Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10.12.2020, Az. IX ZR 242/19

9. Zivilsenat | REWIS RS 2020, 2117

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Gegenstand

(Rechtliches Gehör: Berufungsverwerfung ohne Zeugenvernehmung des Instanzbevollmächtigten zum fristgemäßen Einwurf der Berufungsschrift in den gerichtlichen Nachtbriefkasten)


Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten wird die Revision gegen das Urteil der 7. Zivilkammer des [X.] vom 29. August 2019 zugelassen.

Auf die Revision des Beklagten wird das vorbezeichnete Urteil aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 3.000 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Klägerin nimmt den [X.]n aus ungerechtfertigter Bereicherung auf Zahlung von 3.000 € nebst Zinsen in Anspruch. Der [X.] bestreitet eine ungerechtfertigte Bereicherung, er behauptet einen Darlehensrückzahlungsanspruch in übersteigender Höhe. Das Amtsgericht hat den [X.]n antragsgemäß verurteilt. Das Urteil ist ihm am 19. März 2019 zugestellt worden. Seine Berufungsschrift ist in den Nachtbriefkasten des [X.] eingeworfen worden. Dem von der zuständigen Wachtmeisterin auf der Berufungsschrift angebrachten Eingangsstempel sind das Wort "Nachtbriefkasten" und das Datum 24. April 2019 (Mittwoch nach [X.]) zu entnehmen.

2

Gemäß Verfügung des Vorsitzenden der Berufungskammer vom 30. Juli 2019 ist der [X.] darauf hingewiesen worden, dass seine Berufung ausweislich des [X.] verspätet eingelegt worden sei. Mit Schriftsatz vom 6. August 2019 hat daraufhin der [X.] unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung seiner Instanzbevollmächtigten, eines Auszugs aus dem Fahrtenbuch des von der Bevollmächtigten genutzten Fahrzeugs und eines Auszugs aus dem in der Kanzlei der Bevollmächtigten geführten [X.] behauptet, die Berufungsschrift sei schon am späten Nachmittag des 23. April 2019 in den Nachtbriefkasten eingeworfen worden.

3

Das Berufungsgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung des stellvertretenden Leiters der Wachtmeisterei, des für die Technik des [X.] verantwortlichen Wachtmeisters und der Wachtmeisterin, die den Eingangsstempel auf der Berufungsschrift angebracht hat. Die Instanzbevollmächtigte des [X.]n hat es angehört. Hiernach hat es die Berufung des [X.]n durch Urteil als unzulässig verworfen. Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde begehrt der [X.] die Zulassung der Revision. Er will weiterhin die Abweisung der Klage erreichen.

II.

4

Die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.]n ist ohne Rücksicht auf den Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer zulässig, weil die Berufung als unzulässig verworfen worden ist (§ 26 Nr. 8 Satz 2 EGZPO; jetzt § 544 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Die Revision ist zuzulassen und begründet, weil das angefochtene Urteil den Anspruch des [X.]n auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

5

1. Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Dem [X.]n sei es nicht gelungen, das Gericht vom rechtzeitigen Eingang der Berufungsschrift zu überzeugen. Die durchgeführte Beweisaufnahme habe keine Zweifel an der Ordnungsgemäßheit des Entleerens des [X.] und des Anbringens des [X.] ergeben. Dem [X.]n sei der Gegenbeweis durch die eidesstattliche Versicherung seiner Prozessbevollmächtigten, den Auszug aus dem Fahrtenbuch und den Auszug aus dem [X.] nicht gelungen.

6

Dem [X.]n sei auch nicht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Er sei nicht ohne sein Verschulden gehindert gewesen, die Frist zur Einlegung der Berufung einzuhalten. Der [X.] müsse sich das Verschulden seiner Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen. Es sei davon auszugehen, dass diese die Berufungsschrift verspätet in den Nachtbriefkasten eingeworfen habe.

7

2. Das hält rechtlicher Prüfung in einem entscheidenden Punkt nicht stand und verletzt den Anspruch des [X.]n auf rechtliches Gehör und auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip) in entscheidungserheblicher Weise.

8

a) Der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts trifft zu.

9

aa) Im Rahmen der von Amts wegen vorzunehmenden Prüfung der Zulässigkeit der Berufung (§ 522 Abs. 1 ZPO) hat der Berufungsführer den rechtzeitigen Eingang der Berufungsschrift zu beweisen ([X.], Beschluss vom 28. Januar 2020 - [X.] 39/19, NJW-RR 2020, 499 Rn. 13 mwN). Die Beweiserhebung folgt den Regeln des [X.] ([X.], Beschluss vom 21. Februar 2007 - [X.] 37/06, BeckRS 2007, 4174 Rn. 8; vom 22. Dezember 2011 - [X.]/11, [X.], 539 Rn. 9). Das Gericht ist daher weder von einem Beweisantritt der [X.]en abhängig noch auf die gesetzlichen Beweismittel beschränkt. Im Rahmen des [X.] können deshalb auch eidesstattliche Versicherungen berücksichtigt werden ([X.], Beschluss vom 16. Januar 2007 - [X.] 75/06, NJW 2007, 1457 Rn. 8; vom 12. März 2020 - [X.], [X.], 740 Rn. 10).

