Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 10.09.2010, Az. 2 B 97/09

2. Senat | REWIS RS 2010, 3485

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Gegenstand

Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs; Abweichung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung; Hinweispflicht des Gerichts


Gründe

1

[X.]ie Beschwerde des Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass der Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO, § 69 [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den [X.]hof zurückzuverweisen ist. [X.]ie Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor, weil das Berufungsurteil auf der vom Beklagten geltend gemachten Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG beruht.

2

[X.]er Beklagte, ein [X.], wurde im Jahr 1999 wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr und im Jahr 2001 wegen Urkundenfälschung in Tateinheit mit versuchtem Betrug jeweils zu einer Geldstrafe verurteilt. [X.] wurde gegen den Beklagten wegen Urkundenfälschung in Tatmehrheit mit 13 sachlich zusammenhängenden Fällen des Missbrauchs von Scheck- und Kreditkarten eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verhängt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. [X.]ie jeweils sachgleichen [X.]isziplinarverfahren wurden eingestellt (§ 27 [X.] und § 32 Abs. 1 Nr. 3 [X.]). Im November 2006 wurde der Beklagte wegen versuchten Betrugs in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Urkundenfälschung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 11 Monaten verurteilt, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Auf die sachgleiche [X.]isziplinarklage erkannte das Verwaltungsgericht wegen eines außerdienstlichen [X.]ienstvergehens auf Entfernung aus dem Beamtenverhältnis. [X.]er [X.]hof hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.

3

1. Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern, und verpflichtet das Gericht, den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. [X.]abei kann es in besonderen Fällen auch geboten sein, die Verfahrensbeteiligten auf eine Rechtsauffassung hinzuweisen, die das Gericht der Entscheidung zugrunde legen will. Es kann im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags zur Rechtslage gleichkommen, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger [X.] selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte. Allerdings ist zu beachten, dass das Gericht grundsätzlich weder zu einem [X.] noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet ist. Auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, müssen daher die Verfahrensbeteiligten grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ihren Vortrag darauf einstellen (vgl. [X.], Beschluss vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - [X.]E 86, 133 <144 f.> und Urteil vom 14. Juli 1998 - 1 BvR 1640/97 - [X.]E 98, 218 <263> jeweils m.w.N.).

4

Nach diesen Grundsätzen war das Berufungsgericht verpflichtet, vor seiner Entscheidung über die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des [X.] diesen darauf hinzuweisen, dass es aufgrund der gegen den Beklagten ausgesprochenen Freiheitsstrafe von 11 Monaten bei einem außerdienstlichen [X.]ienstvergehen von der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis quasi als Regelmaßnahme ausgehen würde, von der nur bei Vorliegen besonderer, gewichtiger Milderungsgründe abgewichen werden kann. Wie die Ausführungen auf Seite 13 des Berufungsurteils belegen, ist der [X.]hof der Sache nach davon ausgegangen, dass die Verhängung einer Freiheitsstrafe im Strafverfahren, die nur wenig unterhalb der sich aus § 48 Satz 1 Nr. 1 [X.] a.F. (§ 41 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.]) ergebenden Grenze liegt, für das [X.]isziplinarverfahren ohne Weiteres die [X.]ienstentfernung nach sich zieht. [X.]iese Rechtsansicht widerspricht der Rechtsprechung des [X.]s des [X.] zur Bedeutung einer im Strafverfahren verhängten Freiheitsstrafe für die Bemessung der [X.]isziplinarmaßnahme im sachgleichen [X.]isziplinarverfahren. [X.]er [X.] hat in dem im Berufungsurteil genannten Urteil vom 8. März 2005 (BVerwG 1 [X.] 15.04 - [X.] 232 § 77 [X.] Nr. 24 S. 16) festgestellt, dass wegen der Eigenständigkeit des [X.]isziplinarrechts der strafrechtlichen Einstufung des Falles durch das Strafmaß im eigentlichen Sinne keine präjudizielle Bedeutung für die Bemessung der [X.]isziplinarmaßnahme zukommt. [X.]emnach ist es ausgeschlossen, vom Ausspruch einer Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr zwingend auf die [X.]ienstentfernung zu schließen, ohne weitere bemessungsrelevante Umstände i.S.d. § 13 Abs. 1 [X.] in den Blick zu nehmen. [X.]ies gilt zumal in Betrugsfällen, in denen stets eine Abwägung der fallbezogenen erschwerenden und entlastenden Umstände stattzufinden hat, wobei der Höhe des Schadens besondere Bedeutung zukommt (vgl. unten S. 5 f.).

