Bundesgerichtshof, Beschluss vom 06.10.2021, Az. XII ARZ 35/21

12. Zivilsenat | REWIS RS 2021, 2086

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Gegenstand

Zuständigkeit für eine Überprüfung von Infektionsschutzmaßnahmen an Schulen: Ausschließliche Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte; Rechtswegverweisung; Vorermittlungen für ein Kinderschutzverfahren


Leitsatz

1. Für Maßnahmen gegenüber schulischen Behörden (hier: mit dem Ziel der Unterlassung schulinterner Infektionsschutzmaßnahmen) ist der Rechtsweg zu den Familiengerichten im Verfahren nach § 1666 Abs. 1 und 4 BGB nicht eröffnet; zuständig sind ausschließlich die Verwaltungsgerichte.

2. Eine Verweisung des Verfahrens an das Verwaltungsgericht kommt wegen unüberwindbar verschiedener Prozessmaximen beider Verfahrensordnungen nicht in Betracht (im Anschluss an BVerwG, Beschluss vom 21. Juni 2021 - 6 AV 4/21, NJW 2021, 2600).

3. Elterliche Eingaben mit dem Ziel des Erlasses von Anordnungen gegenüber schulischen Behörden geben regelmäßig keine Veranlassung, Vorermittlungen für ein Verfahren nach § 1666 BGB einzuleiten; das Verfahren ist dann einzustellen.

Tenor

Das Verfahren wird eingestellt.

Gründe

I.

1

Die Beteiligte hat mit Schreiben vom 19. April 2021 beim [X.] darum nachgesucht, ein Verfahren nach § 1666 BGB zu eröffnen und gegenüber den Lehrkräften und der Schulleitung der von ihrer 15jährigen Tochter besuchten Gesamtschule einstweilig anzuordnen, die schulintern getroffenen Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), insbesondere die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung, Abstandsgebote und gesundheitliche Testungen, vorläufig auszusetzen.

2

Das [X.] hat den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten für unzulässig erklärt und das Verfahren an das Verwaltungsgericht verwiesen. Das Verwaltungsgericht hat die ihm übersandten Verfahrensakten an das [X.] „zuständigkeitshalber zurückgesandt“, weil das [X.] zuständig und die Verweisung an das Verwaltungsgericht wegen eines groben [X.] nicht bindend sei. Daraufhin hat das [X.] die Sache dem [X.] zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.

II.

3

Das Verfahren ist einzustellen, da zwar die Verwaltungsgerichte für das Rechtschutzbegehren der Beteiligten ausschließlich zuständig sind, eine Rechtswegverweisung in dem hier eingeleiteten Verfahren jedoch nicht in Betracht kommt und die vom [X.] ausgesprochene Verweisung nicht bindet (vgl. [X.], 2600 Rn. 10).

4

1. Der [X.] ist zur Entscheidung des negativen [X.]s zwischen dem [X.] und dem Verwaltungsgericht berufen.

5

Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 4 FamFG wird, wenn verschiedene Gerichte, von denen eines für das Verfahren zuständig ist, sich rechtskräftig für unzuständig erklärt haben, das zuständige Gericht durch das nächsthöhere gemeinsame Gericht bestimmt. Zwar ist diese Vorschrift auf den [X.] zwischen einem [X.] und einem Verwaltungsgericht weder unmittelbar anwendbar noch gibt es für einen solchen Fall an anderer Stelle eine gesetzliche Regelung. Diese Regelungslücke ist aber - im Einklang mit der Rechtsprechung anderer oberster Gerichtshöfe des Bundes - in der Weise zu schließen, dass dasjenige oberste [X.] den negativen [X.] zwischen den Gerichten verschiedener Gerichtszweige entscheidet, das einem der beteiligten Gerichte übergeordnet ist und zuerst angegangen wird ([X.] Beschluss vom 26. Juli 2001 - [X.]/01 - NJW 2001, 3631, 3632; [X.], 2600 Rn. 5 mwN). Denn obwohl ein nach § 17 a GVG ergangener und unanfechtbar gewordener Beschluss, mit dem ein Gericht den eigenen Rechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht verwiesen hat, nach dem Gesetz keiner weiteren Überprüfung unterliegt, ist eine Zuständigkeitsbestimmung in Analogie zu § 5 Abs. 1 Nr. 4 FamFG im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicherheit geboten, wenn es in einem Verfahren zu Zweifeln über die Bindungswirkung der Verweisung kommt und deshalb keines der in Frage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten (vgl. [X.] Beschluss vom 14. Mai 2013 - [X.] 167/13 - [X.], 1242 Rn. 5 zu § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO; BVerwG NJW 2021, 2600 Rn. 5 zu § 53 Abs. 1 Nr. 5 VwGO).

