [X.] Staatsangehöriger. Er reiste im August 2000 mit einem Visum für ein Studium nach [X.] ein und war in der Folgezeit an der [X.] immatrikuliert. Im März 2009 heiratete er eine [X.] Staatsangehörige und erhielt deshalb eine bis zum 12. Mai 2012 befristete Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug. Nach den Feststellungen des [X.] trennten sich die Eheleute im Mai 2011.

2

Im September 2011 beantragte der Kläger die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis gemäß § 31 Abs. 1 [X.] in der bis zum 30. Juni 2011 geltenden Fassung. Nach dieser Fassung setzte ein Anspruch nach § 31 Abs. 1 [X.] eine Mindestbestandsdauer der ehelichen Lebensgemeinschaft von zwei Jahren voraus. Die Beklagte lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 4. Mai 2012 ab, forderte den Kläger zur Ausreise bis zum 30. September 2012 auf und drohte ihm für den Fall der Nichtausreise die Abschiebung nach [X.] an. Dabei stützte sie sich auf § 31 Abs. 1 [X.] in der seit dem 1. Juli 2011 geltenden Fassung, wonach eine Mindestbestandsdauer der ehelichen Lebensgemeinschaft von drei Jahren erforderlich ist.

3

Das Verwaltungsgericht wies die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage durch Urteil vom 14. Dezember 2012 ab. Es legte seiner Entscheidung die Neufassung des § 31 Abs. 1 Satz 1 [X.] zu Grunde. Der Anspruch entstehe erst in dem Zeitpunkt, in dem alle hierfür notwendigen Voraussetzungen vorlägen; dazu gehöre auch die Beantragung des Aufenthaltstitels. Da der Kläger den Antrag erst nach der Rechtsänderung gestellt habe, sei für sein Begehren die Neufassung des § 31 [X.] maßgeblich. Der Anwendung dieser Fassung stehe auch nicht der Grundsatz des Vertrauensschutzes entgegen, da verfassungsrechtlich schutzwürdig nur ein betätigtes Vertrauen sei. Die nach § 59 [X.] zu beurteilende Abschiebungsandrohung sei rechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden.

4

Mit der Sprungrevision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Der Antrag auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 [X.] sei lediglich ein verfahrenstechnischer Vorgang und keine materielle Anspruchsvoraussetzung. Die Anwendung des § 31 [X.] alter Fassung sei zur Vermeidung einer im vorliegenden Fall verfassungswidrigen unechten Rückwirkung geboten. Die Adressaten des Gesetzes hätten darauf vertrauen dürfen, dass für diejenigen, die vor dem Inkrafttreten der Neuregelung bereits eine zweijährige Bestandsdauer der ehelichen Lebensgemeinschaft aufzuweisen hatten, eine Übergangsvorschrift geschaffen würde und altes Recht maßgeblich bleibe. Die Neuregelung sei zudem vorwiegend zur Eindämmung von Zwangsverheiratungen erfolgt, was den Kläger nicht betreffe. Außerdem liege ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor, weil jemand, der mehr als zwei Jahre an der Ehe festgehalten habe, gegenüber demjenigen benachteiligt werde, der kurz nach dem Ende einer zweijährigen Ehebestandszeit einen Antrag auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht gestellt habe.

5

Die Beklagte ist der Auffassung, der Entscheidung sei § 31 Abs. 1 [X.] in der Neufassung zu Grunde zu legen. Es liege lediglich eine zulässige unechte Rückwirkung vor. Dem Gesetzgeber stehe es zu, die Mindestbestandszeit der ehelichen Lebensgemeinschaft zu ändern. Anhaltspunkte dafür, dass eine Mindestbestandszeit von drei Jahren unverhältnismäßig sei, gebe es nicht.

Entscheidungsgründe

6

Die Revision des [X.] ist unbegründet. Die Abweisung der Klage auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 3 Satz 1, § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.] durch das Verwaltungsgericht verstößt nicht gegen revisibles Recht. Es ist insbesondere nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung die seit dem 1. Juli 2011 geltende neue Fassung des § 31 Abs. 1 [X.] zu Grunde gelegt hat.

7

1. Die Sprungrevision des [X.] ist zulässig. Insbesondere sind die sich aus § 134 Abs. 1 VwGO ergebenden Formerfordernisse gewahrt.

