Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.05.2020, Az. 1 StR 635/19

1. Strafsenat | REWIS RS 2020, 1880

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Gegenstand

Umsatzsteuerhinterziehung: Erforderlicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 24. Juli 2019 mit den Feststellungen zum Wissensstand des Angeklagten über die Einbindung der [X.] in ein Umsatzsteuerbetrugssystem vor der Umsatzsteuernachschau am 3. August 2011 aufgehoben

a) in den Fällen 1 und 2 der Urteilsgründe,

b) im Strafausspruch im Fall 3 der Urteilsgründe und

c) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in neun Fällen sowie wegen versuchter Steuerhinterziehung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt; zudem hat es gegen ihn die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 46.440,30 Euro angeordnet. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat mit der Sachrüge in dem aus der [X.] ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

2

1. Nach den Feststellungen des [X.]s war der Angeklagte Gesellschafter und faktischer Geschäftsführer der [X.], die im Jahr 2011 begann, mit [X.] ([X.]) Handel zu treiben. Diese Gesellschaft hatte in einem von einer britisch-pakistanischen Tätergruppierung mit [X.] betriebenen „[X.]modell“ die Funktion eines sog. Buffers inne. In den Monaten Mai 2011 bis Juni 2012 veräußerte die [X.] [X.] in einem Gesamtvolumen von mehr als 69 Mio. Euro an die [X.], bei der es sich - mit der Ausnahme eines Geschäftes im Dezember 2011 - um ihre einzige Abnehmerin von [X.] handelte. Die Kathoden wurden im Rahmen eines Streckengeschäftes unter Einschaltung von Speditionen - ohne Betrieb eines eigenen Lagers seitens der [X.] - unter dem Börsenpreis der [X.] an die [X.] weiterverkauft ([X.] 16).

3

Aus Anlass einer [X.] wurde der Angeklagte am 3. August 2011 von einem Beamten der [X.] „[X.] [X.]“ (Zentrale [X.] zur [X.]bekämpfung) über die Funktionsweise des „[X.]“ aufgeklärt. Der Finanzbeamte kündigte unter ausdrücklichem Hinweis auf die ungewöhnliche Geschäftsentwicklung der [X.] mit einer enormen Umsatzsteigerung sowie der Unerfahrenheit des Angeklagten an, eine Kettenprüfung anzustoßen, um die Lieferanten und Vorlieferanten sowie die Abnehmerin der [X.] zu überprüfen. Spätestens nach dieser Aufklärung hielt es der Angeklagte für möglich, in eine auf Umsatzsteuerhinterziehung ausgerichtete Lieferkette eingebunden zu sein. Gleichwohl setzte er seine Geschäfte fort und nahm billigend in Kauf, dass es bei den in Zukunft abzugebenden Umsatzsteuererklärungen durch den Ansatz der Vorsteuern aus den Rechnungen der [X.] zu Steuerverkürzung kommen könnte bzw. dass diese Gesellschaft ungerechtfertigte Steuervorteile in Form einer Steuervergütung erlangen würde ([X.] 20).

4

Zwischen 21. Oktober 2011 und 3. Juli 2012 ließ der Angeklagte durch eine Steuerberatungskanzlei für die Voranmeldungszeiträume 2. Quartal 2011 sowie Juli 2011 bis Mai 2012 Umsatzsteuervoranmeldungen der [X.] einreichen, in denen die von den Lieferanten ausgewiesene Umsatzsteuer als Vorsteuer geltend gemacht wurde. Die Gesellschaften, von denen die [X.] die [X.] bezog, waren jeweils Teil einer auf „[X.]“ angelegten Lieferkette, was der Angeklagte spätestens seit dem 3. August 2011 für möglich hielt und bei Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen auch billigend in Kauf nahm. Nach den Berechnungen des [X.]s entstand durch die unberechtigte Geltendmachung von [X.] eine Steuerverkürzung von insgesamt mehr als 13 Mio. Euro ([X.] 34). Für die Voranmeldungszeiträume August und Dezember 2011 sowie Februar 2012 (Fälle 1, 7 und 9 der Urteilsgründe) verweigerte das Finanzamt die Zustimmung zu den Steueranmeldungen (vgl. § 168 Satz 2 [X.]).

