Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.06.2018, Az. 5 AR (Vs) 112/17

5. Strafsenat | REWIS RS 2018, 7528

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Gegenstand

Strafverfahren: Übermittlung anonymisierter Entscheidungsabschriften an Privatpersonen - Entscheidungsabschrift


Leitsatz

Entscheidungsabschrift

§ 475 StPO umfasst die Übermittlung anonymisierter Entscheidungsabschriften an private Dritte.

Tenor

Die sofortige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des [X.] vom 20. November 2017 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Gründe

I.

1

1. Der mit der sofortigen Beschwerde angegriffenen Entscheidung des [X.] liegt das von der Staatsanwaltschaft [X.] abschlägig beschiedene Begehren des Beschwerdeführers zugrunde, ihm eine anonymisierte Fassung eines Urteils des Landgerichts [X.] zu überlassen. Der Antragsteller möchte als „interessierter Bürger“ nähere Informationen über Ermittlungen und Beweislage in dieser ein sogenanntes Rocker-Verfahren betreffenden Sache gewinnen. Ferner möchte er die anonymisierte Urteilsabschrift den Medien zur Verfügung stellen, bei Urteilsdatenbanken und Fachzeitschriften einsenden sowie auf seiner Homepage veröffentlichen. Der Beschwerdeführer hat beim [X.] beantragt, die Staatsanwaltschaft [X.] zu verpflichten, ihm die Urteilsabschrift zur Verfügung zu stellen.

2

2. Das [X.] hat sich mit der angefochtenen Entscheidung für unzuständig erklärt und die Sache an das Amtsgericht [X.] verwiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Antrag sei als solcher gemäß §§ 23 ff. [X.] unzulässig. Zwar handele es sich bei der begehrten Maßnahme um einen Justizverwaltungsakt, gegen den aber bereits aufgrund einer anderen Vorschrift ein ordentliches Gericht angerufen werden könne (§ 23 Abs. 3 [X.]). Denn für die Überlassung anonymisierter Urteilsabschriften an Privatpersonen finde § 475 [X.] Anwendung, so dass gemäß § 478 Abs. 3 Satz 1 [X.] gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft gerichtliche Entscheidung durch das nach § 162 [X.] zuständige Gericht beantragt werden könne.

3

3. Mit seiner zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Antragsteller sein Begehren weiter. Er ist der Ansicht, dass § 475 [X.], der ein berechtigtes Interesse an der erstrebten Auskunft verlangt, nicht anwendbar sei. Grundlage seines Anspruchs auf Entscheidungsübersendung sei vielmehr die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende voraussetzungslose Amtspflicht der Gerichte zur Publikation veröffentlichungswürdiger Entscheidungen. Daher sei gegen den ablehnenden Bescheid der Staatsanwaltschaft der Rechtsweg nach Art. 23 [X.] und nicht derjenige nach § 478 [X.] gegeben.

II.

4

Die sofortige Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig (§ 17a Abs. 4 Satz 3 und 4 [X.]. § 311 Abs. 2 [X.]), jedoch unbegründet. Das [X.] hat den Rechtsweg nach § 23 [X.] zutreffend für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Amtsgericht [X.] verwiesen (§ 17a Abs. 2 Satz 1 [X.]).

5

Nach der [X.] des § 23 Abs. 3 [X.] tritt der in §§ 23 ff. [X.] normierte Rechtsweg zurück, soweit das Gesetz anderweitige Rechtsbehelfe gegen Maßnahmen von Justiz- und Vollzugsbehörden vorsieht. Gegen die Verweigerung der Überlassung anonymisierter strafgerichtlicher Entscheidungsabschriften als Unterfall der in § 475 [X.] geregelten Auskunftsrechte ist indes - wie der [X.] in seiner Antragsschrift zutreffend dargelegt hat - der Rechtsbehelf nach § 478 Abs. 3 [X.] eröffnet (vgl. [X.], NJW 2001, 3803; [X.], Beschluss vom 26. Januar 2015 - III - 1 VAs 70/15, Rn. 7; [X.], [X.], 311; [X.], [X.], 168; [X.], NJW 2002, 838; [X.], NJW 2005, 999; [X.], Beschluss vom 24. März 2015 - 7 [X.], Rn. 9; [X.]/[X.], [X.], 61. Aufl., § 23 [X.] Rn. 15; für eine analoge Anwendung von § 478 Abs. 3 [X.]: [X.]/Zenthöfer, [X.], 1777, 1783).