bb) Der gerichtliche Eingangsstempel erbringt den vollen Beweis für einen an diesem Tag erfolgten Eingang der Berufungsschrift. Dieser Beweis kann jedoch gemäß § 418 Abs. 2 ZPO durch den Nachweis der Unrichtigkeit des durch den Eingangsstempel ausgewiesenen Zeitpunkts entkräftet werden. Dabei genügt die bloße Glaubhaftmachung im Sinne des § 294 Abs. 1 ZPO nicht. Obgleich wegen der Beweisnot des Berufungsführers hinsichtlich gerichtsinterner Vorgänge die Anforderungen an diesen Gegenbeweis nicht überspannt werden dürfen, erfordert er die volle Überzeugung des Gerichts (§ 286 Abs. 1 ZPO) vom rechtzeitigen Eingang (vgl. [X.], Urteil vom 30. März 2000 - [X.], [X.], 1872, 1873; Beschluss vom 28. Januar 2020, aaO Rn. 13 f). Da der außenstehende Berufungsführer in der Regel keinen Einblick in die Funktionsweise des gerichtlichen [X.] sowie in das Verfahren bei dessen Leerung und damit keinen Anhaltspunkt für etwaige Fehlerquellen hat, ist es zunächst Sache des Gerichts, die insoweit zur Aufklärung nötigen Maßnahmen zu ergreifen (vgl. [X.], Urteil vom 30. März 2000, aaO; Beschluss vom 28. Januar 2020, aaO Rn. 14).

b) Im Ansatz zutreffend hat danach das Berufungsgericht Beweis erhoben über die Funktionsweise des [X.] und das Verfahren bei dessen Leerung. Dass es hierzu den stellvertretenden Leiter der Wachtmeisterei, den für die Technik des [X.] verantwortlichen Wachtmeister und die Wachtmeisterin vernommen hat, die den Eingangsstempel auf der Berufungsschrift angebracht hat, begegnet im Grundsatz keinen Bedenken. Das Berufungsgericht durfte die Berufung jedoch nicht als unzulässig verwerfen, ohne zumindest auch noch die Instanzbevollmächtigte des [X.]n als Zeugin zu vernehmen.

aa) Der [X.] hat behauptet, die Berufungsschrift sei schon am späten Nachmittag des 23. April 2019 und damit fristgemäß in den Nachtbriefkasten des [X.] eingeworfen worden. Hierzu hat er eine eidesstattliche Versicherung seiner Instanzbevollmächtigten vorgelegt, welche die Berufungsschrift persönlich in den Briefkasten eingeworfen haben will. Außerdem hat der [X.] einen Auszug aus dem Fahrtenbuch des von der Bevollmächtigten genutzten Fahrzeugs und einen Auszug aus dem in der Kanzlei der Bevollmächtigten geführten [X.]s zu den Akten gereicht. Diese Schriftstücke lassen sich mit der eidesstattlichen Versicherung in Einklang bringen. Den Nachweis der Unrichtigkeit des durch den Eingangsstempel ausgewiesenen [X.] hat das Berufungsgericht aufgrund der vorgelegten Unterlagen nicht als geführt angesehen.

bb) Reicht - wie hier - eine eidesstattliche Versicherung für die erforderliche Überzeugungsbildung im Freibeweisverfahren nicht aus, hat das Gericht einen entsprechenden Hinweis zu erteilen und Gelegenheit zu geben, Zeugenbeweis anzutreten oder auf andere Beweismittel zurückzugreifen. Sodann hat es - auf Antrag der [X.] oder von Amts wegen - über die behaupteten Umstände Beweis zu erheben ([X.], Beschluss vom 21. Februar 2007 - [X.] 37/06, BeckRS 2007, 4174 Rn. 8; vom 28. Januar 2020 - [X.] 39/19, NJW-RR 2020, 499 Rn. 18; vom 28. Januar 2020 - [X.]/17, NJW 2020, 1225 Rn. 10).

cc) Danach hatte das Berufungsgericht zumindest die Instanzbevollmächtigte des [X.]n als Zeugin zu dem behaupteten fristgemäßen Einwurf der Berufungsschrift in den Nachtbriefkasten des [X.] zu vernehmen. Die bloße Anhörung der Bevollmächtigten genügte nicht. Deren Vernehmung als Zeugin war nicht von einem ausdrücklichen Beweisantritt abhängig (vgl. [X.], Beschluss vom 12. März 2020, aaO). Überdies war das Berufungsgericht gehalten, in der eidesstattlichen Versicherung auch ein Angebot zur Vernehmung der Instanzbevollmächtigten als Zeugin zu sehen (vgl. [X.], Beschluss vom 11. November 2009 - [X.] 174/08, [X.], 122 Rn. 9; vom 8. Mai 2018 - [X.], [X.], 1074 Rn. 12).

dd) In der unterbliebenen Vernehmung der Instanzbevollmächtigten des [X.]n als Zeugin liegt eine Verletzung seines aus Art. 103 Abs. 1 GG folgenden Anspruchs auf rechtliches Gehör (vgl. [X.], Beschluss vom 22. Dezember 2011 - [X.]/11, [X.], 539 Rn. 12) und des Rechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip). Die Verletzung der Verfahrensgrundrechte ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die unterbliebene Zeugenvernehmung der Berufung des [X.]n zum Erfolg verholfen hätte.

