Bundesgerichtshof, Beschluss vom 18.07.2012, Az. 4 StR 603/11

4. Strafsenat | REWIS RS 2012, 4551

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Gegenstand

Gerichtliches Bußgeldverfahren wegen Verkehrsordnungswidrigkeit nach Zurückverweisung durch das Rechtsbeschwerdegericht: Verwerfung des Einspruchs eines unentschuldigt ausgebliebenen und nicht von der Erscheinenspflicht in der Hauptverhandlung entbundenen Betroffenen


Leitsatz

Das Amtsgericht hat den Einspruch des nicht vom persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung entbundenen und unentschuldigt ausgebliebenen Betroffenen auch dann nach § 74 Abs. 2 OWiG zu verwerfen, wenn das vorausgegangene Sachurteil vom Rechtsbeschwerdegericht nur im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung zurückverwiesen worden war.

Tenor

Das Amtsgericht hat den Einspruch des nicht vom persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung entbundenen und unentschuldigt ausgebliebenen Betroffenen auch dann nach § 74 Abs. 2 OWiG zu verwerfen, wenn das vorausgegangene Sachurteil vom Rechtsbeschwerdegericht nur im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung zurückverwiesen worden war.

Gründe

I.

1

1. Das [X.] hat den Betroffenen durch Urteil vom 9. Dezember 2010 wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 160 € verurteilt und ein Fahrverbot von einem Monat festgesetzt. Dieselben [X.]echtsfolgen enthielt bereits der Bußgeldbescheid der [X.] vom 19. Mai 2010. Auf die [X.]echtsbeschwerde des Betroffenen hat das [X.] durch Beschluss vom 29. März 2011 das angefochtene Urteil im [X.]echtsfolgenausspruch aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Entscheidung an dieselbe Abteilung des [X.] zurückverwiesen. Die weiter gehende [X.]echtsbeschwerde hat das [X.] als unbegründet verworfen. Das [X.] hat den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid der [X.] vom 19. Mai 2010 durch Urteil vom 25. August 2011 gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, weil der Betroffene, der nicht von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden war, trotz ordnungsgemäßer Ladung in der Hauptverhandlung unentschuldigt ausgeblieben ist. Gegen dieses Urteil hat der Betroffene erneut [X.]echtsbeschwerde eingelegt. Er rügt mit einer unzulässigen (§ 79 Abs. 3 OWiG, § 344 Abs. 2 [X.]) Verfahrensrüge, dass sein Verteidiger fälschlich eine Abladung zum Hauptverhandlungstermin am 25. August 2011 erhalten habe und auch er deshalb nicht zum Termin erschienen sei. Mit der Sachrüge beanstandet er die Verletzung des rechtlichen Gehörs.

2

2. Das [X.] möchte die [X.]echtsbeschwerde als unbegründet verwerfen. Es ist der Ansicht, dass der Einspruch des Betroffenen, der trotz Anordnung seines persönlichen Erscheinens in der Hauptverhandlung ausbleibt, auch nach vorangegangener Teilaufhebung im [X.]echtsfolgenausspruch nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen werden kann.

3

An der beabsichtigten Verwerfung der [X.]echtsbeschwerde sieht sich das [X.] durch den Beschluss des [X.]s Hamm vom 2. November 2006 – 4 Ss OWi 742/06 – ([X.] [2007], 49) gehindert. Nach Ansicht des [X.]s Hamm kommt eine Verwerfung des Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG nicht in Betracht, wenn durch das [X.]echtsbeschwerdegericht nur der [X.]echtsfolgenausspruch eines Urteils mit den getroffenen Feststellungen aufgehoben worden ist. Der Konflikt zwischen der zwingenden Anordnung des § 74 Abs. 2 OWiG und der eingetretenen [X.] der vorangegangenen gerichtlichen Entscheidung sei dahin zu lösen, dass der [X.] der Vorrang einzuräumen sei. Es sei auch nicht sachgerecht, eine Einspruchsverwerfung in solchen Fällen zuzulassen, in denen die rechtskräftigen Feststellungen des amtsgerichtlichen Urteils nicht von dem Vorwurf des Bußgeldbescheides abwichen, weil die Frage der Zulässigkeit der Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG nur einheitlich und nicht fallbezogen beantwortet werden könne. Die möglichen praktischen Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben könnten, dass ein Betroffener die Durchführung der Hauptverhandlung durch Abwesenheit unmöglich mache, könnten dadurch gelöst werden, dass im Falle des unerlaubten Fernbleibens in der Hauptverhandlung ein Verzicht auf die oder eine Verwirkung der Anwesenheitsrüge zu sehen sein könnte.