6

1. § 475 [X.] enthält eine umfassende Regelung, die auch für die Überlassung anonymisierter strafgerichtlicher Entscheidungsabschriften an private Dritte gilt (vgl. [X.] aaO; [X.] aaO; [X.] aaO; [X.] aaO; [X.] aaO; [X.] aaO; KK-[X.]/[X.], 7. Aufl., § 475 Rn. 9; SSW-[X.]/[X.], 3. Aufl., § 475 Rn. 16; [X.], [X.], 210, 216). Diese Interpretation steht mit dem Wortlaut der Vorschrift in Einklang und entspricht dem vom Gesetzgeber verfolgten Zweck.

7

a) Die Übermittlung einer anonymisierten Urteilsabschrift ist vom Wortlaut des § 475 [X.] umfasst.

8

Auch wenn eine anonymisierte Entscheidungsabschrift kein Aktenbestandteil, sondern nur ein Auszug ist, bei dem Teile der Entscheidung fehlen (vgl. zum Streitstand [X.], Beschluss vom 5. April 2017 - [X.] [VZ] 2/16, [X.], 1819, Rn. 15; [X.], [X.], 53), handelt es sich doch um eine - durch den Wortlaut des § 475 [X.] erfasste - „Auskunft“ aus einer Akte. Schon aufgrund dieser ausdrücklichen gesetzlichen Regelung stellt sich daher die in Zivilsachen relevante Frage nicht, ob die Anforderung anonymisierter Urteilsabschriften ein Unterfall der Akteneinsicht (§ 299 Abs. 2 ZPO) ist oder eine Auskunftsbitte eigener Art ([X.] Rn. 12).

9

b) Dieses Verständnis entspricht auch dem Regelungszweck.

Mit der Einführung der §§ 474 bis 482 [X.] durch das am 1. November 2000 in [X.] getretene Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts wollte der Gesetzgeber die unter Berücksichtigung des sogenannten Volkszählungsurteils des [X.] ([X.] 65, 1) verfassungsrechtlich gebotenen und im Interesse der Rechtssicherheit und -klarheit notwendigen Rechtsgrundlagen für die Verwendung von in einem Strafverfahren erhobenen personenbezogenen Informationen schaffen (vgl. BT-Drucks. 14/1484, [X.]). Dem [X.] der Strafprozessordnung wurde in zwei neuen Abschnitten ein umfassendes Gesamtgefüge von Regelungen betreffend die Verwendung solcher Daten eingegliedert.

Darin regelt § 475 [X.] unter anderem die Informationsübermittlung an private Dritte (vgl. BT-Drucks. 14/1484, [X.]6, 17, 26). Nach dieser Vorschrift können Auskünfte aus Akten an [X.] Privatpersonen - nach pflichtgemäßem Ermessen ([X.]/[X.] aaO § 475 Rn. 7; LR-[X.]/[X.], 26. Aufl., § 475 Rn. 9) - erteilt werden, sofern hierfür ein berechtigtes Interesse dargelegt wird; sie sind zu versagen, wenn der Betroffene hieran ein schutzwürdiges Interesse hat. Das Gesetz löst damit den Konflikt zwischen dem Informationsinteresse außenstehender Personen und dem aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten Recht der Verfahrensbeteiligten auf informationelle Selbstbestimmung. Letzteres kann auch durch die Übermittlung einer anonymisierten Abschrift eines Strafurteils beeinträchtigt sein. Denn [X.] enthalten teilweise bis in den Kernbereich des Persönlichkeitsrechts hineinreichende Angaben insbesondere über den Verurteilten, das Opfer der Straftat oder über das Tatgeschehen selbst, bei denen kaum je auszuschließen ist, dass ein Personenbezug trotz Anonymisierung hergestellt werden kann. Gegen den verfassungsrechtlich abgesicherten Anspruch auf Achtung der Privatsphäre der Betroffenen, der im Rahmen der öffentlichen Hauptverhandlung unter anderem durch § 171b [X.] geschützt wird, muss daher gegebenenfalls selbst ein berechtigtes Interesse des eine anonymisierte Auskunft Begehrenden zurücktreten.