III.

Das angefochtene Urteil kann folglich keinen Bestand haben. Es ist aufzuheben. Der Rechtsstreit ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 9 ZPO). Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

1. Die gemäß § 160 Abs. 3 Nr. 4 ZPO notwendige Protokollierung der Aussagen der bisher vernommenen Zeugen ist unterblieben. Die Ausnahmevorschrift des § 161 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist nicht einschlägig. Die auszugsweise Wiedergabe der Aussagen in den Gründen des angefochtenen Urteils reicht nicht aus (vgl. [X.], Urteil vom 29. Mai 2009 - [X.], NJW-RR 2010, 63 Rn. 8). Die Beweisaufnahme wird daher insgesamt zu wiederholen sein.

2. Im Blick auf die Würdigung der zu erhebenden Beweise sieht der Senat Veranlassung zu folgenden Anmerkungen.

a) Nach den bisher getroffenen Feststellungen bietet das geübte Verfahren der Leerung des [X.] keinen hinreichenden Schutz vor einer Vermengung der vor und nach 0 Uhr eingeworfenen Post. Zwar wird die Post getrennt entnommen, dann aber zusammen auf einem Stapel in das Dienstzimmer gebracht, wo die Eingangsstempel angebracht werden. Dabei soll die fortlaufende Unterscheidung ersichtlich nur dadurch gewährleistet werden, dass die Post des aktuellen Tags "quer" auf den Stapel der Post des Vortags gelegt wird. Unterschiedliche Behältnisse, die eine sichere Trennung ermöglichten, werden ersichtlich nicht genutzt. Das geübte Verfahren ist nicht hinreichend verlässlich. Schon wenn einzelne Eingänge auf dem Transport in das Dienstzimmer verrutschen oder hinunterfallen, ist die erforderliche Unterscheidung nicht mehr gewährleistet. Vor diesem Hintergrund kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die dem Nachtbriefkasten entnommene Post stets dem richtigen Eingangsdatum zugeordnet wird.

Den daraus im Blick auf die Richtigkeit des auf der Berufungsschrift des [X.]n angebrachten [X.] folgenden Zweifeln kann nach den bisherigen Feststellungen nicht auf andere Weise Schweigen geboten werden. Die zuständige Wachtmeisterin hatte weder Erinnerungen an den konkreten Tag der Entleerung des [X.] noch an die Berufungsschrift selbst. Wie sie vor diesem Hintergrund ausschließen konnte, dass ihr "die Post" hinuntergefallen ist oder diese vermengt wurde, ist nicht im Ansatz ersichtlich.

b) Es widerspricht den Gesetzen der Denklogik, wenn einer Tatsache Indizwirkungen beigemessen werden, die diese nicht haben kann (vgl. [X.], Urteil vom 14. Januar 1993 - [X.], NJW 1993, 935, 938). So verhält es sich mit der Würdigung des Umstands durch das Berufungsgericht, der [X.] habe keinen Beweis dafür erbracht, dass auf der bei der Instanzbevollmächtigten verbliebenen Ausfertigung der Berufungsschrift der Einwurf in den Nachtbriefkasten nebst Datum und Unterschrift vermerkt war. Ein solcher Vermerk ist weder allgemein üblich noch kann von einer entsprechenden ständigen Übung der Instanzbevollmächtigten ausgegangen werden. Auch der Umstand, dass die Bevollmächtigte die Berufungsschrift nicht vorab per Telefax an das Gericht übersandt hat, spricht nicht gegen den fristwahrenden Einwurf in den Nachtbriefkasten. Wäre eine Übersendung vorab per Telefax erfolgt, hätte nämlich kein Bedarf für einen Einwurf in den Nachtbriefkasten bestanden.

c) Das Berufungsgericht wird zu berücksichtigen haben, dass die Berufungsschrift auf der Geschäftsstelle ausweislich der an diesem Tag getroffenen Verfügung schon am 24. April 2019 vorgelegen hat. Vor diesem Hintergrund könnte der Eingangsstempel nur dann richtig sein, wenn der Schriftsatz zwischen 0 Uhr und der Entleerung des [X.] am Morgen des 24. April 2019 eingeworfen worden wäre.

Grupp     

        

Lohmann     

        

Möhring

        

Schultz     

        

Selbmann     

        

Meta

IX ZR 242/19

10.12.2020

Bundesgerichtshof 9. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend LG Dessau-Roßlau, 29. August 2019, Az: 7 S 63/19

Art 2 Abs 1 GG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10.12.2020, Az. IX ZR 242/19 (REWIS RS 2020, 2117)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2117

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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(Hinweispflicht eines Gerichts bei unzureichendem Beweisantritt einer Partei bezüglich rechtzeitigem Eingang eines Schriftsatzes)


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VIII ZB 39/19

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I ZB 64/19

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