8

Nach § 134 Abs. 1 VwGO steht den Beteiligten gegen das Urteil eines [X.] die Sprungrevision zu, wenn der Kläger und der Beklagte der Einlegung der Sprungrevision schriftlich zustimmen und wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen wird; die Zustimmung muss der Revisionsschrift bzw. dem Antrag auf Zulassung der Sprungrevision beigefügt werden. Es reicht nicht aus, dass Kläger und Beklagter in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht lediglich die Zulassung der Sprungrevision beantragen bzw. sich einem solchen Antrag des anderen Verfahrensbeteiligten anschließen. Denn wegen des mit der Sprungrevision verbundenen Verlusts einer Tatsacheninstanz und der Bindung des [X.] an die Tatsachenfeststellungen des [X.] ohne die Möglichkeit einer Verfahrensrüge muss die Zustimmung zur Einlegung der Sprungrevision eindeutig formuliert sein; die Zustimmung zur Zulassung dieses Rechtsmittels ist einer Auslegung als Zustimmung zu seiner Einlegung regelmäßig nicht zugänglich (Beschlüsse vom 25. November 1992 - BVerwG 4 [X.] 16.92 - [X.] 310 § 134 VwGO Nr. 40 = NVwZ-RR 1993, 219; vom 11. Februar 1997 - BVerwG 8 [X.] 4.97 - juris und vom 8. März 2002 - BVerwG 5 [X.] 54.01 - juris). Andererseits reicht es aus, wenn die Zustimmung zur Einlegung der Sprungrevision in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll erklärt wird (Urteile vom 18. Juni 1962 - BVerwG 5 [X.] 92.61 - BVerwGE 14, 259 = [X.] 310 § 134 VwGO Nr. 3 und vom 7. Juni 2001 - BVerwG 4 [X.] 1.01 - [X.] 310 § 134 VwGO Nr. 49 S. 2; Beschluss vom 25. August 1989 - BVerwG 8 [X.] 61.89 - juris). Zwar entspricht dies nicht dem gesetzlichen Leitbild, das eine Entscheidung über die Einlegung der Sprungrevision erst nach Erlass und in Kenntnis des Urteils vorsieht. Doch ist auch bei Abgabe der Zustimmungserklärung bereits in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht der Übereilungsschutz sichergestellt. Ist die Zustimmung zur Einlegung der Sprungrevision zu Protokoll erklärt worden, sollte der Revisionsschrift eine beglaubigte Niederschrift über die Sitzung beigefügt werden. Zwingend erforderlich ist dies jedoch nicht, weil das Verwaltungsgericht dem Revisionsgericht die Akten und mit ihnen das Original des Protokolls vorlegt; damit ist sichergestellt, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Zulässigkeit der Sprungrevision nach Eingang der Akten ohne Weiteres zu prüfen (Urteile vom 7. Juni 2001 a.a.[X.] und vom 4. September 2008 - BVerwG 5 [X.] 30.07 - BVerwGE 132, 10 = [X.] 436.36 § 28 [X.] Nr. 2 jeweils Rn. 11).

9

2. Die Revision ist jedoch nicht begründet. Ihr Streitgegenstand umfasst den Antrag auf Verlängerung der dem Kläger nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.] erteilten Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 3 Satz 1, § 31 Abs. 1 und 4 [X.] (dazu 2.1). Diese Vorschriften sind nicht in der bis zum 30. Juni 2011 geltenden, sondern in ihrer aktuellen Fassung anzuwenden (dazu 2.2). Der Kläger erfüllt allerdings die Anforderungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach diesen Vorschriften in ihrer maßgeblichen Fassung nicht (dazu 2.3).

2.1 Der Kläger macht einen Anspruch auf Verlängerung der ihm gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.] erteilten Aufenthaltserlaubnis als eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 31 [X.] geltend. Eine Auslegung dieses Begehrens ergibt, dass dieser Anspruch jedenfalls die Verlängerung um ein Jahr bis zum 12. Mai 2013 gemäß § 31 Abs. 1 [X.] umfasst. Nicht von seinem Antrag umfasst und damit auch nicht Teil des [X.] sind hingegen Aufenthaltstitel nach § 9a und § 25 Abs. 5 [X.]. Das Begehren des [X.], den Aufenthalt in [X.] nach der Trennung von seiner Ehefrau dauerhaft zu sichern, erstreckt sich nach der Formulierung des Antrags nicht auf andere [X.] als denjenigen des § 31 [X.]. Denn der anwaltlich vertretene Kläger hat seinen Antrag ausdrücklich auf § 31 [X.] beschränkt und sein Vorbringen im Verwaltungs- und Klageverfahren ausschließlich auf diesen Aufenthaltszweck bezogen, während er zu den tatbestandlichen Voraussetzungen einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt - [X.] (§ 9a Abs. 2 [X.]) oder eines humanitären Aufenthaltstitels nichts vorgetragen hat.