4

Nach dieser [X.]echtsprechung des [X.]s Hamm wäre im vorliegenden Fall das angefochtene Urteil auf die im [X.]ahmen der Sachrüge von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der Frage, ob das Amtsgericht den Umfang seiner Prüfungs- und Feststellungspflicht verkannt hat, aufzuheben. Das vorlegende [X.] teilt diese Auffassung nicht. Auszugehen sei davon, dass § 74 Abs. 2 OWiG zwingend und ohne Ausnahme die Verwerfung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid bei unentschuldigter Abwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung vorschreibe. Mit der Neufassung habe der Gesetzgeber – gerade auch bei Abwesenheit des Betroffenen – eine Vereinfachung des Verfahrens und damit eine Entlastung der Gerichte erreichen wollen, die nach der Zielrichtung des Gesetzentwurfs dringend geboten erschien. Eine einschränkende Auslegung des § 74 Abs. 2 OWiG würde dieser Zielrichtung zuwiderlaufen. Die bei vergleichbaren Verfahrenskonstellationen geltenden strafprozessualen [X.]egelungen geböten keine abweichende Beurteilung. Die Vorschrift des § 74 Abs. 2 OWiG enthalte keine der Bestimmung in § 329 Abs. 1 Satz 2 [X.] vergleichbare [X.]egelung, wonach eine Verwerfung der Berufung nach Zurückverweisung durch das [X.]evisionsgericht unzulässig ist. Daraus könne der Schluss gezogen werden, dass der Gesetzgeber bei der Neufassung des § 74 Abs. 2 OWiG unterschiedliche [X.]egelungen treffen wollte.

5

Ferner könne nicht außer [X.] gelassen werden, dass dem Amtsgericht keine Zwangsmittel zur Verfügung stünden, um das Erscheinen des Betroffenen vor Gericht zu erzwingen. Der Gesetzgeber habe bei der Neufassung des § 74 Abs. 2 OWiG die noch in § 74 Abs. 2 a.F. neben der Verwerfung des Einspruchs vorgesehenen Möglichkeiten, die Vorführung des Betroffenen anzuordnen oder ohne den Betroffenen die Hauptverhandlung durchzuführen, angesichts der zwingenden [X.]egelung des § 74 Abs. 2 OWiG ausdrücklich für entbehrlich gehalten. § 230 Abs. 2 [X.], der die Vorführung eines Angeklagten im Strafverfahren regele, sei nicht anwendbar. Verhaftung und vorläufige Festnahme seien nach § 46 Abs. 3 Satz 1 OWiG unzulässig. Das Verfahren in Abwesenheit des Betroffenen setze voraus, dass dieser auf seinen Antrag gemäß § 73 Abs. 2 OWiG von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden worden sei. Ein nicht mitwirkungsbereiter Betroffener hätte demnach die Möglichkeit, das Verfahren auf unabsehbare [X.] zu verhindern, ohne dass eine Verjährung der Ordnungswidrigkeit eintreten würde (§ 32 Abs. 2 OWiG). Dies wäre nicht hinnehmbar. Deshalb werde die Verwerfung des Einspruchs bei unentschuldigtem Ausbleiben des Betroffenen nach Aufhebung eines [X.] durch das [X.]echtsbeschwerdegericht in vollem Umfang nach allgemeiner Ansicht als zulässig angesehen. Die vorstehenden Argumente hätten aber gleichermaßen Geltung für Fälle der Aufhebung nur im [X.]echtsfolgenausspruch. Die vom [X.] Hamm aufgezeigte Lösung würde das Verfahren mit neuen, vom Gesetzgeber mit der Neuregelung gerade nicht intendierten zusätzlichen [X.]echtsproblemen belasten.

