Bundesgerichtshof, Urteil vom 13.09.2011, Az. VI ZR 144/10

6. Zivilsenat | REWIS RS 2011, 3436

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Gegenstand

Arzthaftungsprozess: Beweislastumkehr hinsichtlich der Kausalität bei einem einfachen Befunderhebungsfehler


Leitsatz

Ein einfacher Befunderhebungsfehler kann zu einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers für den eingetretenen Gesundheitsschaden führen, wenn sich bei der gebotenen Abklärung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges positives Ergebnis gezeigt hätte und sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde .

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des 1. Zivilsenats des [X.] vom 22. April 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Der Kläger macht Schadensersatzansprüche wegen eines von ihm behaupteten Diagnose- bzw. Befunderhebungsfehlers geltend.

2

Die Beklagte wurde am 11. November 2004 als Notärztin zu dem Kläger gerufen. Bei einer telefonischen Rückfrage gab dessen Ehefrau an, dieser leide unter Herz- und Magenschmerzen. Nach Hinweis auf einen in der Familie aufgetretenen Herzinfarkt kam die Beklagte um 22:30 Uhr zu einem Hausbesuch. Die Beklagte verabreichte dem Kläger zwei Hub [X.]. Während des Besuchs verbesserten sich die Beschwerden des [X.] geringfügig. Als Diagnose dokumentierte die Beklagte Verdacht auf Virusinfekt und auf Angina pectoris.

3

Da sich die Beschwerden nicht besserten, brachte die Ehefrau des [X.] diesen in das Krankenhaus nach G. Bei einem um 2:34 Uhr erstellten [X.] zeigte sich ein akuter Vorderwandinfarkt. Da eine sofortige Lysetherapie zu keinem Erfolg führte, wurde der Kläger in das [X.] verbracht. Nachdem die dortige Behandlung keinen ausreichenden Erfolg hatte, wurde am 2. Dezember 2004 im [X.] eine Bypassoperation durchgeführt. Seit dem 1. Dezember 2004 erhält der Kläger, der am 19. April 2004 auch einen Verkehrsunfall erlitten hatte, in dessen Folge er jedenfalls bis zum streitigen Vorfall am 11. November 2004 arbeitsunfähig war, eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.

4

Das [X.] hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des [X.] hat das [X.] zurückgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Schadensersatzansprüche weiter.

Entscheidungsgründe

I.

5

Das Berufungsgericht hat - wie das [X.] - einen [X.] der Beklagten bejaht. Angesichts des jungen Patientenalters und der bekannten Risikofaktoren habe nach den Ausführungen des Sachverständigen zumindest von einer neu aufgetretenen Angina pectoris ausgegangen werden müssen. Deshalb sei eine stationäre Einweisung und weitere Abklärung hinsichtlich des Vorliegens eines akuten Koronarsyndroms mittels Ableitung eines Zwölf-Kanal-EKGs erforderlich gewesen.

6

Die Kausalität des Behandlungsfehlers für die eingetretene Schädigung lasse sich jedoch nicht feststellen. Deswegen hätte die Klage nur dann Erfolg haben können, wenn sich der [X.] als grob dargestellt hätte. Davon sei nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht auszugehen. Mithin sei hinsichtlich der Kausalität keine Beweislastumkehr eingetreten und der Kläger beweisfällig geblieben.

II.

7

Diese Ausführungen halten revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Revision bemängelt mit Recht, dass das Berufungsgericht die rechtlichen Grundsätze für eine mögliche Beweislastumkehr bei einem [X.] verkannt hat.

