Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 01.03.2011, Az. 2 BvR 1/11

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2011, 9010

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: § 153f Abs 2 S 1 Nr 4 StPO (Absehen von Strafverfolgung bei Straftaten nach dem VStGB - Völkerstrafgesetzbuch - ) verstößt nicht gegen Art 101 Abs 1 S 2 GGGarantie des gesetzlichen Richters


Gründe

1

Die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundene Verfassungsbeschwerde betrifft die Vereinbarkeit von § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

2

1. Der Beschwerdeführer, ein in [X.] wohnhafter ruandischer Staatsangehöriger, wurde auf der Grundlage des Haftbefehls der Vorverfahrenskammer des [X.] vom 28. September 2010 - [X.]/04-01/10 - in [X.] Auslieferungshaft genommen. Ihm wird vorgeworfen, für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verantwortlich zu sein, die ihm unterstehende Milizionäre in der [X.] zwischen Januar und Dezember 2009 begangen haben sollen.

3

2. Der [X.] beim [X.] leitete ebenfalls Ermittlungen gegen den Beschwerdeführer ein. Im Hinblick auf das von der Anklagebehörde des [X.] betriebene Ermittlungsverfahren sah der [X.] jedoch mit dem angegriffenen Bescheid vom 3. Dezember 2010 nach § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO von der Verfolgung der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Straftaten ab, soweit dieser verdächtig sei, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen nach §§ 7, 8, 9 und 11 in Verbindung mit § 4 des [X.]s vom 26. Juni 2002 ([X.] - [X.]) begangen zu haben.

4

Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer trägt im Wesentlichen vor, dass er entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG [X.] entzogen worden sei. Der [X.] habe mit dem Absehen der Verfolgung ihm zur Last gelegter Straftaten nach § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO die Zuständigkeit des [X.] nach Art. 17 Abs. 1 lit. a des [X.] [X.] vom 17. Juli 1998 ([X.] - [X.] S. 1394) begründet. § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO überlasse die Bestimmung des zuständigen Gerichts einer politisch abhängigen, weisungsgebundenen Behörde. Im Gegensatz zur "beweglichen Zuständigkeit" nach § 24 Abs. 1 Nr. 3, § 74 Abs. 1 Nr. 2 GVG handele es sich bei § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO um eine reine Ermessensvorschrift, die zu einer Wahlfreiheit der Exekutive führe.

5

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist - mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg - insbesondere nicht zur Durchsetzung des als verletzt gerügten grundrechtsgleichen Rechts auf [X.] angezeigt (§ 93a Abs. 2 lit. [X.]). Die Verfassungsbeschwerde ist jedenfalls unbegründet.

6

1. § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO verstößt nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, da dessen Schutzbereich nicht berührt ist.

7

a) Das sonst bei [X.] bestehende Ermessen der Staatsanwaltschaft (vgl. § 153c StPO) ist bei § 153f StPO für [X.], die unter das [X.] fallen, eingeschränkt, um die Straflosigkeit von [X.] durch internationale Solidarität bei der Strafverfolgung zu verhindern (BTDrucks 14/8524, [X.]). Im Lichte des in § 1 [X.] verankerten [X.] ist grundsätzlich davon auszugehen, dass für alle Straftaten nach dem [X.] unabhängig von [X.] und Nationalität der beteiligten Personen die [X.] Justiz zuständig und die Staatsanwaltschaft nach dem Legalitätsprinzip zum Einschreiten verpflichtet ist. Bei Fällen, die dem Weltrechtsprinzip unterliegen, besteht jedoch eine "gestufte Zuständigkeitspriorität" (BTDrucks 14/8524, a.a.[X.]). Primär sind zur Verfolgung der [X.]staat und der Heimatstaat von Täter oder Opfer, sekundär der [X.] und gegebenenfalls sonstige internationale Strafgerichte und tertiär die nach dem Weltrechtsprinzip vorgehenden [X.]en berufen. Darüber hinaus soll eine Überlastung der [X.]n Ermittlungsressourcen durch Fälle, die keinen Bezug zu [X.] aufweisen, vermieden werden (BTDrucks 14/8524, a.a.[X.]).

8

Auf dieser Grundlage erlaubt § 153f StPO die Ermessenausübung in zwei Richtungen. Für Fälle mit Inlandsbezug, das heißt wenn der Beschuldigte sich im Inland aufhält und/oder [X.] ist, ergibt sich im Umkehrschluss aus § 153f Abs. 1 StPO eine grundsätzliche Verfolgungspflicht. Liegt keinerlei Inlandsbezug vor (vgl. § 153c Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO), "kann insbesondere" von der Strafverfolgung abgesehen werden, sofern ein internationales Gericht oder der [X.]- oder Heimatstaat von Täter oder Opfer die Verfolgung übernimmt (§ 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO).