6

Dafür spreche auch, dass der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 67 Abs. 2 OWiG die Möglichkeit der Beschränkung des Einspruchs auf bestimmte Beschwerdepunkte geschaffen habe und es damit als rechtlich zulässig ansehe, dass ein Gericht die [X.]echtsfolgen der Tat auf der Basis eines Schuldspruchs durch Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde [X.]. Die Tatsache, dass der Gesetzgeber die zwingende [X.]egelung ohne Einschränkungen eingeführt habe, obwohl ihm bekannt gewesen sei, dass unter der Geltung des § 74 Abs. 2 OWiG a.F. eine Verwerfung des Einspruchs bei vorangegangener Teilaufhebung im [X.]echtsfolgenausspruch von den [X.]en als unzulässig angesehen wurde, rechtfertige den Schluss, dass der Gesetzgeber das mögliche Spannungsverhältnis zwischen einem Schuldspruch durch Urteil und einer [X.]echtsfolgenentscheidung durch bereits vorher ergangenen Bußgeldbescheid im Interesse der Entlastung der Gerichte bewusst in Kauf genommen habe.

7

Das [X.] hat die Sache gemäß § 121 Abs. 2 GVG dem [X.] vorgelegt und die [X.]echtsfrage wie folgt formuliert:

„Darf das Amtsgericht den Einspruch eines nicht vom persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung entbundenen Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde auch dann noch gemäß § 74 Abs. 2 Satz 1 OWiG verwerfen, wenn das vorangegangene Sachurteil vom [X.]echtsbeschwerdegericht nur im [X.]echtsfolgenausspruch aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung an das Amtsgericht zurückverwiesen worden war?“

8

3. Der [X.] hat angeregt, die [X.], die sich an der Entscheidung des 1. Strafsenats vom 10. Dezember 1985 – 1 [X.], [X.]St 33, 394 orientiere, an die aktuelle Gesetzeslage anzupassen, nach der das Amtsgericht den Einspruch zu verwerfen „hat“. Er beantragt zu entscheiden:

„Unter den Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 OWiG hat das Amtsgericht den Einspruch eines Betroffenen gegen einen Bußgeldbescheid auch dann zu verwerfen, wenn das vorangegangene Sachurteil vom [X.]echtsbeschwerdegericht nur im [X.]echtsfolgenausspruch aufgehoben und in diesem Umfang an das Amtsgericht zurückverwiesen wurde.“

II.

9

1. Die [X.] sind erfüllt. Die Vorschrift des § 121 Abs. 2 GVG ist gemäß § 79 Abs. 3 OWiG für die [X.]echtsbeschwerde im Sinne des Ordnungswidrigkeitengesetzes entsprechend heranzuziehen (vgl. [X.], Beschluss vom 20. März 1992 – 2 St[X.] 371/91, [X.]St 38, 251, 254). Das [X.] kann nicht seiner Absicht gemäß entscheiden, ohne von der [X.]echtsauffassung des [X.]s Hamm abzuweichen.

2. In der [X.] teilt der Senat die Auffassung des vorlegenden Gerichts.

a) Der Betroffene ist nach § 73 Abs. 1 OWiG zum Erscheinen in der Hauptverhandlung verpflichtet. Er kann aber nach § 73 Abs. 2 OWiG auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden werden, wenn er sich geäußert oder erklärt hat, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht zur Sache äußern werde, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist. Bleibt der Betroffene ohne genügende Entschuldigung aus, obwohl er von der Verpflichtung zum Erscheinen nicht entbunden war, hat das Gericht den Einspruch ohne Verhandlung zur Sache durch Urteil zu verwerfen (§ 74 Abs. 2 OWiG). Dem Ausbleiben des Betroffenen, wenn es nicht aus anderen Gründen genügend entschuldigt ist, ist mangelndes Interesse an der Wahrnehmung seiner Prozessrolle zu entnehmen; dies rechtfertigt angesichts der geringeren Bedeutung von Bußgeldverfahren eine Verwerfung des Einspruchs.

