Bundesfinanzhof, Beschluss vom 04.11.2014, Az. I R 19/13

1. Senat | REWIS RS 2014, 1679

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Gegenstand

Statthaftigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage - Lösung eines sog. DBA-Dreieckskonflikts bei Mehrfachansässigkeit eines Arbeitnehmers - Keine "abkommensübergreifende" Anwendung einer abkommensrechtlichen Ansässigkeitsfiktion


Leitsatz

1. NV: Dass dem Verpflichtungsbegehren des Klägers (hier: Erteilung einer Freistellungsbescheinigung nach § 39d Abs. 3 Satz 4 i.V.m. § 39b Abs. 6 EStG 2009) schon vor Klageerhebung nicht mehr entsprochen werden konnte, steht der Statthaftigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage nicht entgegen .

2. NV: Die Fiktion einer Ansässigkeit nach der sog. Tie-breaker-rule eines Abkommens (nur) in dem Vertragsstaat, in dem der Steuerpflichtige den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen hat, kann nicht "abkommensübergreifend" zur Anwendung gebracht werden .

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist [X.]rbeitnehmer bei einem inländischen Unternehmen und erzielte im Jahre 2010 aus dieser Tätigkeit Einkünfte aus nichtselbständiger [X.]rbeit. Er hat einen Wohnsitz in [X.] ([X.]), an den er nach der [X.]rbeit im Inland in der Regel zurückkehrt. Daneben unterhält er seinen Familienwohnsitz in [X.] ([X.]).

2

[X.]m 12. März 2010 beantragte der Kläger beim [X.]eklagten und Revisionskläger (Finanzamt --F[X.]--) die Freistellung vom Lohnsteuerabzug nach § 39d [X.]bs. 3 Satz 4 i.V.m. § 39b [X.]bs. 6 des Einkommensteuergesetzes 2009 i.d.F. bis zur Änderung durch das [X.]eitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz vom 7. Dezember 2011 ([X.]G[X.]l I 2011, 2592, [X.]St[X.]l I 2011, 1171) --EStG 2009 a.F.-- und berief sich darauf, dass er als Grenzgänger i.S. des [X.]rt. 13 [X.]bs. 5 des [X.]bkommens zwischen der [X.]undesrepublik [X.] und der [X.] zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und über gegenseitige [X.]mts- und Rechtshilfe auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern vom 21. Juli 1959 ([X.]G[X.]l II 1961, 398, [X.]St[X.]l I 1961, 343) i.d.F. vom 28. September 1989 ([X.]G[X.]l II 1990, 772, [X.]St[X.]l I 1990, 414) --D[X.][X.]-[X.] [X.] mit seinen Einkünften aus nichtselbständiger [X.]rbeit in [X.] zu besteuern sei und deshalb nicht dem inländischen Lohnsteuerabzug unterliege. Das F[X.] folgte dem nicht und lehnte mit [X.]escheid vom 28. Mai 2010 den [X.]ntrag ab. Es sei das [X.]bkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung mit dem Staat anzuwenden, in dem sich der Mittelpunkt der Lebensinteressen des Steuerpflichtigen befinde. Dies sei, weil sich der Familienwohnsitz des [X.] in [X.] befinde, das [X.]bkommen zwischen der [X.]undesrepublik [X.] und der Republik [X.] zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 24. [X.]ugust 2000 ([X.]G[X.]l II 2002, 734, [X.]St[X.]l I 2002, 584) --D[X.][X.]-[X.] 2000--. Danach stehe der [X.]undesrepublik [X.] ([X.]) nach [X.]rt. 15 [X.]bs. 1 D[X.][X.]-[X.] 2000 das [X.]esteuerungsrecht zu.

3

Die dagegen beim Finanzgericht ([X.]) zunächst als Verpflichtungsklage erhobene und später als Fortsetzungsfeststellungsklage fortgeführte Klage (Eingang beim [X.] am 1. März 2011) war erfolgreich ([X.] [X.]aden-Württemberg, [X.]ußensenate Freiburg, Urteil vom 26. September 2012  2 K 776/11, abgedruckt in Entscheidungen der Finanzgerichte 2013, 707). Entgegen der [X.]uffassung des F[X.] könne der Kläger aufgrund seiner [X.]nsässigkeit in [X.] wie in [X.] [X.]bkommensschutz sowohl nach dem D[X.][X.]-[X.] 1989 als auch nach dem D[X.][X.]-[X.] 2000 beanspruchen. [X.]rt. 13 [X.]bs. 5 D[X.][X.]-[X.] 1989 weise [X.] das [X.]esteuerungsrecht zu, während [X.]rt. 15 [X.]bs. 1 D[X.][X.]-[X.] 2000 [X.] das [X.]esteuerungsrecht zuweise. Diese Normenkollision sei zugunsten der spezielleren Regelung, der Grenzgängerregelung des D[X.][X.]-[X.] 1989, aufzulösen.

4

Dagegen wendet sich das F[X.] mit seiner Revision, die es auf eine Verletzung materiellen Rechts stützt. Es beantragt, das Urteil des [X.] aufzuheben und die Klage abzuweisen.