2.2 § 31 [X.] ist nicht in der bis zum 30. Juni 2011 geltenden, sondern in der durch Gesetz vom 29. August 2013 geänderten Fassung anzuwenden.

Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der Verpflichtungsklage auf Erteilung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich der [X.]punkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz (stRspr, Urteil vom 7. April 2009 - BVerwG 1 [X.] 17.08 - BVerwGE 133, 329 = [X.] 402.242 § 32 [X.] Nr. 4 jeweils Rn. 10). Während des Revisionsverfahrens eingetretene Rechtsänderungen sind allerdings zu berücksichtigen, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des [X.] - sie zu berücksichtigen hätte (stRspr, Urteil vom 10. Juli 2012 - BVerwG 1 [X.] 19.11 - BVerwGE 143, 277 = [X.] 402.242 § 11 [X.] Nr. 9 jeweils Rn. 12 m.w.[X.]). Etwas anderes gilt, wenn besondere Gründe des anzuwendenden materiellen Rechts es gebieten, auf einen früheren [X.]punkt abzustellen (Urteil vom 9. Juni 2009 - BVerwG 1 [X.] 11.08 - BVerwGE 134, 124 = [X.] 402.242 § 7 [X.] Nr. 3 jeweils Rn. 19).

Danach ist der Entscheidung im vorliegenden Fall das [X.] in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 ([X.]), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von international Schutzberechtigten und ausländischen Arbeitnehmern vom 29. August 2013 ([X.], [X.] n.F.), zu Grunde zu legen. Diese Fassung ist in dem hier maßgeblichen Punkt - Erforderlichkeit einer drei- und nicht mehr nur zweijährigen Ehebestandsdauer - mit der am 1. Juli 2011 in [X.] getretenen Gesetzesfassung identisch und seitdem in diesem Punkt nicht geändert worden. Gründe des materiellen Rechts, die die Maßgeblichkeit der bis zum 30. Juni 2011 geltenden Gesetzesfassung ([X.] a.F.) begründen könnten, sind nicht gegeben. Die seit dem 1. Juli 2011 geltende Neufassung des Gesetzes erfasst vielmehr mangels einer Übergangsregelung grundsätzlich auch Altfälle, die bei ihrem Inkrafttreten noch nicht entschieden waren. Weder die Gesetzessystematik (dazu 2.2.1) noch das Rechtsstaatsprinzip (dazu 2.2.2) oder Art. 6 GG (dazu 2.2.3) erzwingen die Anwendung der alten Fassung des [X.]es.

2.2.1 Die Systematik des Gesetzes gibt keinen Anlass zur Anwendung alten Rechts. Der Anspruch auf den eheunabhängigen Titel nach § 31 [X.] entsteht nicht bereits mit der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft, die nach den Feststellungen des [X.] vor der Rechtsänderung erfolgte, sondern frühestens mit dem Ablauf des eheabhängigen Aufenthaltstitels nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.] (Urteil vom 16. Juni 2004 - BVerwG 1 [X.] 20.03 - BVerwGE 121, 86 <88 ff.> = [X.] 402.240 § 19 AuslG Nr. 10 S. 4 ff., noch zu § 19 AuslG 1990) und damit im vorliegenden Fall am 13. Mai 2012. Im Übrigen ist er gemäß § 81 Abs. 1 [X.] von einer vorherigen Antragstellung abhängig. Dies liegt im Interesse des Ausländers, dem für den Übergang von einem eheabhängigen zu einem eheunabhängigen Aufenthaltstitel als Reaktion auf die Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaft bei der Wahl des [X.]punkts der Antragstellung ein gewisser Gestaltungsspielraum offensteht.