Die Verwerfung des Einspruchs bei unentschuldigtem Ausbleiben des Betroffenen ist nach der Neufassung des § 74 Abs. 2 OWiG durch Art. 1 Nr. 13 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten und anderer Gesetze ([X.]) vom 26. Januar 1998 ([X.] I S. 156, 157) zwingend, ein Ermessensspielraum wird dem Gericht anders als nach der früheren [X.]echtslage nicht mehr eingeräumt. Durch die Umwandlung der Vorschrift in eine zwingende [X.]egelung wollte der Gesetzgeber eine Vereinfachung des Verfahrens und damit eine „dringend gebotene“ Entlastung der Gerichte erreichen (BT-Drucks. 13/5418 S. 7, 9). Schon nach der früheren [X.]echtslage durfte aber das Amtsgericht den Einspruch des trotz Anordnung des persönlichen Erscheinens in der Hauptverhandlung unentschuldigt ausgebliebenen Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde auch dann noch nach § 74 Abs. 2 Satz 1 OWiG verwerfen, wenn das vorangegangene Sachurteil vom [X.]echtsbeschwerdegericht aufgehoben und die Sache zurückverwiesen worden war ([X.], Beschluss vom 10. Dezember 1985 – 1 [X.], [X.]St 33, 394). Der [X.] hat dies seinerzeit daraus geschlossen, dass das [X.] des Strafverfahrensrechts (1. [X.]) vom 9. Dezember 1974 ([X.] I S. 3393, 3533) lediglich § 329 Abs. 1 [X.] und § 412 [X.] in dem Sinne geändert hat, dass die Berufung oder der Einspruch nach diesen Vorschriften nicht mehr verworfen werden darf, wenn das Tatgericht erneut verhandelt, nachdem die Sache vom [X.]evisionsgericht zurückverwiesen worden ist. Damit habe der Gesetzgeber der [X.]echtsprechung des [X.]s zu § 329 Abs. 1 [X.] (Urteil vom 3. April 1962 – 5 [X.], [X.]St 17, 188) [X.]echnung tragen wollen. Weil § 329 Abs. 1 [X.] und § 412 [X.] sowie § 74 Abs. 2 OWiG dasselbe [X.]echtsproblem beträfen, lasse sich schon aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber diese Frage in § 329 Abs. 1 [X.] und § 412 [X.] neu geregelt habe, während § 74 Abs. 2 OWiG – bei Änderung in anderen Punkten – unverändert geblieben sei, der Schluss ziehen, dass er damit unterschiedliche [X.]egelungen für Strafverfahren und Bußgeldverfahren habe treffen wollen.

Diese Argumentation trifft auch nach der gegenwärtigen [X.]echtslage zu. Zwar stand nach der früheren Fassung des § 74 Abs. 2 OWiG die Verwerfung des Einspruchs bei unentschuldigtem Ausbleiben des Betroffenen im Ermessen des Gerichts, während diese Folge nunmehr zwingend auszusprechen ist. Aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber bei dieser erneuten Änderung des § 74 Abs. 2 OWiG in Kenntnis der [X.]echtsprechung zur Zulässigkeit der Verwerfung nach Aufhebung und Zurückverweisung durch das [X.]evisionsgericht wiederum keine dem § 329 Abs. 1 Satz 2 [X.] entsprechende [X.]egelung in die Vorschrift eingefügt hat, kann daher weiterhin geschlossen werden, dass die Verwerfung des Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid nach Aufhebung des ersten [X.] in der [X.] und die Verwerfung der Berufung bzw. des Einspruchs gegen einen Strafbefehl unterschiedlich geregelt bleiben sollen (so auch [X.], [X.] [2000], 217, 219; [X.], NJW 2002, 978, 979; [X.], [X.] 117 [2009] 102; [X.], Beschluss vom 22. März 2012 – 3 [X.], veröffentlicht bei juris; zustimmend [X.] in [X.], OWiG, 16. Aufl., § 74 [X.]n. 24; [X.]/[X.]/[X.], OWiG, Stand März 2011, § 74 [X.]n. 13; [X.], OWiG, 3. Aufl., § 74 [X.]n. 22; [X.], OWiG, 3. Aufl., § 74 [X.]n. 21). Dies entspricht auch dem Ziel der Entlastung der Gerichte durch das [X.]. Da es sich um eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers handelt, die Verfahrensweise beim unentschuldigten Ausbleiben des Betroffenen im Bußgeldverfahren abweichend vom Strafverfahren zu regeln, scheidet eine Anwendung der [X.]egelungen der §§ 412, 329 Abs. 1 [X.] über § 71 Abs. 1 OWiG aus.

