Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 02.11.2020, Az. 1 BvR 533/20

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2020, 3083

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verwerfung einer Beschwerde gegen Wertfestsetzung mit der Begründung, sie sei "ausschließlich im Interesse und auf Weisung der Rechtsschutzversicherung" eingelegt worden, verletzt Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art 2 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG)


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 5. Februar 2020 - 9 Ta 191/19 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.

2. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

3. Der [X.] hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe

A.

1

[X.], ihr sei verfassungswidrig Rechtsschutz gegen einen [X.]sbeschluss versagt worden.

2

1. Die Beschwerdeführerin hatte einem Arbeitnehmer gekündigt, der daraufhin beim [X.] die Feststellung beantragte, dass die Kündigung unwirksam sei. Der Rechtsstreit wurde durch einen Vergleich beendet. In diesem wurde vereinbart, dass das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des nächsten Monats ende und der Arbeitnehmer bis dahin bei Fortzahlung seines Gehalts von der Arbeitspflicht freigestellt sei.

3

Auf Antrag der Prozessbevollmächtigten setzte das Arbeitsgericht den "Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit" fest. Der Beschluss wies einen Vergleichsmehrwert aus, was das Arbeitsgericht mit der Freistellungsregelung begründete.

4

2. Auf der Grundlage dieses [X.]sbeschlusses stellte der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin eine Rechnung, die sie ihrer Rechtsschutzversicherung zum Ausgleich vorlegte. Die Versicherung war jedoch nicht bereit zu zahlen, da die Vergütung überhöht sei. Der ausgewiesene Vergleichsmehrwert sei zu Unrecht angesetzt worden. Nach dem [X.] sei ein Vergleichsmehrwert wegen einer Freistellung nur dann zu berücksichtigen, wenn sich eine [X.] zuvor eines Anspruchs auf oder eines Rechts zur Freistellung berühmt habe. Die Versicherung wies darauf hin, dass daher eine Obliegenheitsverletzung vorliege, wenn keine Beschwerde gegen die [X.] eingelegt werde, die zum teilweisen Verlust des Versicherungsschutzes führe.

5

3. Daraufhin legte der Anwalt ausdrücklich im Namen und Auftrag der Beschwerdeführerin Beschwerde ein. Dieser half das Arbeitsgericht nicht ab, sondern legte sie dem [X.] zur Entscheidung vor. Dieses verwarf die Beschwerde mit dem hier angegriffenen Beschluss vom 5. Februar 2020 als unzulässig. Es komme nicht darauf an, dass die Beschwerde "verfahrensrechtlich" namens und im Auftrag der Beschwerdeführerin eingelegt worden sei. Entscheidend sei, dass die Rechtsschutzversicherung die Beschwerdeführerin beziehungsweise ihren Prozessbevollmächtigten zur Einlegung der Beschwerde veranlasst habe. Der Umstand, dass die Beschwerde in ihrem Namen eingelegt worden sei, ändere nichts an der offensichtlichen Tatsache, dass die Beschwerde ausschließlich im Interesse und auf Weisung der Rechtsschutzversicherung erfolge. Diese sei indes nicht beschwerdeberechtigt, weil sie von der [X.] nicht unmittelbar betroffen sei. Das entspreche der ständigen Rechtsprechung der für Streitwertbeschwerden zuständigen Kammern des [X.]s.

6

Die Beschwerdeführerin meint, die angegriffene Entscheidung verletze ihre Grundrechte aus Art. 19 Abs. 4, Art. 3 Abs. 1 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

7

1. Ihr sei rechtswidrig und willkürlich ein Rechtsmittel versagt worden. Sie habe ihren Anwalt in Abhängigkeit vom festgesetzten Streitwert zu vergüten; daher müsse sie sich wehren können, wenn das Gericht einen zu hohen Streitwert festsetze. So liege es hier. Wenn das [X.] darauf abstelle, dass sie rechtsschutzversichert wäre, sei das sachfremd und willkürlich. Eine Beschwer könne nicht beseitigen, dass Prozesskosten von einer Rechtsschutzversicherung getragen würden. Das hätten zahlreiche Entscheidungen verschiedener Gerichte anerkannt. Zudem habe das [X.] nicht einmal darauf abgestellt, ob die Rechtsschutzversicherung für die geltend gemachten Kosten eintreten würde. Selbst dann entstünden der Beschwerdeführerin aus einer überhöhten [X.] noch Nachteile, weil sie eine Kündigung ihres Versicherungsvertrags befürchten müsse, je mehr sie in Rechnung stelle.