2.2.2 Das aus den rechtsstaatlichen Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit abzuleitende verfassungsrechtliche Verbot einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen ("echte Rückwirkung") steht der Anwendung des seit dem 1. Juli 2011 geltenden Rechts nicht entgegen, weil § 31 Abs. 1 [X.] n.F. im vorliegenden Fall keine echte Rückwirkung entfaltet. Eine grundsätzlich unzulässige echte Rückwirkung liegt vor, wenn ein Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Sachverhalte eingreift. Dies ist der Fall, wenn für einen solchen Sachverhalt nachträglich andere - nachteiligere - Rechtsfolgen gelten als nach dem zuvor geltenden Recht ([X.], Urteil vom 23. November 1999 - 1 [X.] - [X.]E 101, 239 <263 f.>; Beschluss vom 2. Mai 2010 - 2 BvL 5/10 - [X.]E 131, 20 <39>), etwa wenn ein bereits entstandenes Aufenthaltsrecht nachträglich wegfiele, so dass der betroffene [X.]raum als [X.] eines nicht rechtmäßigen Aufenthalts zu behandeln wäre. Eine solche Rückbewirkung von Rechtsfolgen ist im vorliegenden Fall jedoch nicht gegeben. Bei Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Mai 2011 verfügte der Kläger über einen eheabhängigen Aufenthaltstitel mit einer Geltungsdauer bis Mai 2012. Im Hinblick darauf, dass die Beklagte eine nachträgliche Verkürzung dieser Geltungsdauer (§ 7 Abs. 2 Satz 2 [X.]) nicht vorgenommen und der Kläger eine solche auch nie beantragt hat, konnte sich das Aufenthaltsrecht des [X.] erst nach Ablauf dieses Titels in ein eheunabhängiges nach § 31 [X.] umwandeln, so dass der Sachverhalt bei Inkrafttreten des § 31 [X.] n.F. am 1. Juli 2011 noch nicht abgeschlossen war. Hinzu kommt, dass der Kläger den nach § 81 Abs. 1 [X.] erforderlichen Antrag auf Verlängerung des eheabhängigen Aufenthaltstitels als eheunabhängig erst im September 2011 gestellt hat; vor Antragstellung bestand mithin für die Beklagte weder die Möglichkeit noch die Erforderlichkeit, über einen denkbaren Anspruch auf Verlängerung der bestehenden Aufenthaltserlaubnis zu entscheiden.

Auch unter dem Gesichtspunkt einer tatbestandlichen Rückanknüpfung ("unechte Rückwirkung") ist im vorliegenden Fall die Anwendung des bis zum 30. Juni 2011 geltenden Rechts nicht geboten. Eine unechte Rückwirkung ist gegeben, wenn eine Norm auf noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und die betroffenen Rechtsbeziehungen dabei nachteiliger bewertet als das zuvor geltende Recht. Grundsätzlich ist eine derartige unechte Rückwirkung zulässig, weil die Gewährung vollständigen Schutzes gegen die Veränderung der bestehenden Rechtslage den dem Gemeinwohl verpflichteten Gesetzgeber lähmen und den Konflikt zwischen der Verlässlichkeit der Rechtsordnung und der Notwendigkeit ihrer Änderung im Hinblick auf einen Wandel der Lebensverhältnisse in nicht mehr vertretbarer Weise zu Lasten der Anpassungsfähigkeit der Rechtsordnung lösen würde ([X.], Beschluss vom 2. Mai 2010 a.a.[X.] <39 f.>). Aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes und aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip können sich allerdings Grenzen der Zulässigkeit einer unechten Rückwirkung ergeben. Diese sind jedoch erst überschritten, wenn die vom Gesetzgeber angeordnete unechte Rückwirkung zur Erreichung des Gesetzeszwecks ungeeignet oder nicht erforderlich ist oder wenn die Bestandsinteressen der Betroffenen die Veränderungsgründe des Gesetzgebers überwiegen ([X.], Urteil vom 23. November 1999 a.a.[X.] <263>). Die bloß allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde zukünftig unverändert fortbestehen, genießt im Übrigen keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz.