8

1. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats erfolgt bei der Unterlassung der gebotenen Befunderhebung eine Beweislastumkehr hinsichtlich der haftungsbegründenden Kausalität, wenn bereits die Unterlassung einer aus medizinischer Sicht gebotenen Befunderhebung einen groben ärztlichen Fehler darstellt (vgl. Senatsurteile vom 13. Januar 1998 - [X.], [X.], 1, 5 f.; vom 29. September 2009 - [X.], [X.], 115 Rn. 8 mwN). Zudem kann auch eine nicht grob fehlerhafte Unterlassung der Befunderhebung dann zu einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers für den eingetretenen Gesundheitsschaden führen, wenn sich bei der gebotenen Abklärung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges positives Ergebnis gezeigt hätte und sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental oder die [X.] hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde (vgl. Senatsurteile vom 13. Februar 1996 - [X.], [X.], 47, 52 ff.; vom 27. April 2004 - [X.], [X.], 48, 56; vom 23. März 2004 - [X.], [X.], 790, 791 f.; vom 7. Juni 2011 - [X.], NJW 2011, 2508 Rn. 7 mwN). Es ist nicht erforderlich, dass der grobe Behandlungsfehler die einzige Ursache für den Schaden ist. Es genügt, dass er generell geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen; wahrscheinlich braucht der Eintritt eines solchen Erfolgs nicht zu sein. Eine Umkehr der Beweislast ist nur ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründende [X.] äußerst unwahrscheinlich ist (vgl. Senatsurteile vom 27. April 2004 - [X.], aaO, 56 f.; vom 7. Juni 2011 - [X.], aaO).

9

2. Im Streitfall hat das Berufungsgericht einen grob fehlerhaften [X.] verneint, weil es aus Sicht des Sachverständigen zwar naheliegender gewesen sei, an eine Herzbeteiligung zu denken und daher eine sofortige EKG-Untersuchung zu veranlassen, die geschilderten Symptome aber auch als Hinweise auf eine Virusinfektion gedeutet werden konnten. Feststellungen dazu, ob die Voraussetzungen für eine Beweislastumkehr bei einem einfachen [X.] vorliegen, hat es jedoch nicht getroffen. Eine solche Prüfung hätte das Berufungsgericht aber vornehmen müssen. Es lässt sich zumindest nicht ausschließen, dass die vom Sachverständigen geforderte ergänzende Diagnostik mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges Ergebnis im Sinne eines akuten koronaren Geschehens gezeigt hätte und sich die [X.] hierauf bzw. eine verspätete Reaktion als grob fehlerhaft dargestellt hätte. Nach den Ausführungen des Sachverständigen ist nämlich grundsätzlich mit höherer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass das Geschehen bei einer sofortigen Einweisung in das Krankenhaus einen anderen Verlauf genommen hätte.

3. Das angefochtene Urteil kann demnach nicht aufrecht erhalten werden. Es ist aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit über die Frage der Beweislastumkehr bei dem vom Berufungsgericht festgestellten einfachen [X.] entschieden werden kann. Käme dem Kläger nach den dafür geltenden Grundsätzen eine Beweislastumkehr zugute, hätte die Beklagte darzulegen und zu beweisen, dass dessen Gesundheitsschaden nicht auf der unterbliebenen sofortigen Einweisung in das Krankenhaus zur weiteren Abklärung beruht. Die Umkehr der Beweislast wegen eines etwaigen groben Behandlungsfehlers umfasst allerdings grundsätzlich nur den Beweis von dessen Ursächlichkeit für den haftungsbegründenden primären Gesundheitsschaden, nicht hingegen die haftungsausfüllende Kausalität (vgl. Senatsurteile vom 12. Februar 2008 - [X.], [X.], 644 Rn. 13; vom 7. Juni 2011 - [X.], aaO, Rn. 10, jeweils mwN).

Galke                                           Zoll                                       Wellner

                   Diederichsen                                   [X.]

Meta

VI ZR 144/10

13.09.2011

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 22. April 2010, Az: 1 U 112/09, Urteil

§ 823 Abs 1 BGB, § 286 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 13.09.2011, Az. VI ZR 144/10 (REWIS RS 2011, 3436)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 3436

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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