5

Ein gewissenhafter und kundiger [X.] muss auch unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht damit rechnen, dass ein Gericht ohne Hinweis in einer für den Ausgang des Verfahrens entscheidenden Frage von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht. Ausweislich der dem [X.] vorliegenden Gerichtsakten bot der Ablauf des gerichtlichen Verfahrens aus Sicht des Beklagten bis zur Zustellung des Berufungsurteils auch keine Veranlassung, die Rechtsprechung des [X.] zur Bedeutung der im sachgleichen Strafverfahren verhängten Freiheitsstrafe für die Bemessung der [X.]isziplinarmaßnahme anzusprechen und vorsorglich einer Abweichung von diesen Grundsätzen entgegenzutreten. [X.]er Beklagte ist davon überrascht worden, dass das Berufungsgericht die [X.]ienstentfernung in Abweichung von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ausschließlich auf die verhängte Freiheitsstrafe gestützt hat.

6

[X.]as Berufungsurteil beruht auch auf dem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei Berücksichtigung des Vorbringens, das der Beklagte in der Beschwerdebegründung dargelegt hat, zu einer ihm günstigeren Entscheidung gelangt wäre (vgl. [X.], Beschluss vom 8. Februar 1994 - 1 BvR 765, 766/89 - [X.]E 89, 381 <392 f.>). Hätte das Berufungsgericht den Beklagten vor dem Urteil über seine Erwägungen zur Bedeutung einer Freiheitsstrafe für die Bemessung der [X.]isziplinarmaßnahme in Kenntnis gesetzt, so hätte der Beklagte seinerseits darauf verweisen können, dass diese mit den Grundsätzen des [X.] zum Verhältnis von Freiheitsstrafe und Bemessung einer [X.]isziplinarmaßnahme gerade nicht in Einklang stehen. [X.]ies hätte dazu führen können, dass das Berufungsgericht seinen Bemessungserwägungen eine mildere [X.]isziplinarmaßnahme als die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis zugrunde gelegt hätte.

7

2. Für das weitere Verfahren weist der [X.] auf Folgendes hin:

Nach der Grundsatzentscheidung des [X.]s vom 30. August 2000 - BVerwG 1 [X.] 37.99 (BVerwGE 112, 19), die das Leitbild des Beamten als Vorbild für den Rest der Bevölkerung in allen Lebenslagen verabschiedet hat, hat der [X.] im Urteil vom 25. März 2010 - BVerwG 2 C 83.08 (zur [X.] in BVerwGE bestimmt) zwar zur Auslegung gesetzlicher Begriffe wie "besondere Eignung zur Vertrauensbeeinträchtigung" auf das Strafrecht abgestellt. Er hat aber auch in dieser Entscheidung hervorgehoben, dass nur vorsätzlich begangene schwerwiegende Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe geahndet worden sind, auch ohne Bezug auf das konkrete Amt zu einer Ansehensschädigung führen. Wie schwerwiegend eine außerdienstliche Straftat ist, hängt unter anderen von den Umständen des konkreten Einzelfalles (hier versuchter Betrug) und vom Strafrahmen für die verwirklichten [X.]elikte (hier: 5 Jahre im Höchstmaß) ab. [X.]er [X.] hat deshalb lediglich für den Ausnahmefall des außerdienstlichen sexuellen Missbrauch eines Kindes gemäß § 176 Abs. 1 StGB (Rn. 18 und [X.], a.a.[X.]) entschieden, dass aufgrund der Schwere eines solchen [X.]ienstvergehens gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 [X.] als Richtschnur für die Maßnahmebemessung die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis bzw. die Aberkennung des Ruhegehalts zugrunde gelegt werden kann.