§ 31 [X.] n.F. entfaltet im vorliegenden Fall zwar unechte Rückwirkung, weil er die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Verlängerung des eheabhängigen Aufenthaltsrechts als eheunabhängiges gegenüber § 31 [X.] a.F. - dreijährige statt einer nur zweijährigen Bestandsdauer der ehelichen Lebensgemeinschaft - verschärft. Weder der Grundsatz des Vertrauensschutzes noch das Verhältnismäßigkeitsprinzip stehen dem jedoch entgegen. Der Kläger als Ehegatte einer [X.] Staatsangehörigen konnte nicht davon ausgehen, dass ein nach bisheriger Rechtslage möglicherweise bestehender Anspruch auf ein eheunabhängiges Aufenthaltsrecht keinen nachträglichen gesetzlichen Einschränkungen unterworfen wird. Vielmehr war die ohne Übergangsvorschrift eintretende Geltung der Neuregelung geeignet und erforderlich, das gesetzgeberische Ziel, ausländerrechtliche Zweckehen zu erkennen, ihre Attraktivität zu vermindern und sie damit zurückzudrängen, so rasch und so umfassend wie möglich zu erreichen. Etwaigen Härten sowie der Gefahr unverhältnismäßiger Ergebnisse in Einzelfällen ist der Gesetzgeber durch die Ausnahmevorschrift des § 31 Abs. 2 [X.] begegnet (vgl. zu einer vergleichbaren Konstellation: Urteil vom 30. März 2010 - BVerwG 1 [X.] 8.09 - BVerwGE 136, 231 = [X.] 402.242 § 30 [X.] Nr. 2 jeweils Rn. 68 f.). Im Übrigen bewahrt der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz nicht vor jeder Enttäuschung; verfassungsrechtlich schutzwürdig ist nur ein betätigtes Vertrauen, d.h. eine "Vertrauensinvestition", die zur Erlangung einer Rechtsposition oder zu entsprechenden anderen Dispositionen geführt hat ([X.], [X.] vom 12. September 2007 - 1 BvR 58/06 - juris Rn. 20 mit Verweis auf Urteil vom 16. Juli 1985 - 1 BvL 5/80 u.a. - [X.]E 69, 272 <309> und Beschluss vom 5. Mai 1987 - 1 BvR 724/81 u.a. - [X.]E 75, 246 <280>). Für einen Eingriff in eine solche rechtlich geschützte Rechtsposition ist hier weder etwas vorgetragen noch ersichtlich, zumal der Kläger die Möglichkeit nicht genutzt hat, nach der Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaft einen Antrag auf Verlängerung seines Aufenthaltstitels nach § 31 [X.] unter gleichzeitiger nachträglicher Befristung des ihm nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.] erteilten Titels - noch vor Inkrafttreten der Neuregelung - zu stellen. Vielmehr hat er sich dafür entschieden, trotz der Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaft das Verfahren zur Änderung seines [X.] noch nicht einzuleiten, sondern es zunächst bei dem ihm erteilten eheabhängigen Aufenthaltstitel zu belassen.

2.2.3 Im Ergebnis nichts anderes ergibt sich aus Art. 6 Abs. 1 GG. Die Vorschrift schützt als wertentscheidende [X.] die gelebte eheliche [X.] umfassend und ist deshalb nicht nur als Abwehrrecht und Diskriminierungsverbot zu verstehen, sondern auch als das Gebot, Ehe und Familie durch geeignete Maßnahmen zu fördern und vor Beeinträchtigungen zu schützen (stRspr, [X.], Urteil vom 7. Juli 1992 - 1 BvL 51/86 u.a. - [X.]E 87, 1 <35 f.> m.w.[X.], [X.] vom 5. Juni 2013 - 2 BvR 586/13 - NVwZ 2013, 1207 <1208>). Auch wenn Art. 6 Abs. 1 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt gewährt (vgl. [X.], [X.] vom 11. Mai 2007 - 2 BvR 2483/06 - NVwZ 2007, 1302), so könnte eine Auslegung oder Handhabung aufenthaltsrechtlicher Vorschriften jedenfalls dann problematisch sein, wenn sie einem Ausländer einen Anreiz zur Auflösung einer - noch - bestehenden ehelichen [X.] geben könnte, etwa um einen eheunabhängigen Aufenthaltstitel noch vor dem Inkrafttreten einer insoweit nachteiligen Rechtsänderung zu erwirken.