6

Eine solche Situation ist vorliegend gegeben. Sowohl das [X.] als auch das Verwaltungsgericht haben erklärt, dass der Rechtsweg zu ihnen unzulässig sei. Dabei ist unschädlich, dass sich das Verwaltungsgericht nicht im [X.] für unzuständig erklärt, sondern die Verfahrensakte formlos an das [X.] zurückgegeben hat. Denn die Rückgabeverfügung ist mit einer beschlussähnlichen Begründung versehen, welche unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des [X.] (NJW 2021, 2600) den endgültigen Rechtsstandpunkt einnimmt, dass der Verweisungsbeschluss des [X.]s keine Bindungswirkung entfalte. Damit ist der negative [X.] ausgelöst.

7

2. Zu Recht hat das [X.] den eigenen Rechtsweg für unzulässig erklärt. Es hat das Schreiben der Beteiligten vom 19. April 2021 zutreffend dahin ausgelegt, dass gegen die Schule gerichtete Unterlassungsverlangen durchgesetzt werden sollen. Über derartige Unterlassungsansprüche hätten gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO die Verwaltungsgerichte zu entscheiden. Sie betreffen das Schulverhältnis als Rechtsverhältnis zwischen dem Schüler und einer öffentlichen, von einer Gebietskörperschaft getragenen Schule, deren Handeln in inneren Schulangelegenheiten einschließlich der Schulordnungsmaßnahmen der öffentlichen Gewalt zugerechnet wird ([X.], 2600 Rn. 7). Davon erfasst werden auch von der Schule angeordnete Infektionsschutzmaßnahmen ([X.], 2600 Rn. 7; [X.] FamRZ 2021, 1043, 1047 f.; [X.] FamRZ 2021, 1539, 1540; [X.] Beschluss vom 27. Juli 2021 - 13 UF 80/21 - juris Rn. 10; [X.] FamRZ 2021, 1538, 1539; [X.] FamRZ 2021, 935, 936; [X.] VwGO/[X.] [Stand: 1. April 2021] § 40 Rn. 71a; vgl. auch Senatsbeschluss vom 12. Mai 2021 - [X.] 34/21 - FamRZ 2021, 1402 Rn. 13 zur verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit für die Untersagung von Maßnahmen des Jugendamts).

8

Eine daneben parallel bestehende Regelungskompetenz auf Grundlage des § 1666 BGB ist den [X.]en nicht eröffnet. Diese Vorschrift ermöglicht es den Gerichten in erster Linie, Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, die Personensorgeberechtigten zur Einhaltung ihrer Schutzpflichten gegenüber dem Kind anzuhalten (vgl. BT-Drucks. 16/6815 S. 14 f.); als ultima ratio kommt hierbei die Entziehung der elterlichen Sorge in Betracht (§ 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB). Zwar kann in besonders gelagerten Fällen bei Angelegenheiten der Personensorge auch eine Maßnahme gegen einen Dritten erfolgen (§ 1666 Abs. 4 BGB), wenn von dessen Verhalten eine Gefahr für das Kindeswohl ausgeht. Eine Befugnis des [X.]s zum Erlass von Anordnungen zur Durchsetzung des Kindeswohls gegenüber Behörden ist damit aber nicht verbunden. Denn Dritte im Sinne der Vorschrift sind nicht Behörden und sonstige Träger der öffentlichen Gewalt. Auf Grundlage des § 1666 BGB können die [X.]e auch die Jugendämter nicht zur Unterlassung von Maßnahmen der Jugendhilfe wie etwa einer Inobhutnahme verpflichten (Senatsbeschluss vom 12. Mai 2021 - [X.] 34/21 - FamRZ 2021, 1402 Rn. 13 mwN; vgl. auch [X.], 668 f.). Umso weniger sind sie befugt, andere staatliche Stellen in [X.] oder Unterlassen anzuweisen. Dies würde nämlich einen Eingriff in das [X.] bedeuten ([X.] FamRZ 2021, 1043, 1048; [X.]/[X.] 8. Aufl. § 1666 Rn. 181; [X.]/[X.]/[X.]/[X.] Familienrecht 7. Aufl. § 1666 a BGB Rn. 17; Meysen FamRZ 2008, 562, 563), für den es an der erforderlichen Rechtsgrundlage fehlt. Insbesondere legitimieren die §§ 1666, 1666 a BGB i.V.m. dem staatlichen Wächteramt einen solchen Eingriff nicht. Im Rahmen des schulischen Sonderrechtsverhältnisses sind die zuständigen Behörden ihrerseits an die das Kindeswohl schützenden Grundrechte gebunden. Die gerichtliche Kontrolle dieses Behördenhandelns - auch hinsichtlich Infektionsschutzmaßnahmen in den jeweiligen Schulen - obliegt hierbei allein den Verwaltungsgerichten; insoweit haben auch die §§ 23 [X.], 111 Nr. 2, 151 Nr. 1 FamFG nicht die Bedeutung einer abdrängenden Sonderzuweisung im Sinne des § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