2. Das konkrete Auskunftsbegehren des Beschwerdeführers unterfällt § 475 [X.]. Dies hat zur Folge, dass Rechtsschutz gegen dessen Versagung von ihm allein nach § 478 Abs. 3 [X.] in Anspruch genommen werden kann.

a) Die Voraussetzungen, unter denen im Strafverfahren einer Privatperson Auskünfte aus Verfahrensakten erteilt oder Akteneinsicht gewährt werden darf, sind in den §§ 475 ff. [X.] geregelt; diese Vorschriften bilden die erforderliche gesetzliche Grundlage für den mit ihnen verbundenen Eingriff in das Recht des Beschuldigten auf informationelle Selbstbestimmung ([X.] NJW 2009, 2876). Dabei kommt § 475 [X.] eine Doppelfunktion zu: Die Vorschrift ist sowohl gesetzliche Grundlage für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Betroffenen (vgl. [X.], NJW 2009, 2876) als auch materielle Anspruchsgrundlage des Antragstellers (SK-[X.]/[X.], 4. Aufl., § 475 Rn. 1; BeckOK-[X.]/Wittig, § 475 Rn. 1).

b) Aus der Rechtspflicht zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen auch der Instanzgerichte, die aus dem [X.] einschließlich der [X.], dem Demokratiegebot und dem Grundsatz der Gewaltenteilung folgt (vgl. [X.]; [X.], 3708, 3710; BVerwGE 104, 105, 108 ff.; [X.], Beschluss vom 5. April 2017 - [X.] [VZ] 2/16, [X.], 1819, Rn. 16; von [X.], [X.], 308, 309; [X.], [X.], 534, 535; [X.]/Zenthöfer aaO), lässt sich jedenfalls für private Dritte kein neben § 475 [X.] tretender voraussetzungsloser Anspruch auf Herausgabe einer anonymisierten Urteilsabschrift herleiten (vgl. von [X.] aaO, 310; aA [X.] [X.], 534, 537; [X.]/Zenthöfer aaO, 1779), der auf dem Rechtsweg nach § 23 [X.] geltend gemacht werden könnte.

Soweit neben § 475 [X.] presserechtliche Auskunftsansprüche (vgl. [X.]/[X.], aaO, § 475 Rn. 1a; BeckOK-[X.]/Wittig, § 475 Rn. 5; LR-[X.]/[X.] aaO Rn. 2) treten können, ist die Überlassung von Urteilen an Medienvertreter unter weniger strengen Voraussetzungen allein deshalb möglich, weil diesen eine besondere Verantwortung im Umgang mit den so erhaltenen Informationen obliegt (vgl. [X.] [X.], 3708, 3710). Die ihnen zukommenden Sorgfaltspflichten können aber nicht generell zum Maßstab für das Zugänglichmachen gerichtlicher Entscheidungen gemacht werden (vgl. [X.], [X.], 311, 312; [X.], [X.], 168, 169).

3. Es ist vorliegend nicht zu entscheiden, ob dem Beschwerdeführer, wie er meint, ein - originär auf dem Verwaltungsrechtsweg geltend zu machender -Anspruch auf Übersendung der anonymisierten Urteilsabschrift auch in seiner Funktion als Herausgeber eines journalistisch-redaktionell gestalteten [X.] im [X.], zusteht (§ 4 [X.] [X.]). Dasselbe gilt für Ansprüche nach dem schleswig-holsteinischen Informationszugangsgesetz (vgl. insoweit aber § 2 Abs. 4 Nr. 3 [X.] [X.]).

Mutzbauer    

        

Sander    

        

[X.]

        

König    

        

Köhler    

        

Meta

5 AR (Vs) 112/17

20.06.2018

Bundesgerichtshof 5. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

§ 475 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.06.2018, Az. 5 AR (Vs) 112/17 (REWIS RS 2018, 7528)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 7528

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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