5

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

6

II. Die Entscheidung ergeht gemäß § 126a der Finanzgerichtsordnung ([X.]O). Der [X.] hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind davon unterrichtet worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Das [X.] hat im Ergebnis zutreffend erkannt, dass die Weigerung des [X.], dem Kläger eine Freistellungsbescheinigung zu erteilen, rechtswidrig war.

7

1. Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist zulässig (§ 100 [X.]bs. 1 Satz 4 [X.]O), weil der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der [X.]blehnung der Erteilung einer Freistellungsbescheinigung hat. Das berechtigte Interesse besteht unter dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie sowie der Wiederholungsgefahr (vgl. allgemein Urteil des [X.] --[X.]-- vom 7. Juni 1989 [X.], [X.], 370, [X.] 1989, 976; [X.]surteile vom 23. September 2008 I R 57/07, [X.], 390; vom 11. Juli 2012 I R 76/11, [X.], 1966).

8

Dem steht nicht entgegen, dass die ursprünglich erhobene Verpflichtungsklage bereits bei Eingang der Klage beim [X.] am 1. März 2011 unzulässig gewesen sei. Zwar darf gemäß § 41c [X.]bs. 3 EStG 2009 der Lohnsteuerabzug nach [X.]blauf des Kalenderjahres nur bis zur Übermittlung oder [X.]usschreibung der Lohnsteuerbescheinigung geändert werden. Da die Lohnsteuerbescheinigung spätestens bis zum 28. Februar des Folgejahres zu übermitteln ist (§ 41b [X.]bs. 1 Satz 2 EStG 2009), kann das abgeschlossene Lohnkonto des Klägers ab diesem Zeitpunkt nicht mehr geändert werden. Seinem [X.]ntrag auf Freistellung vom Lohnsteuerabzug für das [X.] konnte damit mit [X.]blauf dieser Frist am 28. Februar 2011 nicht mehr entsprochen werden. Dies führt jedoch entgegen der [X.]uffassung der Revision nicht dazu, dass die ursprünglich erhobene Verpflichtungsklage nicht als Fortsetzungsfeststellungsklage weitergeführt werden kann.

9

Nach § 100 [X.]bs. 1 Satz 4 [X.]O kann, wenn ein mit der Klage angefochtener Verwaltungsakt sich im Verlauf des Klageverfahrens erledigt hat, das Gericht unter bestimmten Voraussetzungen auf [X.]ntrag die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts feststellen. Diese Regelung ist nach der Rechtsprechung des [X.] entsprechend anzuwenden, wenn ein Verwaltungsakt sich schon vor der Klageerhebung erledigt hat ([X.]-Urteile vom 7. November 1985 IV R 6/85, [X.]E 145, 23, [X.] 1986, 435; vom 10. [X.]pril 1990 VIII R 415/83, [X.]E 160, 409, 411, [X.] 1990, 721, 722; vom 2. Juni 1987 VIII R 192/83, [X.]/NV 1988, 104). Die in § 100 [X.]bs. 1 Satz 4 [X.]O vorgesehene Entscheidung in [X.] findet auf Verpflichtungsbegehren entsprechend [X.]nwendung, da diese regelmäßig ein [X.]nfechtungsbegehren mit umfassen (vgl. [X.]-Urteile vom 12. Juni 1996 II R 71/94, [X.]/NV 1996, 873; vom 29. Januar 2003 XI R 82/00, [X.]E 201, 399, [X.] 2003, 550; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 7. [X.]ufl., § 100 Rz 55; [X.] in Tipke/[X.], [X.]bgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 100 [X.]O Rz 46 f.; Lange in [X.]/[X.]/[X.], § 101 [X.]O Rz 63). Dass dem Verpflichtungsbegehren des Klägers schon vor Klageerhebung nicht mehr entsprochen werden konnte, steht damit der [X.] der Fortsetzungsfeststellungsklage nicht entgegen.

2. Dem [X.] ist weiter auch darin zuzustimmen, dass das [X.] verpflichtet war, dem Kläger eine Freistellungsbescheinigung nach § 39d [X.]bs. 3 Satz 4 und § 39b [X.]bs. 6 EStG 2009 a.[X.]. [X.]rt. 13 [X.]bs. 5 DB[X.]-[X.] 1989 zu erteilen. Das Besteuerungsrecht für die vom Kläger erzielten Einkünfte steht [X.] nicht zu.

a) Der Kläger ist gemäß § 1 [X.]bs. 4 i.V.m. § 49 [X.]bs. 1 Nr. 4 Buchst. a EStG 2009 in [X.] beschränkt steuerpflichtig, da er --ohne einen inländischen Wohnsitz i.S. des § 8 der [X.]bgabenordnung ([X.]) oder einen gewöhnlichen [X.]ufenthalt i.S. des § 9 [X.] im Inland zu haben-- mit seiner in [X.] ausgeübten Tätigkeit als [X.]rbeitnehmer Einkünfte aus nichtselbständiger [X.]rbeit erzielt hat. Dies ist unter den Beteiligten nicht im Streit und bedarf keiner weiteren [X.]usführungen.