b) Die Verwerfung des Einspruchs bei unentschuldigtem Ausbleiben des Betroffenen hat auch dann zu erfolgen, wenn das [X.]echtsbeschwerdegericht die Sache nur im [X.]echtsfolgenausspruch aufgehoben und an das Amtsgericht zurückverwiesen hat.

aa) Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift. § 74 Abs. 2 OWiG ist durch das [X.] ohne Ausnahme zu einer zwingenden [X.]egelung umgestaltet worden, obwohl der Gesetzgeber wusste, dass die [X.]echtsprechung der [X.]e eine Verwerfung des Einspruchs nach Teilaufhebung durch das [X.]echtsbeschwerdegericht wegen der eingetretenen [X.] des Schuldspruchs als unzulässig ansah (vgl. [X.], [X.], 372; KG, [X.] 72 [1987], 451; BayObLG [X.] 80 [1991], 45). Die Änderung diente der dringend gebotenen Entlastung der Justiz im Bereich der Ordnungswidrigkeiten (BT-Drucks. 13/5418 S. 1). Zugleich wurde die zuvor in § 74 Abs. 2 Satz 2 OWiG a.F. gegebene Möglichkeit der Vorführung des Betroffenen oder der Verhandlung in seiner Abwesenheit abgeschafft (vgl. BT-Drucks. 13/5418 S. 9). Der Gesetzgeber hat dafür angesichts der zwingenden [X.]egelung keinen Anwendungsbereich mehr gesehen, also auch nicht in den in den Materialien nicht angesprochenen Fällen der Teilaufhebung und Zurückverweisung durch das [X.]echtsbeschwerdegericht. Es ist deshalb ersichtlich auch in diesen Fällen davon auszugehen, dass die Verwerfung des Einspruchs gesetzgeberisch gewollt ist. Der Gesetzgeber hat dem Betroffenen in § 73 Abs. 1 OWiG das persönliche Erscheinen in der Hauptverhandlung auferlegt. Lehnt es der Betroffene durch sein unentschuldigtes Ausbleiben ab, zur Aufklärung beizutragen, ist das Gericht im Interesse der Verfahrensökonomie von der Verpflichtung entbunden, die Beschuldigung zu prüfen oder – bei [X.]echtskraft des Schuldspruchs – zum [X.]echtsfolgenausspruch neu zu verhandeln. Das Interesse des Betroffenen und der Allgemeinheit an einer inhaltlich möglichst gerechten Entscheidung tritt in diesen Fällen hinter der Verfahrensökonomie zurück (vgl. zur alten [X.]echtslage [X.], [X.], 540).

bb) Der Eintritt der [X.] des Schuldspruchs bei Aufhebung nur des [X.]echtsfolgenausspruchs durch das [X.]echtsbeschwerdegericht steht der Verwerfung des Einspruchs in der neuen Verhandlung nicht entgegen.

Wegen des Grundsatzes der Einheitlichkeit des Urteils sind der rechtskräftige Schuldspruch und die ihm zugrunde liegenden Feststellungen zwar im [X.]egelfall Grundlage des weiteren Verfahrens und wesentlicher Teil des abschließenden Urteils ([X.], Urteil vom 14. Januar 1982 – 4 [X.], [X.]St 30, 340, 342). Dies folgt aus dem Gebot der inneren Einheit und der damit notwendig verbundenen Widerspruchsfreiheit der Entscheidung, das unabhängig davon Gültigkeit beansprucht, ob ein Urteil über die Schuld- und [X.]echtsfolgenfrage gleichzeitig entscheidet oder nicht. Durch die Verwerfung des Einspruchs wird dieser Grundsatz aber nicht berührt, denn durch sie wird der einheitliche Inhalt des Bußgeldbescheids wiederhergestellt. Durch die Verwerfung des Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG wird der Bußgeldbescheid insgesamt rechtskräftig (§ 84 Abs. 1 OWiG).