8

2. Das [X.] behandele rechtsschutzversicherte und nicht rechtsschutzversicherte [X.]en ungleich, wenn es das Beschwerderecht generell versage, wo eine Rechtsschutzversicherung besteht. Das sei nicht zu rechtfertigen.

9

3. Das [X.] verstoße gegen das Recht auf [X.], da statt des Vorsitzenden [X.] "als Einzelrichter" die Kammer hätte entscheiden müssen.

Die Verfassungsbeschwerde wurde den am [X.]sverfahren beteiligten Rechtsanwälten sowie dem [X.] Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, [X.] und Gleichstellung zugestellt.

B.

[X.] nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.] statt. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt die Garantie effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, die für das arbeitsgerichtliche Verfahren von dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) verbürgt wird. Weil die Entscheidung bereits aus diesem Grund aufzuheben ist, kann offenbleiben, ob sie darüber hinaus auch gegen Art. 3 Abs. 1 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstößt.

Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip garantiert den [X.]en im Zivilprozess effektiven Rechtsschutz. Danach darf den Prozessparteien der Zugang zu den Gerichten nicht in unzumutbarer, durch [X.] nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. [X.] 88, 118 <123 f.>). Dies beeinflusst die Auslegung und Anwendung der verfahrensrechtlichen Bestimmungen. Es gibt zwar keinen Anspruch auf eine weitere Instanz; den Umfang des [X.] darf der Gesetzgeber bestimmen (vgl. [X.] 54, 277 <291>; 107, 395 <401 f.>). Sieht die Prozessordnung jedoch ein Rechtsmittel vor, so darf der Zugang nicht unzumutbar erschwert werden (vgl. [X.] 69, 381 <385>; 77, 275 <284>). Die Rechtsmittelgerichte dürfen daher ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht durch die Art und Weise, in der sie die gesetzlichen Voraussetzungen für den Zugang zu einer Sachentscheidung auslegen und anwenden, ineffektiv machen und für die Beschwerdeführerin leerlaufen lassen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 16. Januar 2018 - 2 BvR 1297/16 -, Rn. 16).

Diesen Anforderungen ist das [X.] nicht gerecht geworden. Die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen, weil sie "ausschließlich im Interesse und auf Weisung der Rechtsschutzversicherung" eingelegt worden sei, ist nicht nachvollziehbar und sachwidrig und verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtlich geschützten Recht auf Justizgewähr. Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerde gegen einen sie [X.] [X.]sbeschluss des Arbeitsgerichts vielmehr ausdrücklich in eigenem Namen eingelegt. Es liegt auch auf der Hand, dass sie ein eigenes schutzwürdiges Interesse an einer Sachentscheidung hat, wenn die Rechtsschutzversicherung nicht bereit ist, ohne Korrektur der [X.] ihren Anwalt auch für den Vergleichsmehrwert zu vergüten. Dass sie insofern auch die Auffassung der Rechtsschutzversicherung weitergibt, schadet nicht, denn sie macht sich diese zu eigen (vgl. [X.] Schleswig-Holstein, Beschluss vom 24. April 2017 - 1 Ta 25/17 -, juris, Rn. 21).

III.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 533/20

02.11.2020

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Sächsisches Landesarbeitsgericht, 5. Februar 2020, Az: 9 Ta 191/19, Beschluss

Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 42 Abs 3 GKG 2004

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 02.11.2020, Az. 1 BvR 533/20 (REWIS RS 2020, 3083)

Papier­fundstellen: NJW 2021, 52 REWIS RS 2020, 3083

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

2 Ta 42/23

Zitiert

2 BvR 1297/16

1 BvR 1155/18

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