b) Das [X.] nach innerstaatlichem Recht zustehende Besteuerungsrecht für die Einkünfte aus nichtselbständiger [X.]rbeit wird durch das [X.] nicht beschränkt. Der Kläger hatte in den Streitjahren in [X.], nicht aber in [X.] abkommensrechtlich einen Wohnsitz. Der damit nach Maßgabe des [X.]rt. 4 [X.]bs. 1 [X.] in [X.] ansässige Kläger erzielte nach der Grundregel des [X.]rt. 15 [X.]bs. 1 [X.] Vergütungen aus unselbständiger [X.]rbeit, die in [X.] besteuert werden dürfen, da die [X.]rbeit dort ausgeübt wurde ([X.]rt. 15 [X.]bs. 1 Satz 1 und 2 [X.]). Da im Streitfall nach den insoweit bindenden Feststellungen des [X.] (§ 118 [X.]bs. 2 [X.]O) weder die in [X.]rt. 15 [X.]bs. 2 [X.] --die Vergütungen werden von einem inländischen [X.]rbeitgeber gezahlt-- noch die in [X.]rt. 15 [X.]bs. 6 [X.] --der Kläger ist kein Grenzgänger in Bezug auf seinen Wohnsitz in [X.]-- bezeichneten [X.]usnahmen von dieser Regelung einschlägig sind, steht das Besteuerungsrecht für die Einkünfte aus unselbständiger [X.]rbeit grundsätzlich [X.] als [X.] zu. [X.] als Wohnsitzstaat darf in diesem Fall die betreffenden Einkünfte nicht besteuern ([X.]rt. 23 [X.]bs. 2 Buchst. a [X.]). [X.]uch das ist zwischen den Beteiligten unstreitig.

c) Die [X.]usübung des inländischen Besteuerungsrechts für die Einkünfte, die aus der Tätigkeit des nach der Maßgabe des [X.]rt. 2 [X.]bs. 1 Nr. 4 Buchst. a DB[X.]-[X.] 1989 aufgrund seines Wohnsitzes in [X.] ansässigen Klägers in [X.] herrühren, ist jedoch durch [X.]rt. 13 [X.]bs. 5 DB[X.]-[X.] 1989 ausgeschlossen. Die Vorschrift bestimmt, dass Einkünfte aus nichtselbständiger [X.]rbeit von Personen, die im Grenzgebiet eines Vertragsstaates arbeiten und ihre ständige Wohnstätte, zu der sie regelmäßig jeden Tag zurückkehren, im Grenzgebiet des anderen Vertragsstaates haben, nur in diesem anderen Staat besteuert werden. [X.]uch dies ist unter den Beteiligten nicht im Streit. Die Einkünfte unterliegen damit ausschließlich einer Besteuerung in [X.].

d) Davon ausgehend kommt es auf die Doppelansässigkeit des Klägers aufgrund seiner Wohnsitze sowohl in [X.] als auch in [X.] nicht an. [X.]rt. 2 [X.]bs. 1 Nr. 4 Buchst. b DB[X.]-[X.] 1989 (die sog. Tie-breaker-rule) bestimmt zwar [X.] wie [X.]rt. 4 [X.]bs. 2 Buchst. a [X.]-- für den Fall einer solchen Doppelansässigkeit eine abgestufte "Nähe" zu dem jeweils anderen Vertragsstaat und bestimmt danach die abkommensrechtlich relevante [X.]nsässigkeit und damit die [X.]bkommensberechtigung der doppelt ansässigen Person. Doch betrifft diese Bestimmung der [X.]bkommensberechtigung stets nur die Vertragsstaaten der jeweiligen bilateralen [X.]bkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, hier also --bezogen auf das DB[X.]-[X.] [X.] [X.] und [X.]. Eine sich auf unterschiedliche [X.] erstreckende "abkommensübergreifende" Wirkung kommt jener Regelung indessen nicht zu; solches ergibt sich weder aus den [X.]nwendungsbestimmungen des DB[X.]-[X.] 1989 (oder des [X.]) noch aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Das liegt auf der Hand und bedarf keiner weiteren Erläuterung.

3. [X.] ergeht nach § 135 [X.]bs. 2 [X.]O.

Meta

I R 19/13

04.11.2014

Bundesfinanzhof 1. Senat

Beschluss

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 26. September 2012, Az: 2 K 776/11, Urteil

Art 2 Abs 1 Nr 4 Buchst b DBA FRA, Art 13 Abs 5 DBA FRA, Art 4 Abs 2 Buchst a DBA AUT, Art 15 Abs 1 DBA AUT, § 39b Abs 6 EStG 2009, § 39d Abs 3 S 4 EStG 2009, § 41b Abs 1 EStG 2009, § 41c Abs 3 EStG 2009, § 100 Abs 1 S 4 FGO, EStG VZ 2010, § 40 Abs 1 FGO, § 1 Abs 4 EStG 2009, § 49 Abs 1 Nr 4 Buchst a EStG 2009

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 04.11.2014, Az. I R 19/13 (REWIS RS 2014, 1679)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 1679

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7 K 1827/18

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