5

2. Die erhobene Verfahrensrüge hat aus den vom [X.] in seiner Antragsschrift genannten Gründen keinen Erfolg.

6

3. Die Verurteilung des Angeklagten in den Fällen 1 und 2 der Urteilsgründe und der Strafausspruch im Fall 3 der Urteilsgründe halten sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Damit kann auch der Ausspruch über die Gesamtstrafe keinen Bestand haben.

7

a) Der Schuldspruch in den Fällen 1 und 2 der Urteilsgründe ist rechtsfehlerhaft, weil das [X.] die fehlende Berechtigung der [X.] zum Vorsteuerabzug in den diesen Fällen zugrundeliegenden Voranmeldungszeiträumen (2. Quartal 2011 und Juli 2011) nicht tragfähig begründet hat.

8

aa) Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG kann ein Unternehmer die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, in Abzug bringen. Für die Frage, wann die Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug vorliegen müssen, kommt es dabei nicht auf den Zeitpunkt der Abgabe der Steueranmeldung an, in welcher der Vorsteuerabzug vorgenommen wird. Vielmehr ist ein Vorsteuerabzug gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG dann zulässig, wenn dessen Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Ausführung der Lieferungen bzw. sonstigen Leistungen vorlagen ([X.], Beschlüsse vom 1. Oktober 2013 - 1 [X.] Rn. 13, [X.]R UStG § 15 Vorsteuerabzug 5; vom 19. November 2014 - 1 StR 219/14 Rn. 9 f.; vom 2. September 2015 - 1 StR 239/15 Rn. 12 f.; vom 17. September 2019 - 1 [X.] Rn. 8 und vom 20. August 2019 - 1 [X.] Rn. 9). Die Berechtigung zum Vorsteuerabzug entfällt nur dann, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Steuerhinterziehung begeht oder wenn er wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen ist, und er deshalb als Beteiligter dieser Hinterziehung anzusehen ist ([X.], Urteile vom 6. Juli 2006 in den Rechtssachen [X.]/04 und [X.]/04 „Kittel und [X.]", [X.], 1274 Rn. 53, 55 f.; vom 18. Dezember 2014, Rechtssache [X.]/13 u.a. „[X.]“, [X.], 573 Rn. 50, 62 und vom 16. Oktober 2019 - Rechtssache [X.]/8 „[X.]“ Rn. 35 mwN; [X.], Beschlüsse vom 1. Oktober 2013 - 1 [X.] aaO; vom 19. November 2014 - 1 StR 219/14 Rn. 9 f.; vom 2. September 2015 - 1 StR 239/15 Rn. 12; vom 17. September 2019 - 1 [X.] Rn. 8 und vom 20. August 2019 - 1 [X.] Rn. 9; für Voranmeldungs- und Besteuerungszeiträume, die nach dem 31. Dezember 2019 enden [§ 27 Abs. 30 UStG] siehe auch § 25f UStG). Eine einmal bestehende Berechtigung zum Vorsteuerabzug entfällt nicht deshalb nachträglich wieder, weil der Unternehmer nach dem Zeitpunkt der Ausführung der Lieferungen oder sonstigen Leistungen von Umständen Kenntnis erlangt, die einem Vorsteuerabzug entgegengestanden hätten, wenn er sie bereits beim Bezug der Waren bzw. Abwicklung des Geschäfts gekannt hätte ([X.], Beschlüsse vom 1. Oktober 2013 - 1 [X.] aaO; vom 19. November 2014 - 1 StR 219/14 Rn. 9 f.; vom 2. September 2015 - 1 StR 239/15 Rn. 12 f.; vom 17. September 2019 - 1 [X.] Rn. 8 und vom 20. August 2019 - 1 [X.] Rn. 9).

