Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.11.2020, Az. 4 StR 431/20

4. Strafsenat | REWIS RS 2020, 984

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Gegenstand

Strafverfahren: Hemmung der Fristen für die Unterbrechung der Hauptverhandlung wegen coronabedingten Infektionsschutzmaßnahmen


Leitsatz

Zur Anwendbarkeit des Hemmungsgrundes des § 10 Abs. 1 Satz 1 EGStPO bei ärztlich angeratener Kontaktvermeidung eines Prozessbeteiligten zum Schutz von dessen Ehegatten vor einer Ansteckung durch das SARS-CoV-2-Virus.

Tenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 29. Mai 2020 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der [X.] keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Ergänzend bemerkt der Senat:

Die Rüge des Verstoßes gegen § 229 Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 10 [X.] ist zulässig, aber unbegründet.

1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Am Ende des [X.] vom 13. März 2020 bestimmte der Vorsitzende als Fortsetzungstermin den 31. März 2020. Tatsächlich wurde die Hauptverhandlung jedoch erst am 30. April 2020 fortgesetzt. An diesem Tag verkündete das [X.] nach Anhörung der Prozessbeteiligten einen Beschluss, in dem festgestellt wurde, dass der Lauf der [X.] vom 28. März 2020 bis zum 29. April 2020 gehemmt war. Zur Begründung berief sich das [X.] auf § 10 [X.] und führte aus, dass der Vorsitzende am 28. März 2020 von der Schöffin erfahren habe, dass sich ihr Ehemann am 14. April 2020 einem unaufschiebbaren operativen Eingriff am Herzen unterziehen müsse. Aus ärztlicher Sicht sei eine Ansteckung mit dem Coronavirus sowohl vor als auch nach der [X.] bis zur Mitte der [X.] unbedingt zu vermeiden, weshalb die Schöffin und ihr Ehemann fast jeglichen Außenkontakt innerhalb des fraglichen Zeitraums gemieden hätten.

Die Revision sieht einen Rechtsfehler zum einen darin, dass die Hemmung der Frist nicht innerhalb der Dreiwochenfrist des § 229 Abs. 1 StPO beschlossen wurde. Zum anderen hätten die Voraussetzungen des § 10 [X.] nicht vorgelegen, da nicht die Schöffin selbst, sondern ein Angehöriger betroffen sei und zudem durch Schutzmaßnahmen während der Hauptverhandlung jegliche Gefahr der Ansteckung hätte vermieden werden können.

2. Die Verfahrensrüge greift nicht durch.

a) Dass das Gericht den Beginn der Hemmung nicht innerhalb der dreiwöchigen [X.] des § 229 Abs. 1 StPO festgestellt hat, stellt keinen Rechtsverstoß dar. Die Hemmung des § 10 Abs. 1 Satz 1 [X.] tritt kraft Gesetzes ein. Der [X.] hat nur insofern konstitutive Bedeutung, als er den Beginn und das Ende der Hemmung unanfechtbar feststellt (vgl. zu § 229 Abs. 3 StPO: [X.], Urteil vom 12. August 1992 – 5 [X.], [X.], 550; Beschluss vom 18. Februar 2016 – 1 [X.], [X.], 178).

b) Es begegnet auch keinen rechtlichen Bedenken, dass das [X.] einen Hemmungsgrund gemäß § 10 Abs. 1 [X.] angenommen hat. Nach dieser Vorschrift ist der Lauf der in § 229 Abs. 1 und 2 StPO genannten [X.]en gehemmt, solange die Hauptverhandlung aufgrund von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem [X.] (COVID-19-Pandemie) nicht durchgeführt werden kann, längstens jedoch für zwei Monate. Nach § 10 Abs. 1 Satz 2 [X.] stellt das Gericht Beginn und Ende der Hemmung durch unanfechtbaren Beschluss fest.

Aufgrund dieser Unanfechtbarkeit kommt mit Blick auf § 336 Satz 2 Alt. 1 StPO eine Richtigkeitsprüfung über den Willkürmaßstab hinaus nicht in Betracht; sie ist auch verfassungsrechtlich nicht geboten (vgl. zur [X.] des § 229 Abs. 3 Satz 2 StPO: [X.], Beschluss vom 20. April 2016 – 5 [X.]). Anhaltspunkte dafür, dass die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 [X.] für eine Hemmung überhaupt nicht vorgelegen haben, sind nicht ersichtlich.

aa) Die weitgehende Kontaktvermeidung des Ehemannes der Schöffin aufgrund einer ärztlichen Empfehlung stellte eine Schutzmaßnahme zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem [X.] dar. Die Schutzmaßnahme musste nicht gerichtlich oder gesundheitsbehördlich angeordnet oder empfohlen worden sein. § 10 [X.] enthält insoweit keine Einschränkung. Es genügt, wenn sie nachvollziehbar der Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem Coronavirus dienen soll. Dies ist aufgrund der ärztlichen Empfehlung der Fall. Maßnahmen, die eine weitere Durchführung der Hauptverhandlung verhindern, sind auch solche, die dem Schutz von Personen dienen, die zur Risikogruppe gehören, wie beispielsweise ältere Personen, Personen mit Grunderkrankung oder einem unterdrückten Immunsystem (vgl. BT-Drucks. 19/18110, S. 32 f.).

bb) Dass die Schöffin nur mittelbar durch die Schutzmaßnahme betroffen war, ist unerheblich. Ein Hindernis für die Durchführung der Hauptverhandlung liegt auch vor, wenn es nur mittelbar auf Schutzmaßnahmen beruht (vgl. BT-Drucks. 19/18110, S. 33).

cc) Es ist aus Rechtsgründen auch nicht zu beanstanden, dass das [X.] keine anderen Maßnahmen als die Unterbrechung der Hauptverhandlung zum Schutz des Ehemannes der Schöffin getroffen hat. Die Annahme des [X.]s, dass die Hauptverhandlung nicht durchgeführt werden konnte, ist jedenfalls nicht willkürlich.

Sost-Scheible     

      

Quentin     

      

Bartel

      

Rommel     

      

Lutz     

      

Meta

4 StR 431/20

19.11.2020

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Bielefeld, 29. Mai 2020, Az: 4 KLs 39/19

§ 10 Abs 1 S 1 StPOEG, § 229 Abs 1 StPO, § 229 Abs 2 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.11.2020, Az. 4 StR 431/20 (REWIS RS 2020, 984)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 984

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