Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 04.05.2015, Az. 2 BvR 2169/13, 2 BvR 2170/13

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2015, 11682

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gegenüber Anhörungsrüge im fachgerichtlichen Verfahren - hier: Übergehen von Parteivortrag zur Unvereinbarkeit einer entscheidungserheblichen Norm mit Vorgaben der EMRK (juris: MRK)


Gründe

1

1. Die Verfassungsbeschwerden sind unzulässig, da die Beschwerdeführer gegen die Beschlüsse des [X.] keine Anhörungsrüge erhoben haben.

2

a) Der aus § 90 Abs. 2 Satz 1 [X.]G abgeleitete Grundsatz der materiellen Subsidiarität gebietet, dass der Beschwerdeführer den Rechtsweg nicht lediglich formell erschöpft, sondern darüber hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen ([X.] 107, 395 <414>; 112, 50 <60>; 129, 78 <92>; 134, 106 <115>). Dies kann bedeuten, dass der Beschwerdeführer gehalten sein kann, eine Gehörsverletzung im fachgerichtlichen Verfahren auch dann mit einer Anhörungsrüge anzugreifen, wenn er mit der Verfassungsbeschwerde zwar keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG rügen will, die Erhebung der Anhörungsrüge aber zur Beseitigung anderweitiger Grundrechtsverletzungen führen könnte ([X.] 134, 106 <115>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 14. Juli 2011 - 1 BvR 1468/11 -, juris; vgl. auch [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 25. Oktober 2011 - 2 BvR 2407/10 -, juris). Denn die Dispositionsfreiheit bei der Erhebung der Verfassungsbeschwerde (vgl. [X.] 126, 1 <17>) entbindet den Beschwerdeführer nicht ohne Weiteres von der Beachtung des [X.]. Beruft sich ein Beschwerdeführer in seiner Verfassungsbeschwerde nicht auf eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG, muss er aus Gründen der Subsidiarität allerdings nur dann eine Anhörungsrüge erhoben haben, wenn den Umständen nach ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte naheliegt und zu erwarten gewesen wäre, dass vernünftige Verfahrensbeteiligte mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer diesen Rechtsbehelf ergriffen hätten ([X.] 134, 106 <115 f.>).

3

b) Gemessen hieran verletzt es den Grundsatz der materiellen Subsidiarität, dass die Beschwerdeführer gegen die Beschlüsse des [X.] keine Anhörungsrügen erhoben haben. Ein Gehörsverstoß durch das [X.] liegt hier nahe, da sich das Gericht in den Gründen der angegriffenen Beschlüsse nicht mit einem etwaigen, von den Beschwerdeführern geltend gemachten Verstoß gegen die [X.] auseinandergesetzt hat.

4

Zwar folgt aus Art. 103 Abs. 1 GG für die Gerichte nicht die Verpflichtung, sich in den Entscheidungsgründen mit jedem Vorbringen der Verfahrensbeteiligten ausdrücklich auseinanderzusetzen. Wird ein bestimmter Vortrag nicht aufgegriffen, lässt dies nur unter besonderen Umständen den Schluss zu, dass das Gericht ihn nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung nicht erwogen hat ([X.] 65, 293 <295 f.>; 70, 288 <293>; 86, 133 <146>; 134, 106 <117>). Die Annahme derartiger Umstände liegt hier indes nahe.

5

Beide Beschwerdeführer haben in ihren Schriftsätzen an das [X.] einen Verstoß gegen die [X.] gerügt. Wörtlich heißt es hierzu in den Schriftsätzen der Beschwerdeführer: "Nur ergänzend wird auf die Entscheidung des [X.] ([X.]. 8080/08 und 8577/08 Urteil vom 1.12.2011) hingewiesen, [wonach] [X.] in [X.] [k][X.] ist." Trotz dieses - wenn auch knappen -Hinweises hat sich das [X.] in den angegriffenen Beschlüssen in keiner Weise mit der [X.] auseinandergesetzt. Zwar haben die Beschwerdeführer die Bedeutung dieses Vorbringens selbst relativiert, indem sie "nur ergänzend" auf die Rechtsprechung des [X.] Bezug genommen haben. In der Sache haben sie jedoch vorgetragen, dass die Regelung des [X.]s gegen die Konvention verstoße und zur Begründung auf eine konkrete Entscheidung des Gerichtshofs verwiesen. Da die [X.] im innerstaatlichen Recht den Rang eines (einfachen) Bundesgesetzes hat (vgl. [X.] 111, 307 <317>; 128, 326 <367>), impliziert dieser Vortrag, dass die hier entscheidungserhebliche Vorschrift des § 28 Abs. 1 Nr. 1 des Polizeigesetzes des [X.] gemäß Art. 31 GG durch Art. 5 Abs. 1 [X.] gebrochen werde oder zumindest konventionsfreundlich auszulegen sei. Auch wenn es nur "ergänzend" erfolgt ist, wäre dieses Vorbringen somit ein zentraler Gesichtspunkt für die Entscheidungen des [X.] gewesen. Das [X.] hätte sich damit auseinandersetzen müssen, zumal die Beschwerdeführer nicht lediglich pauschal auf die [X.] verwiesen, sondern eine bestimmte, möglicherweise einschlägige Entscheidung des Gerichtshofs zitiert haben. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass das [X.] sich in den Entscheidungsgründen mit der Rechtsprechung des [X.] befasst hätte, wenn es den Vortrag der Beschwerdeführer zur Kenntnis genommen und erwogen hätte. Daher wäre die Erhebung einer Anhörungsrüge geboten gewesen.

6

2. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.]G abgesehen.

7

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 2169/13, 2 BvR 2170/13

04.05.2015

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend LG Freiburg (Breisgau), 28. August 2013, Az: 4 T 246/11, Beschluss

Art 103 Abs 1 GG, § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, Art 5 Abs 1 MRK, § 28 Abs 1 Nr 1 PolG BW

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 04.05.2015, Az. 2 BvR 2169/13, 2 BvR 2170/13 (REWIS RS 2015, 11682)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 11682

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1 BvR 1468/11

2 BvR 2407/10

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