Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 06.07.2018, Az. 1 StR 261/18

1. Strafsenat | REWIS RS 2018, 6426

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[X.]:[X.]:[X.]:2018:060718B1STR261.18.0

BUN[X.]SGERICHTSHOF

BESCHLUSS

1
StR 261/18
vom
6. Juli
2018
in der Strafsache
gegen

wegen
versuchten Totschlags u.a.

-
2
-
Der 1. Strafsenat des [X.] hat nach Anhörung des [X.]

zu 2. auf dessen Antrag

und des Beschwerdeführers
am 6.
Juli
2018
gemäß §
349 Abs.
2 und 4
StPO beschlossen:

1.
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landge-richts München
I vom 15. Januar 2018 im [X.] mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
3.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-tels, an eine andere Jugendkammer des [X.].

Gründe:
Das [X.] hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung einer [X.] Verurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge zum Rechtsfolgenausspruch Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des §
349 Abs. 2 StPO.

1
-
3
-
I.
Nach den Feststellungen des [X.]s kam es am Morgen des 28.
August 2016 an der [X.]-Haltestelle T.

zwischen dem alkohol-
bedingt enthemmten Angeklagten und dem Nebenkläger zuerst zu einer verba-len und anschließend zu einer körperlichen Auseinandersetzung. Ausgangs-punkt hierfür war, dass der Angeklagte den zunächst auf dem gegenüberlie-genden Bahnsteig befindlichen Nebenkläger provoziert und beleidigt hatte. Nachdem der Nebenkläger deswegen die Gleise überquert und dem Angeklag-ten zwei Schläge ins Gesicht versetzt hatte, dann aber bei dem anschließenden Gerangel zu Boden gegangen war, versetzte der Angeklagte dem Nebenkläger, der sich mit einem Arm am Boden abstützte, vier kraftvolle Fußtritte gegen den Kopf-
und Gesichtsbereich. Nach dem dritten Tritt sackte der Nebenkläger
bewusstlos nach hinten zusammen und blieb regungslos mit geschlossenen Augen auf dem Rücken liegen. Nach einem weiteren Fußtritt ließ der [X.] ab, ohne sich weiter um dessen Wohlergehen zu kümmern, und begab sich zu der inzwischen eingefahrenen [X.].

II.
Der Schuldspruch hält rechtlicher Nachprüfung stand. Insbesondere hat das [X.] rechtsfehlerfrei ausgeschlossen, dass die Fußtritte des Ange-klagten aus Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt sein könnten. Auch die Würdi-gung des [X.]s, der Angeklagte sei nicht strafbefreiend vom beendeten Versuch des Totschlags zurückgetreten (§
24 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 StGB), wird von den Feststellungen getragen.

2
3
-
4
-
III.
Demgegenüber hält die Ablehnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
1. Das [X.] geht