9

3. Eine Zuständigkeitsbestimmung dahin, dass das Verwaltungsgericht zuständig sei, ist dem Senat jedoch verwehrt, da eine Rechtswegverweisung wegen unüberwindbar verschiedener Prozessmaximen des amtswegigen Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit und des Klage- bzw. Antragsverfahrens der Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht in Betracht kommt.

Zwar ist auch im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit eine Verweisung auf einen anderen Rechtsweg nicht generell ausgeschlossen. So kommt beispielsweise die Verweisung einer beim allgemeinen Zivilgericht anhängig gewordenen Klage an das für Wohnungseigentumssachen zuständige Gericht der freiwilligen Gerichtsbarkeit in Betracht, weil das für Wohnungseigentumssachen als sogenannte echte Streitsache ausgestaltete Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit ähnlichen Verfahrensgrundsätzen folgt (vgl. [X.] Beschluss vom 13. Oktober 1983 - [X.] 408/83 - NJW 1984, 740). Umgekehrt kann ein beim Gericht für Notarsachen (§ 111 [X.]) anhängig gemachtes Verfahren, das als ein streitiges Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit anzusehen ist, an die Zivilgerichte verwiesen werden ([X.]Z 115, 275 = [X.], 185). Auch konnte ein Zuständigkeitsstreit zwischen dem für [X.] zuständigen [X.] und dem für [X.] zuständigen Gericht der allgemeinen freiwilligen Gerichtsbarkeit durch Verweisung gelöst werden (Senatsbeschluss [X.]Z 78, 108 = [X.], 1107).

Die Vorschrift des § 17 a GVG ist jedoch einschränkend dahin auszulegen, dass eine Verweisung von Amts wegen betriebener Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit mangels „Beschreitung eines Rechtswegs“ durch einen Antragsteller oder Kläger nicht in Betracht kommt, sondern diese bei fehlender Zuständigkeit einzustellen sind ([X.], 2600 Rn. 11; [X.], 2054; [X.] FamRZ 2021, 1383, 1384; [X.] FamRZ 2021, 1043, 1048; [X.] Beschluss vom 27. Juli 2021 - 13 UF 80/21 - juris Rn. 5, 10 f.; vgl. auch [X.] Beschluss vom 12. Juli 2021 - 14 UF 90/21 - juris Rn. 10 f.). Aufgrund der Eingabe der Beteiligten zu 1 und 2 vom 15. März 2021 hätte beim [X.] kein kontradiktorischen Regeln folgendes Antragsverfahren eröffnet werden können, das einer Verweisung an das Verwaltungsgericht zugänglich gewesen wäre (vgl. [X.], 2600 Rn. 11 f.), sondern allenfalls ein Verfahren von Amts wegen. Ein Verfahren von Amts wegen mit dem Ziel der Aufhebung schulischer Anordnungen ist der Verwaltungsgerichtsbarkeit jedoch wesensfremd.

4. Das Schreiben der Beteiligten vom 19. April 2021 gibt auch keine Veranlassung, Vorermittlungen für ein Verfahren nach § 1666 BGB einzuleiten, was der Senat selbst beurteilen kann (vgl. § 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG). Das Verfahren ist deshalb ohne Verweisung einzustellen.

Dose     

      

Schilling     

      

[X.]

      

Guhling     

      

Krüger     

      

Meta

XII ARZ 35/21

06.10.2021

Bundesgerichtshof 12. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ARZ

vorgehend AG Wesel, 23. Juli 2021, Az: 49 F 76/21

§ 1666 Abs 1 BGB, § 1666 Abs 4 BGB, § 5 Abs 1 Nr 4 FamFG, § 151 FamFG, § 17a Abs 2 GVG, § 17a Abs 4 GVG, § 40 Abs 1 S 1 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 06.10.2021, Az. XII ARZ 35/21 (REWIS RS 2021, 2086)

Papier­fundstellen: NJW 2021, 3470 MDR 2022, 53-54 REWIS RS 2021, 2086


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. XII ARZ 35/21

Bundesgerichtshof, XII ARZ 35/21, 06.10.2021.


Az. 49 F 76/21

Amtsgericht Wesel, 49 F 76/21, 23.07.2021.


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