8

Bei einem außerdienstlich begangenen Betrug ist die Variationsbreite, in der gegen fremdes Vermögen gerichtete Verfehlungen denkbar sind, zu groß, als dass sie einheitlichen Regeln unterliegen und in ihren Auswirkungen auf Achtung und Vertrauen gleichermaßen eingestuft werden können. Stets sind die besonderen Umstände des Einzelfalls maßgebend. In Fällen des innerdienstlichen Betrugs zum Nachteil des [X.]ienstherrn ist der Beamte in der Regel aus dem [X.]ienst zu entfernen, wenn im Einzelfall Erschwerungsgründe vorliegen, denen keine Milderungsgründe von solchem Gewicht gegenüberstehen, dass eine Gesamtbetrachtung nicht den Schluss rechtfertigt, der Beamte habe das Vertrauen endgültig verloren. Je gravierender die Erschwerungsgründe in ihrer Gesamtheit zu Buche schlagen, desto gewichtiger müssen die Milderungsgründe sein, um davon ausgehen zu können, dass noch ein Rest an Vertrauen zum Beamten vorhanden ist. Erschwerungsgründe können sich z.B. aus Anzahl und Häufigkeit der Betrugshandlungen, der Höhe des Gesamtschadens, der missbräuchlichen Ausnutzung der dienstlichen Stellung oder dienstlich erworbener Kenntnisse sowie daraus ergeben, dass die Betrugshandlung im Zusammenhang mit weiteren Verfehlungen von erheblichem disziplinarischen Eigengewicht, z.B. mit Urkundenfälschungen stehen (Urteile vom 28. November 2000 - BVerwG 1 [X.] 56.99 - [X.] 232 § 54 Satz 2 [X.] Nr. 23; vom 26. September 2001 - BVerwG 1 [X.] 32.00 - [X.] 232 § 77 [X.] Nr. 18 und vom 22. Februar 2005 a.a.[X.]; Beschluss vom 14. Juni 2005 - BVerwG 2 B 108.04 - NVwZ 2005, 1199 <1200>). Aus der [X.]srechtsprechung lässt sich der Grundsatz ableiten, dass beim einem Gesamtschaden von über 5 000 € die Entfernung aus dem [X.]ienst ohne Hinzutreten weiterer Erschwerungsgründe gerechtfertigt sein kann (Beschluss vom 24. Februar 2005 - BVerwG 1 [X.] 1.05 - juris m.w.N.). [X.]erartige Bemessungsgrundsätze gelten auch für außerdienstliche Betrugsfälle und Veruntreuungen (Urteil vom 24. November 1998 - BVerwG 1 [X.] 36.97 - [X.] 232 § 54 Satz 3 [X.] Nr. 16; Beschluss vom 3. Juli 2007 - BVerwG 2 [X.] - [X.] 235.1 § 69 [X.] Nr. 1 Rn. 12).

9

Für die Zumessungsentscheidung müssen weiter die in § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 [X.] genannten Bemessungskriterien ermittelt und mit dem ihnen zukommenden Gewicht eingestellt werden. Insoweit kann von Bedeutung sein, dass der Beklagte nach den tatsächlichen Feststellungen im Berufungsurteil in dem relativ kurzen Zeitraum von der Erhebung der [X.]isziplinarklage vor dem Verwaltungsgericht (Ende Juli 2007) bis zum Berufungsurteil (27. Mai 2009) seinen Schuldenstand von 25 000 € immerhin um 10 000 € reduzieren konnte. Auch sind die Gründe einzubeziehen, die für die Einstellung der früheren [X.]isziplinarverfahren maßgebend waren.

Meta

2 B 97/09

10.09.2010

Bundesverwaltungsgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, 27. Mai 2009, Az: 16b D 08.139, Urteil

Art 103 Abs 1 GG, § 132 Abs 2 Nr 3 VwGO, § 69 BDG, § 13 Abs 1 BDG

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 10.09.2010, Az. 2 B 97/09 (REWIS RS 2010, 3485)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 3485

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