gestützt auf die Ausführungen des psychiatri-schen Sachverständigen

davon aus, dass ein Hang des Angeklagten, alkoho-lische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu [X.], zum Zeitpunkt der Tat nicht vorgelegen habe. Zwar habe der Sachver-ständige beim Angeklagten einen multiplen Substanzabusus diagnostiziert, bei dem ein langjähriger und regelmäßiger Cannabisabusus und in den letzten
Monaten vor der Tat auch ein Alkoholabusus im Mittelpunkt gestanden hätten. Daneben habe der Angeklagte gelegentlich auch andere stimulierende oder psychodelische Substanzen eingenommen. Eine etablierte Abhängigkeitser-krankung liege jedoch noch nicht vor. Insbesondere hätten sich weder in Bezug auf Cannabis noch auf Alkohol, die beide häufiger konsumiert worden seien, konkrete und belastbare Anhaltspunkte für einen Suchtdruck oder stärkere [X.] ergeben. Der [X.] von Drogen und Alkohol sei zwar in den Monaten vor der Tat durch dissoziale Verläufe im Umfeld und Leben des Angeklagten begünstigt worden. Ein Hang im Sinne des §
64 StGB, Rauschmit-tel im Übermaß zu sich zu nehmen, sei gleichwohl nicht sicher festzustellen. Weder aus den Angaben des Angeklagten selbst noch aus denen von Zeugen habe sich ergeben, dass sich das Leben des Angeklagten in den Monaten vor der Tat wesentlich um Drogen und Alkohol gedreht habe. Den [X.] von
Alkohol habe der Angeklagte kontrollieren können. Er habe auch Tage und Abende ohne oder mit deutlich weniger Alkohol als am Abend und in der Nacht vor der verfahrensgegenständlichen Tat verbringen können, so dass nicht von einer den Angeklagten treibenden oder beherrschenden Neigung, Alkohol im Übermaß zu konsumieren, ausgegangen werden könne. Da der Angeklagte vor 4
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-
5
-
der Tat kein Cannabis zu sich genommen habe, bei der Tat auch nicht unter Entzugserscheinungen gelitten habe und die Tatausführung auch nicht in sons-tiger Weise durch den regelmäßigen und langjährigen [X.] von Cannabis begünstigt worden sei, habe es zudem jedenfalls an einem symptomatischen Zusammenhang mit der verfahrensgegenständlichen Tat gefehlt ([X.]).
2. Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das [X.] rechts-fehlerhaft von einem zu engen Verständnis eines Hanges im Sinne des §
64 StGB ausgegangen ist.
a) Für einen Hang ist nach ständiger
Rechtsprechung eine eingewurzel-te, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Genuss von [X.] im Sinne des §
64 StGB ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betreffende aufgrund seiner psychischen Abhängigkeit sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (vgl. [X.], Beschlüsse vom 6.
Dezember 2017

1
StR 415/17 Rn.
10, [X.],
105 [nur redak-tioneller Leitsatz] und
vom 14.
Oktober 2015

1
StR 415/15
Rn.
7; Urteile vom 10.
November 2004

2
StR 329/04, [X.], 210 und vom 15. Mai 2014

3 StR 386/13
Rn.
10, NStZ-RR 2014, 271
[nur redaktioneller Leitsatz]). Inso-weit kann dem Umstand, dass durch den [X.] bereits die Ge-sundheit, Arbeits-
und Leistungsfähigkeit des Betreffenden erheblich beein-trächtigt ist, zwar indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines Hanges
zukommen (vgl. [X.], Beschlüsse
vom 1. April 2008

4 StR 56/08, [X.], 198, 199 und
vom 14. Dezember 2005

1 [X.], [X.], 103, 104). Wenngleich solche Beeinträchtigungen in der Regel mit übermäßi-gem [X.] einhergehen dürften, schließt deren Fehlen jedoch nicht notwendigerweise die Bejahung eines Hanges aus (vgl. [X.], Beschlüsse 6
7
-
6
-
vom 17.
Mai 2018

3
StR 166/18 Rn.
12; vom 14.
Oktober 2015

1
StR 415/15
Rn.
7; vom 10.
November 2015

1
StR 482/15, [X.], 113, 114;
vom 2.
April 2015

3
StR 103/15
Rn. 6
und
vom 1. April 2008

4
StR 56/08, [X.], 198, 199). Auch stehen das Fehlen ausgeprägter Ent-zugssyndrome sowie Intervalle der Abstinenz der Annahme eines Hanges nicht entgegen (vgl. [X.], Beschlüsse vom 30. März 2010

3 [X.], [X.], 216 und vom 12.
April 2012

5 [X.], [X.], 271). Er setzt auch nicht voraus, dass die Rauschmittelgewöhnung auf täglichen oder häufig wiederholten Genuss zurückgeht; vielmehr kann es genügen, wenn der Täter von Zeit zu Zeit oder bei passender Gelegenheit seiner Neigung zum [X.] folgt (vgl. [X.], Beschlüsse vom 17.
Mai 2018