Der Grundsatz der reformatio in peius gebietet es nicht, einen dem Betroffenen günstigeren, in Folge der nur teilweisen [X.] rechtskräftigen Schuldspruch aufrecht zu erhalten. Dieser Grundsatz gilt im Ordnungswidrigkeitenrecht ohnehin nur eingeschränkt. § 72 Abs. 3 Satz 2 OWiG verbietet dem Gericht nur die Festsetzung einer nachteiligeren [X.]echtsfolge als im Bußgeldbescheid festgesetzt, wenn es durch Beschluss entscheidet. Im [X.]echtsbeschwerdeverfahren gilt der Grundsatz des § 358 Abs. 2 [X.], der den Betroffenen vor einer Verschlechterung des [X.]echtsfolgenausspruchs, nicht aber des Schuldspruchs schützt (vgl. [X.], aaO, § 79 [X.]n. 37; [X.], [X.], 6. Aufl., § 358 [X.]n. 18). So kann das [X.]evisions- oder das [X.]echtsbeschwerdegericht auf der Grundlage der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen den Schuldspruch verbösern, ohne gegen das Verbot der reformatio in peius zu verstoßen.

Vor einer möglichen Verschlechterung des Schuldspruchs ist der Betroffene durch den Eintritt von [X.] nicht in jedem Fall geschützt. Bei Vorliegen besonderer Umstände kann es sich ergeben, dass zwischen den Erörterungen zur Schuld- und Straffrage eine so enge Verbindung besteht, dass eine getrennte Überprüfung des angefochtenen Teils nicht möglich ist, ohne dass der nicht angefochtene Teil mitberührt wird ([X.], Beschluss vom 21. Oktober 1980 – 1 [X.], [X.]St 29, 359, 364; Urteil vom 22. April 1993 – 4 [X.], [X.]St 39, 208, 209; [X.], aaO, § 318 [X.]n. 7a mwN). Eine Beschränkung des [X.]echtsmittels auf den Strafausspruch kann zudem dann unwirksam sein, wenn die Feststellungen zur Tat so mangelhaft sind, dass sie keine ausreichende Grundlage für die Entscheidung über die [X.]echtsfolge sein können ([X.], Urteil vom 5. November 1984 – [X.] ([X.]) 11/84, [X.]St 33, 59). Die [X.] des Schuldspruchs führt somit nicht in jedem Fall zu dessen Unabänderlichkeit. Der horizontalen [X.] kommt nicht die volle Wirkung der [X.]echtskraft zu (L[X.]-Gössel, [X.], 25. Aufl., § 318 [X.]n. 30, [X.]n. 126 [X.]. 377).

Dem teilrechtskräftigen Schuldspruch kommt im Bußgeldverfahren auch sonst keine unabänderliche Bestandsgarantie zu. So kann das Gericht in jeder Lage das Verfahren nach § 47 Abs. 2 OWiG einstellen und somit die [X.] durchbrechen.

Es werden nach alledem keine unabänderlichen Verfahrensgrundsätze durchbrochen, wenn bei verschuldetem Ausbleiben des Betroffenen in der Hauptverhandlung durch Einspruchsverwerfung ein teilrechtskräftiger, gegenüber dem Bußgeldbescheid günstigerer oder ungünstigerer Schuldspruch entfällt.

c) Der Senat entnimmt der vom Gesetzgeber geschaffenen [X.]egelung der ausnahmslosen Verwerfung des Einspruchs bei unentschuldigtem Nichterscheinen des nicht von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbundenen Betroffenen in der Hauptverhandlung, dass ihm dann auch die [X.]echtswohltat des Verschlechterungsverbots hinsichtlich des [X.]echtsfolgenausspruchs nicht zukommt. Das Verschlechterungsverbot ist kein übergeordneter allgemeiner Verfahrensgrundsatz, sondern gilt im [X.]echtsbeschwerdeverfahren aufgrund der gesetzlichen [X.]egelung in § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 358 Abs. 2 [X.]. Der Gesetzgeber konnte durch die Anordnung der Verwerfung des Einspruchs diese [X.]egelung konkludent auf die Fälle beschränken, in denen das Gericht nach einer [X.] durch das [X.]echtsbeschwerdegericht eine neue Sachentscheidung trifft.

Mutzbauer                                           [X.]oggenbuck                                            Schmitt

                              Bender                                                  Quentin

Meta

4 StR 603/11

18.07.2012

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend AG Hannover, 9. Dezember 2010, Az: 248 OWi 7081 Js 61241/10 (358/10)

§ 74 Abs 2 OWiG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 18.07.2012, Az. 4 StR 603/11 (REWIS RS 2012, 4551)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 4551

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