Ein derartiger Anreiz zur übereilten Aufhebung einer ehelichen Lebensgemeinschaft war mit der übergangslosen Neuregelung des § 31 Abs. 1 [X.] indes nicht verbunden. Denn etwaige sich aus der Verlängerung der [X.] in Einzelfällen ergebende Härten sind nach der Systematik des § 31 [X.] über die Absehensregelung nach § 31 Abs. 2 [X.] zu berücksichtigen, bei deren Anwendung die Behörden und Gerichte auch die sich aus Art. 6 GG ergebenden verfassungsrechtlichen Vorgaben und den besonderen Schutz von Ehe und Familie berücksichtigen müssen. Damit hat die Gesetzesänderung zum 1. Juli 2011 auch im Vorfeld keinen staatlichen Anreiz gegeben, eine mindestens zwei, aber noch nicht drei Jahre bestehende eheliche Lebensgemeinschaft aufzulösen, um den Anspruch auf einen eheunabhängigen Aufenthaltstitel zu erhalten. Dies betrifft gerade auch eine in ihrem Bestand bereits gefährdete und damit möglicherweise besonders schutzbedürftige eheliche Lebensgemeinschaft.

2.3 Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen des § 28 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.] n.F. nicht. Nach diesen Vorschriften wird die Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten eines [X.] im Falle der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft als eigenständiges, vom Zweck des Familiennachzugs unabhängiges Aufenthaltsrecht für ein Jahr verlängert, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft seit mindestens drei Jahren rechtmäßig im [X.] bestanden und der [X.] Ehegatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt ebenfalls im [X.] hat. Nach der Senatsrechtsprechung wandelt sich die ehebedingte Aufenthaltserlaubnis nach der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht automatisch, sondern nur auf Antrag in einen eheunabhängigen Titel. Da die Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 [X.] kein neu erteilter Titel ist, sondern nur die Verlängerung der ehebedingten Aufenthaltserlaubnis, deckt sie zudem nicht den [X.]raum ab Trennung der Eheleute ab, sondern erfasst lediglich das erste sich an den Ablauf der ehebedingten Aufenthaltserlaubnis anschließende Jahr. Danach steht eine weitere Verlängerung nach § 31 Abs. 4 Satz 2 [X.] im Ermessen der Ausländerbehörde (Urteile vom 22. Juni 2011 - BVerwG 1 [X.] 5.10 - BVerwGE 140, 64 = [X.] 402.242 § 31 [X.] Nr. 5 jeweils Rn. 13 m.w.[X.], vom 29. Juli 1993 - BVerwG 1 [X.] 25.93 - BVerwGE 94, 35 <42> = [X.] 402.240 § 7 AuslG 1990 Nr. 1 S. 7 und vom 9. Juni 2009 - BVerwG 1 [X.] 11.08 - BVerwGE 134, 124 = [X.] 402.242 § 7 [X.] Nr. 3 jeweils Rn. 19). Von der Voraussetzung des dreijährigen rechtmäßigen Bestands der ehelichen Lebensgemeinschaft im [X.] ist abzusehen, soweit es zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist, dem Ehegatten den weiteren Aufenthalt zu ermöglichen, § 31 Abs. 2 Satz 1 [X.].

Die eheliche Lebensgemeinschaft des [X.] ist jedoch schon nach einer Dauer von etwas mehr als zwei Jahren aufgelöst worden, so dass eine Verlängerung seines Aufenthaltstitels nach § 31 Abs. 1 [X.] nicht in Betracht kommt. Es ist auch weder vorgetragen noch sonst erkennbar, dass zur Vermeidung einer besonderen Härte von dieser Voraussetzung nach § 31 Abs. 2 Satz 1 [X.] abzusehen wäre; eine Zurückverweisung zur weiteren Sachaufklärung ist nicht veranlasst. Dies gilt auch mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG, zumal die eheliche Lebensgemeinschaft bereits vor Inkrafttreten der Neuregelung aufgehoben worden ist und der Kläger noch unter Geltung des § 31 [X.] a.F. eine Verlängerung hätte beantragen können.

Meta

1 C 1/13

10.12.2013

Bundesverwaltungsgericht 1. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend VG Stuttgart, 14. Dezember 2012, Az: 11 K 2538/12, Urteil

§ 134 Abs 1 VwGO, § 134 Abs 4 VwGO, § 134 Abs 5 VwGO, § 28 Abs 1 AufenthG 2004, § 31 Abs 1 AufenthG 2004, § 31 Abs 2 AufenthG 2004, § 31 Abs 4 AufenthG 2004

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 10.12.2013, Az. 1 C 1/13 (REWIS RS 2013, 464)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 464

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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