3 StR 166/18 Rn.
12; vom 20.
Februar 2018

3 StR 645/17 Rn. 8, [X.], 140 [nur redaktioneller Leitsatz]; vom 7.
Januar 2009

5 [X.], [X.], 137 und vom 20. Februar 2018

3
StR 645/17 Rn.
8, [X.], 140 [nur redaktioneller Leitsatz]).
b) Ausgehend von diesen rechtlichen Maßstäben drängt sich das Vorlie-gen eines Hanges im Sinne des §
64 StGB hier schon angesichts des festge-stellten multiplen Substanzabusus ([X.], 97) auf, welcher deutlich auf eine den Angeklagten treibende Neigung hindeutet, Alkohol und Betäubungsmittel im Übermaß zu konsumieren. In dessen Mittelpunkt stand nach den Urteilsfest-stellungen in den Monaten vor der Tat verstärkt ein Alkoholabusus; daneben nahm der Angeklagte neben seinem regelmäßigen Cannabiskonsum auch noch andere stimulierende oder psychodelische Substanzen ein. Angesichts dieses [X.]verhaltens erscheint der Angeklagte ersichtlich sozial gefährdet und auch gefährlich. So geht das [X.] selbst davon aus, dass der [X.] von Drogen und Alkohol in den Monaten vor der Tat durch dissoziale Verläufe im Umfeld und Leben des Angeklagten begünstigt worden sei (UA S.
98). Auch bei der Tat selbst war der bereits mehrfach wegen Körperverletzungsdelikten 8
-
7
-
vorbestrafte Angeklagte erheblich alkoholisiert und enthemmt. Zwar hält das [X.] die von dem Angeklagten in der Hauptverhandlung angegebenen Trinkmengen, die zu einer Blutalkoholkonzentration von 4,9 Promille geführt hätten (UA S.
55), nicht für glaubhaft. Es hält jedoch die von dem Angeklagten bei seiner körperlichen Untersuchung gemachten Angaben, auf deren Grundla-ge
der rechtsmedizinische Sachverständige für den Tatzeitpunkt eine maximale Blutalkoholkonzentration von 2,46 Promille errechnet hat, für nachvollziehbar.
Schließlich steht auch der vom [X.] angeführte Umstand, der [X.] als am Abend und in der Nacht vor der hier gegenständlichen Tat verbrin-im Übermaß zu konsumieren, nicht entgegen. Dies belegt allenfalls, dass der Angeklagte kurzzeitig in der Lage war, seinen [X.] zu verrin-gern oder einzustellen, was jedoch einen Hang nicht ausschließt (vgl. [X.], Beschlüsse vom 6.
Dezember 2017

1
StR 415/17 Rn.
11,
[X.], 105 [nur redaktioneller Leitsatz] und vom 14.
Juni 2016

1 [X.], [X.]R StGB §
64 Hang
4; Urteil vom 15.
Mai 2014

3 StR 386/13
Rn.
10, NStZ-RR
2014, 271
[nur redaktioneller Leitsatz]). Denn es kann genügen, was hier ange-sichts des für den Angeklagten festgestellten [X.]s naheliegt, dass der Täter von Zeit zu Zeit oder bei passender Gelegenheit seiner Neigung zum [X.] folgt (vgl. [X.], Beschlüsse vom 17.
Mai 2018

3
StR 166/18 Rn.
12; vom 20. Februar 2018

3
StR 645/17 Rn.
8, [X.], 140 [nur redaktioneller Leitsatz] und vom 7.
Januar 2009

5 [X.], [X.], 137).
3.
Im Hinblick auf den vom [X.] festgestellten multiplen
Substanzabusus des Angeklagten hält angesichts der Alkoholisierung des
Angeklagten zur Tatzeit die Annahme des [X.]s, es fehle auch mit Blick 9
10
-
8
-
auf den regelmäßigen Cannabiskonsum des Angeklagten an einem symptoma-tischen Zusammenhang mit der verfahrensgegenständlichen Tat, ebenfalls rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

IV.
Über die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt muss deshalb

wiederum unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§
246a Abs.
1 Satz 2 StPO)

neu verhandelt und entschieden werden.
Die fehlerhafte Ablehnung der [X.] zieht gemäß §
5 Abs.
3, §
105 Abs.
1 [X.] wegen des dort vorgegebenen sachlichen Zusam-menhangs zwischen Strafe und Unterbringung die Aufhebung des Straf-ausspruchs nach sich (vgl. [X.], Beschlüsse vom 27. Oktober 2015

3
StR 314/15, [X.], 734
f.;
vom 25. November 2014

5 StR 509/14 Rn.
4 und vom 12.
März 2012

3
StR 42/12
Rn.
2).

Raum

Jäger

Bellay

Cirener

Fischer

11
12

Meta

1 StR 261/18

06.07.2018

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 06.07.2018, Az. 1 StR 261/18 (REWIS RS 2018, 6426)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 6426

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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