9

bb) Das [X.] geht in Bezug auf die Voraussetzungen für einen Vorsteuerabzug von einem falschen Maßstab aus, indem es hinsichtlich der Berechtigung zum Vorsteuerabzug nicht auf die Ausführung der Lieferungen, sondern auf den Zeitpunkt der Abgabe der jeweiligen Umsatzsteuervoranmeldungen abstellt. Die Feststellung, dass es der Angeklagte „spätestens“ bei Abgabe der ersten Umsatzsteuervoranmeldung am 21. Oktober 2011 billigend in Kauf nahm, dass es durch den Ansatz der Vorsteuerbeträge aus den Rechnungen der Lieferanten der [X.] zu Steuerverkürzungen kommen konnte ([X.] 55), rechtfertigt die Versagung des Vorsteuerabzugs aus vor dem 3. August 2011 getätigten Umsätzen ebenso wenig wie die Feststellung, dass der Angeklagte „spätestens“ ab dem 3. August 2011 „nicht mehr gutgläubig“ war ([X.] 65). Vielmehr hätte es für die vor der [X.] am 3. November 2011 ausgeführten Umsätze der Feststellung objektiver Umstände bedurft, die den Schluss zulassen, dass der Angeklagte wusste oder hätte wissen müssen, dass die [X.] mit ihren Erwerben an Umsätzen teilnahm, die in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen sind (vgl. [X.], Urteil vom 16. Oktober 2019 - Rechtssache [X.]/8 „[X.]“ Rn. 36). Bei dem insoweit maßgeblichen Vorstellungsbild handelt es sich bereits um eine Frage des objektiven Tatbestands der Steuerhinterziehung (vgl. [X.], Beschluss vom 17. September 2019 - 1 [X.] Rn. 12; [X.] wistra 2017, 375, 377 mwN).

cc) Der Senat kann angesichts der vom [X.] genannten Indizien für eine Kenntnis des Angeklagten von der Einbindung der [X.] in ein [X.]system „von Anfang an“ ([X.] 53 ff.) nicht ausschließen, dass weitergehende Feststellungen zum Vorstellungsbild des Angeklagten bei den jeweiligen Lieferungen getroffen werden können, die auch in Bezug auf die Fälle 1 und 2 der Urteilsgründe eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung durch unberechtigte Geltendmachung von [X.] noch rechtfertigen könnten.

b) Im Fall 3 der Urteilsgründe wird zwar der Schuldspruch wegen Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 [X.] von den Feststellungen getragen, weil die Umsatzsteuervoranmeldung für den Monat August 2011 überwiegend Umsätze umfasste, die nach der [X.] vom 3. August 2011 getätigt worden sind und ausgehend vom festgestellten Wissensstand des Angeklagten einen Vorsteuerabzug nicht mehr zuließen. Allerdings hat der diesbezügliche Strafausspruch im Hinblick auf den vom [X.] zugrundegelegten [X.] keinen Bestand, weil die Versagung des Vorsteuerabzugs für davor getätigte Umsätze nicht von den insoweit nicht ausreichenden Feststellungen zum Vorstellungsbild des Angeklagten getragen wird.

4. Angesichts der Aufhebung der Verurteilungen bzw. der Einzelstrafe in den Fällen 1 bis 3 der Urteilsgründe kann auch die Gesamtstrafe keinen Bestand haben.

5. Um dem neuen Tatgericht widerspruchsfreie Feststellungen zum Wissensstand des Angeklagten über die Einbindung der [X.] in ein [X.]system vor der [X.] am 3. August 2011 zu ermöglichen, hebt der Senat die hierzu bisher getroffenen Feststellungen insgesamt auf. Im Übrigen sind die Feststellungen von dem zur Aufhebung von Teilen des Urteils führenden Rechtsfehler nicht betroffen; sie haben daher Bestand (§ 353 Abs. 2 StPO).

6. Das neue Tatgericht wird Gelegenheit haben, den Umstand, dass der Angeklagte in den [X.] eine für Taten verhängte Freiheitsstrafe von fünf Jahren vollständig verbüßt hat, die er nach den hier verfahrensgegenständlichen Taten begangen hat ([X.] 7), im Rahmen der Strafzumessung nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Haftempfindlichkeit zu berücksichtigen (vgl. [X.]/[X.]/[X.], Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl. Teil 6 Rn. 1231).

Raum     

        

Jäger     

        

Bellay

        

Hohoff     

        

Pernice     

        

Meta

1 StR 635/19

12.05.2020

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Bonn, 24. Juli 2019, Az: 27 KLs 6/19

§ 15 Abs 1 S 1 Nr 1 UStG, § 370 Abs 1 Nr 1 AO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.05.2020, Az. 1 StR 635/19 (REWIS RS 2020, 1880)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 1880

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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