9

b) Zwar kommt eine funktionale Verschränkung der [X.]n Gerichtsbarkeit und der internationalen Gerichtsbarkeit dahingehend in Betracht, dass auch ein internationales Gericht vom Schutzbereich des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG umfasst sein kann. Nach ständiger Rechtsprechung des [X.] ist der [X.] [X.] im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, weil dieser über das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV funktional in die nationale Gerichtsbarkeit eingegliedert ist und das von dem Gerichtshof ausgelegte Unionsrecht im nationalen Recht gilt und angewendet wird (vgl. [X.] 73, 339 <366 f.>; 75, 223 <231>; 82, 159 <192>; [X.], Beschluss des [X.] vom 6. Juli 2010 - 2 BvR 2661/06 -, NJW 2010, S. 3422 <3427>).

Zwischen der [X.]n und der internationalen Strafgerichtsbarkeit besteht auch ein funktionaler Zusammenhang insoweit, als die Staatsanwaltschaft nach § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO von der Strafverfolgung einer Tat, die nach den §§ 6 bis 14 [X.] strafbar ist, im Hinblick auf ein vor dem [X.] geführtes Strafverfahren absehen kann. Dieser Zusammenhang führt jedoch nicht zu einer Verschränkung dergestalt, dass der [X.] funktional in die nationale Gerichtsbarkeit eingegliedert wäre.

aa) Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers begründet das Absehen von der Strafverfolgung nach § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO nicht die Zuständigkeit des [X.]. Die formelle, materielle und zeitliche Zuständigkeit des [X.] ergibt sich vielmehr aus Art. 5, 11 und 12 des [X.]s. Der von dem Beschwerdeführer angesprochene Art. 17 Abs. 1 des [X.]s enthält den Grundsatz der Komplementarität (vgl. [X.], [X.] [X.] 2003, [X.] ff.) und betrifft die Zulässigkeit eines Verfahrens vor dem [X.]. Danach kann der [X.] nur tätig werden, wenn der zuständige Staat nicht willens oder fähig ist, Ermittlungen oder die Strafverfolgung durchzuführen. Ein Verfahren vor dem [X.] ist daher grundsätzlich unzulässig, wenn ein nationales Verfahren stattfindet beziehungsweise bereits stattgefunden hat (Art. 17 Abs. 1 lit. a bis c des [X.]s) oder die in Rede stehende Tat nicht ausreichend schwer ist, um ein Eingreifen durch den [X.] zu rechtfertigen (Art. 17 Abs. 1 lit. d des [X.]s).

Das Beschwerdevorbringen könnte zwar dahingehend interpretiert werden, dass das Absehen von der Strafverfolgung nach § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO zumindest zur Zulässigkeit eines Verfahrens vor dem [X.] führt. Auch dies ist jedoch nicht der Fall. Wenn Art. 17 Abs. 1 lit. a und b des [X.]s wörtlich zu verstehen und der zuständige Staat der Staat wäre, "der Gerichtsbarkeit [...] hat", müsste das Absehen von der Strafverfolgung in [X.] zur Unzulässigkeit eines Strafverfahrens vor dem [X.] führen (Art. 17 Abs. 1 lit. b des [X.]s). Wenn Art. 17 Abs. 1 lit. a und b des [X.]s hingegen mit dem juristischen Schrifttum restriktiv dahingehend ausgelegt werden würde, dass nur dem [X.]staat und dem Heimatstaat von Täter oder Opfer, nicht aber dem nach dem Weltrechtsprinzip vorgehenden [X.] eine Vorrangzuständigkeit gegenüber dem [X.] eingeräumt werde (vgl. [X.], [X.], S. 617 <625>; Schoreit, in: [X.] Kommentar zur StPO, 6. Aufl. 2008, § 153f StPO Rn. 3; [X.], in: [X.] Kommentar zum StGB, Bd. 6/2, 1. Aufl. 2009, § 1 [X.] Rn. 23), wäre ein Strafverfahren vor dem [X.] bereits unabhängig von dem Absehen von der Strafverfolgung nach § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO zulässig.

bb) Gegen eine funktionelle Verschränkung der nationalen und der internationalen Strafgerichtsbarkeit spricht zudem, dass die Staatsanwaltschaft anders als bei den "beweglichen Zuständigkeiten" (vgl. [X.] 9, 223 <226>; 22, 254 <260>), die der Beschwerdeführer zum Vergleich heranzieht, kein Wahlrecht hat, vor welchem Gericht sie wegen einer Tat, die nach den §§ 6 bis 14 [X.] strafbar ist, anklagt. Sie kann nur vor einem [X.]n Gericht anklagen, nicht aber vor dem [X.].

2. Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (vgl. § 40 Abs. 3 GO[X.]).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 1/11

01.03.2011

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

Art 101 Abs 1 S 2 GG, Art 17 Abs 1 Buchst a IStGHStat, § 153f Abs 2 S 1 Nr 4 StPO, § 11 VStGB, § 4 VStGB, § 7 VStGB, § 8 VStGB, § 9 VStGB

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 01.03.2011, Az. 2 BvR 1/11 (REWIS RS 2011, 9010)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 9010

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

4 BGs 1/11

4 BGs 1/11

Zitiert

2 BvR 2661/06

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