Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.09.2011, Az. 4 StR 434/11

4. Strafsenat | REWIS RS 2011, 3227

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Gegenstand

Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: Erfordernis der Anhörung eines Sachverständigen


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 25. Mai 2011 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit von der Anordnung einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden ist.

2. Die weiter gehende Revision wird als unbegründet verworfen.

3. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu erneuter Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Kammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen, in weiterer Tateinheit mit versuchtem schweren Raub, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt. Von der Anordnung seiner Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat es abgesehen. Mit seiner hiergegen eingelegten Revision macht der Angeklagte einen Verstoß gegen § 246a [X.] geltend und rügt die Verletzung materiellen Rechts. Die Nachprüfung des Schuld-, und Strafausspruchs hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 [X.]). Die [X.] einer Maßregel gemäß § 64 StGB hält dagegen rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

I.

2

Die Voraussetzungen für eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat das [X.] ohne sachverständige Hilfe verneint, weil es das Vorliegen eines Hanges im Sinne von § 64 Satz 1 StGB nicht festzustellen vermochte. Zur Begründung hat das [X.] ausgeführt, dass es an hinreichenden Erkenntnissen über die Trinkgewohnheiten des Angeklagten fehle. Zwar habe der Angeklagte schon Straftaten in alkoholisiertem Zustand begangen, doch spreche vieles dafür, dass der Angeklagte lediglich bei gelegentlichen Alkoholeskapaden zu aggressiven Übergriffen neige. Auch seine berufliche und familiäre Integration stünden der Annahme eines Hanges entgegen.

II.

3

Die Erwägungen, mit denen das [X.] die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgelehnt hat, begegnen schon deshalb durchgreifenden rechtlichen Bedenken, weil - wie die Revision zu Recht rügt - entgegen § 246a Satz 2 [X.] kein Sachverständiger hinzugezogen wurde.

4

Nach § 246a Satz 2 [X.] ist ein Sachverständiger über den Zustand des Angeklagten und seine [X.] zu vernehmen, wenn das Gericht eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt erwägt. Diese durch das Gesetz zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vom 16. Juli 2007 (BGBl. I. S. 1327) neu geschaffene Vorschrift ist § 454 Abs. 2 Satz 1 [X.] nachgebildet und trägt nach dem Willen des Gesetzgebers in erster Linie der zugleich vorgenommenen Umwandlung von § 64 StGB in eine Soll-Vorschrift Rechnung (BT-Drucks. 16/1344, [X.]; 16/5137 S. 11; 16/1110, [X.]). Danach ist der Tatrichter auch weiterhin grundsätzlich verpflichtet, einen Sachverständigen anzuhören, wenn nach den Umständen des Einzelfalls eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt in Betracht kommt und deshalb eine Anordnung dieser Maßregel konkret zu erwägen ist ([X.]/[X.], [X.], 26. Aufl., § 246a, Rn. 8; [X.] in [X.], [X.], § 246a, Rn. 2). Von dieser Verpflichtung ist er allerdings dann befreit, wenn er die [X.] nach § 64 StGB allein in Ausübung seines Ermessens nicht treffen will und diese Entscheidung von sachverständigen Feststellungen unabhängig ist (BT-Drucks. 16/1344, [X.]; 16/5137 S. 11; [X.]/[X.], [X.], 26. Aufl., § 246a, Rn. 8; [X.], 6. Aufl., § 246a, Rn. 2). Ob darüber hinaus von einer Begutachtung auch dann abgesehen werden darf, wenn eine grundsätzlich in Betracht kommende [X.] nach § 64 StGB nicht in Erwägung gezogen wird, weil nach den Umständen des Einzelfalls das Fehlen einer hinreichenden Erfolgsaussicht auf der Hand liegt (vgl. BT-Drucks. 16/1110, [X.]; BT-Drucks. 16/1344, [X.]; SK-[X.]/[X.], § 246a, Rn. 6; [X.], [X.], 54. Aufl., § 246a, Rn. 3; a.A. BT-Drucks. 16/5137, S. 11; [X.]/[X.], [X.], 26. Aufl., § 246a, Rn. 8; [X.] in [X.], [X.], § 246a, Rn. 2; [X.] NStZ 2008, 68, 70), braucht der Senat nicht zu entscheiden.

5

Das [X.] hat die Anordnung einer Maßregel nach § 64 StGB im Einzelnen erörtert und damit konkret in Erwägung gezogen. Dabei hat es die Annahme eines Hanges unter anderem mit der Begründung verneint, dass keine ergiebigen Erkenntnisse über die Trinkgewohnheiten des Angeklagten gewonnen werden konnten. Seine Negativentscheidung beruht damit weder auf einem sicheren Ausschluss einer hinreichenden Erfolgsaussicht kraft eigener Sachkunde, noch auf einer Ausübung des durch § 64 StGB eingeräumten Ermessens. Kann über das Vorliegen der Voraussetzungen für eine im Raum stehende [X.] nach § 64 StGB keine Klarheit gewonnen werden, weil die Erkenntnismöglichkeiten des Tatrichters zur Beurteilung des Zustands des Angeklagten nicht ausreichen, ist die Beiziehung eines Sachverständigen nach § 246a Satz 2 [X.] geboten. Dabei gehört es auch zu den Aufgaben des Sachverständigen, durch eine entsprechende Befragung des Angeklagten im Rahmen der Exploration und die Auswertung - gegebenenfalls noch herbeizuschaffenden - [X.] Defizite des Gerichts bei der Tatsachenfeststellung auszugleichen (vgl. [X.] in [X.]/[X.]/Leygraf/[X.], Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 1, S. 410 f.).

6

Der Senat kann nicht ausschließen, dass die [X.] einer Maßregel nach § 64 StGB auf diesem Rechtsfehler beruht.

[X.][X.]

                            Bender                                        [X.]

Meta

4 StR 434/11

20.09.2011

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Frankenthal, 25. Mai 2011, Az: 5304 Js 40792/10 - 2 KLs

§ 64 StGB, § 246a S 2 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.09.2011, Az. 4 StR 434/11 (REWIS RS 2011, 3227)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 3227

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